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01. März 2017

Ein unverzichtbares Paar

Die EU braucht Ausgewogenheit zwischen Frankreich und Deutschland

Das Verhältnis zwischen Frankreich und Deutschland basiert auf einem Geflecht eingespielter Abläufe und enger Kontakte. Doch auch das kann einen Stillstand im Herzen der EU nicht verhindern. Nach den Wahlen gilt es, die Gemeinsamkeiten mit dem Partner wieder zu entdecken.

Auch in diesem Jahr gehört ein Wahlkampfauftritt in Deutschland zum Pflichtprogramm der aussichtsreichsten französischen Präsidentschaftskandidaten. Der ehemalige sozialistische Wirtschaftsminister und Gründer der parteiübergreifenden Bewegung „En Marche“, Emmanuel Macron, skizzierte in einem Vortrag an der Humboldt-Universität in Berlin, wie er Frankreich wieder zum proaktiven Mitgestalter der Europäischen Union machen möchte. Der Konservative François Fillon demonstrierte mit seinem Treffen mit Bundeskanzlerin Angela Merkel seine Vernetzung im internationalen, christdemokratischen Milieu und forderte in einer Rede am 23. Januar in Berlin, Europa auf das „Wesentliche“ zu beschränken. Die Parteichefin des rechtspopulistischen Front National, die Frankreich aus der EU herauslösen möchte, suchte den Schulterschluss mit der Alternative für Deutschland: Beim Treffen der Nationalisten in Koblenz griff Marine Le Pen die Europapolitik der Bundesregierung scharf an.

Französische Politiker nutzen die Beziehung zum größeren Nachbarland und wichtigsten Partner in der EU als Referenzpunkt, um der heimischen und internationalen Öffentlichkeit bis ins Detail orchestrierte Botschaften über ihre Vision Frankreichs in Europa zu vermitteln. Die Auffassungen der Kandidaten unterscheiden sich dabei wesentlich. Die Frage, wer die Präsidentschaftswahl im Mai 2017 gewinnt, wird also entscheidend dafür sein, ob Frankreich und Deutschland wieder zu maßgeblichen Impulsgebern und Gestaltern in der EU werden.

Die beiden größten Mitgliedstaaten unterhalten das engste bilaterale Verhältnis innerhalb der Union. Das vielbeschworene „Tandem“ war allerdings in den vergangenen Jahren nur noch bedingt in der Lage, die Gemeinschaft voranzubringen. Dabei ist nach wie vor richtig, dass europäische Lösungen nur dann gefunden werden, wenn Berlin und Paris an einem Strang ziehen. So gehen etwa die wichtigsten Entscheidungen beim Umgang mit der Euro­zonen-Krise auf deutsch-französische Kompromisse zurück.

Schwindende Mobilisierungskraft

Die Bilanz der vergangenen Jahre zeigt allerdings auch: Berlin und Paris fällt es schwerer, Kompromisse zu erzielen, auch schwindet ihre Kraft, Partner zu mobilisieren. Trotz des immens gewachsenen Drucks im Inneren und Äußeren der EU blieben viele dringende Probleme unbearbeitet, so die Frage der Konvergenz und Krisenresistenz der Euro-Zone oder über Jahre die Stärkung der europäischen Verteidigung.

Ein anderes Beispiel für wenig produktive deutsch-französische Zusammenarbeit – trotz guten Willens auf beiden Seiten – ist der bilaterale Umgang mit der Flüchtlingskrise im Jahr 2016. Über Monate hinweg haben sich Angela Merkel und François Hollande in regelmäßigen Abständen getroffen und nach gemeinsamen Lösungen gesucht. Stark divergierende Ansichten etwa über nationale Obergrenzen und europäische Verteilungsmechanismen haben sich zwar nicht in gegenseitigen Vorwürfen in der Öffentlichkeit niedergeschlagen. Doch die deutsch-französischen Vorschläge zum Schutz der EU-Außengrenzen und zur Reform des Dublin-Verfahrens sind keine ambitionierte Antwort auf die zentrale und andauernde Herausforderung, mit einem weiter wachsenden Migrationsdruck Richtung Europa umzugehen. Zudem gelang es Berlin und Paris nicht, ihre europäischen Partner von ihren Vorschlägen zu überzeugen.

Anders als in vergangenen Jahrzehnten garantierte auch ein hart errungener deutsch-französischer Kompromiss nicht mehr, dass sich andere EU-Staaten dem Vorschlag hätten anschließen können. Zu unterschiedlich sind oftmals die Interessen, zu kontrovers die europapolitischen Debatten im Inneren einer Vielzahl von Mitgliedstaaten, wo vor allem Rechtspopulisten den bisherigen Kurs in Richtung einer tieferen EU bremsen. Zudem ist in vielen Politikfeldern die Integration bereits so weit fortgeschritten, dass jeder nächste Schritt in sensible Bereiche nationaler Souveränität vordringt. Eine Einigung wird somit politisch und zuweilen auch verfassungsrechtlich schwierig.

Dennoch gilt: Berlin und Paris sind in den vergangenen Jahren hinter den Erwartungen und zum Teil auch hinter ihren eigenen Ankündigungen zurückgeblieben. Auch die Tatsache, dass das Verhältnis beider Staaten von einem überaus engen Geflecht von bilateralen Routinen und Alltagskontakten zwischen den beiden Regierungsapparaten und Parlamenten getragen ist, konnte nicht verhindern, dass Deutschland und Frankreich in Kernbereichen europäischer Integration auf der Stelle traten. Die engen operativen Beziehungen können in Krisenzeiten stützen und den bilateralen Austausch in möglichst direkter Form aufrechterhalten. Dennoch sind sie kein Ersatz für eine wesentliche Aufgabe, derer sich die beiden Chefs annehmen müssen: mit einer klaren Vision für Europa die eigene Führungsverantwortung in einer fragil gewordenen Gemeinschaft wahrzunehmen. Im Gegenteil: Werden für die deutsch-französische und die gemeinsame europapolitische Agenda keine Ziele und Kompromiss­linien auf höchster Ebene abgesteckt, läuft die Alltags­mechanik der deutsch-­französischen Maschinerie irgendwann leer. So haben in den vergangenen Jahren einige der Mechanismen für Regierungs- und Parlamentskonsultationen an Bedeutung verloren, die zum 40-jährigen Jubiläum des Élysée-Vertrags 2003 mit viel Engagement auf den Weg gebracht wurden.

Im Laufe dieses Jahres fällt für die politische Führung in Paris und Berlin die wichtigste Entschuldigung weg, mit der man mangelnden Willen zum Zupacken in EU-Fragen erklärte: die Wahlen, die beiden Ländern bevorstehen. Im Herbst werden in beiden Hauptstädten neue Verantwortliche die Aufgabe übernehmen, die bilateralen Beziehungen mit neuem Elan und neuen Inhalten zu füllen. Dazu gehört zunächst eine Klärung des eigenen Verhältnisses zum Nachbarn und wichtigsten Partner.

Aus dem deutsch-französischen Gleichgewicht

Ein gewisses, wenn auch schwankendes Gleichgewicht zwischen Deutschland und Frankreich war lange Grundvoraussetzung für eine gute Zusammenarbeit. Deutschland war traditionell der wirtschaftlich stärkere Partner, Frankreich zog seinen Einfluss aus seiner außenpolitischen und militärischen Stärke. Doch dies hat sich verändert. Mit dem Ende des Kalten Krieges haben die französischen Machtsymbole – etwa der Besitz der Nuklearwaffe, der ständige Sitz im UN-Sicherheitsrat und eine gewisse Selbstständigkeit auf der internationalen Bühne, insbesondere vis-à-vis den USA – an Bedeutung verloren. Gleichzeitig ist Deutschland in der Weltpolitik selbstbewusster geworden, hat eine unbestreitbare Führungsrolle in der EU eingenommen und seine exportorientierte Wirtschaft konnte von der weltweiten Öffnung der Märkte profitieren.

Diese wachsende Asymmetrie ist ein Problem, da sie zu Spannungen und immer wieder zu Blockaden führt. In Frankreich herrscht das Gefühl, dem Nachbarn unterlegen zu sein und die Zukunft nicht mehr in den eigenen Händen zu halten – was für Frustration sorgt. In Deutschland wird das Gefühl Frankreichs und anderer europäischer Staaten, von Deutschland dominiert zu werden, dagegen kaum wahrgenommen. Hier herrscht die Sichtweise, von Frankreich abhängig und damit dessen Fehlern und Schwächen ausgesetzt zu sein. Die gegenseitige Wahrnehmung ist heute von Missverständnissen und Widersprüchen hinsichtlich der eigenen Rolle und Bedeutung und der des Partners geprägt.

Eine gute Voraussetzung für eine Verbesserung der Beziehung ist allerdings, dass in der französischen Öffentlichkeit die Zeiten der „Deutschland-Besessenheit“ derzeit vorbei sind. Im Gegensatz zum Wahlkampf 2012 gibt es jetzt keine hitzige Kontroverse über das deutsche Modell, und Vergleiche mit dem Nachbarn werden viel seltener angestrengt. Doch selbst wenn die Kandidaten Deutschland im Präsidentschaftswahlkampf selten explizit erwähnen, schwebt sein Schatten über vielen Diskussionen, zum Beispiel wenn es um Wettbewerbsfähigkeit, Wachstum und Reformen geht – und natürlich um Europa. Dass Deutschland eine herausgehobene Führungsrolle spielt und den Schlüssel für einen Kurswechsel in der EU in der Hand hält, wird in Frankreich als gegeben angesehen.

Für ein Land mit ausgeprägtem Nationalstolz, einer traditionell starken internationalen Rolle und – trotz tiefer Verflechtung innerhalb der EU – einem noch immer starken Souveränitätsimpuls, ist nicht verwunderlich, dass diese Situation bei vielen Politikern und Bürgern zu Irritationen führt. Insbesondere an beiden Enden des politischen Spektrums werden harsche Töne angeschlagen: Marine Le Pen spricht von der „Versklavung“ der europäischen Völker durch Deutschland, der linksradikale Jean-Luc Mélenchon will eine „Kraftprobe“ mit der Bundesregierung. Aber auch in den etablierten Parteien ist viel Unzufriedenheit mit dem deutsch-französischen Verhältnis zu hören. Der sozialistische Präsidentschaftskandidat Benoît Hamon plädiert für ein „Bündnis der europäischen Linken“, um sich der Politik der Bundesregierung zu widersetzen; Fillon will Frankreich zum „soliden Gegengewicht“ zu Deutschland aufbauen. Allein Macron scheint die deutsch-französische Beziehung nicht durch die Perspektive eines Machtverhältnisses zu betrachten.

Die Spannungen zwischen beiden Ländern sind nicht neu, ebenso wenig das daraus in Frankreich entstehende Misstrauen gegenüber dem deutschen Nachbarn. Die Kritik an einem „hegemonialen Deutschland“ mündet gerade in Umbruchsituationen, in Reaktion auf Verschiebungen im Kräfteverhältnis zwischen beiden Ländern, in alte Stereotype. Dies war in den siebziger Jahren nach der Ölkrise, während der darauffolgenden Wirtschaftskrise oder auch Anfang der neunziger Jahre ähnlich, als der Kalte Krieg zu Ende ging und mit der deutschen Wiedervereinigung die Europakarte neu definiert wurde. Damals entflammte in der französischen Presse eine Diskussion über einen deutschen Hegemon, der Frankreich potenziell bedrohte – sei es, weil er wirtschaftlich besser dastand oder im neuen Europa mehr Einfluss hatte bzw. haben könnte. Dieses Gespenst der „Germanophobie“ ist seit einigen Jahren zurück. Oft verbindet sich die Kritik mit der Angst vor einem „deutschen Europa“, was dazu führt, dass deutsch-französische Kompromisse nicht unbedingt als solche verstanden werden.

In Frankreich wird dabei unterschätzt, wie sehr Deutschland ein wirtschaftlich wie politisch starkes Frankreich fehlt. Deutschland hadert in vielerlei Hinsicht mit seiner Stärke und Führungsrolle. Immer wieder gab es in den vergangenen Jahren Situationen, in denen Berlin sich nach einem Paris gesehnt hat, das willens und in der Lage wäre, zusammen mit Deutschland die Last der Verantwortung zu tragen. Mehr noch: Die Schwäche Frankreichs wird mittlerweile als Risiko für Deutschland betrachtet, in politischer, aber vor allem auch in wirtschafts- und finanzpolitischer Hinsicht. Hinzu kommt die Sorge, von Paris in Eurozonen-Belangen über den Tisch gezogen zu werden. Das Misstrauen, dass Paris die für die Euro-Zone vereinbarten Regeln untergräbt, ist insbesondere in den Krisenjahren deutlich gewachsen. Nicht zuletzt: Die Sorge vor einer Allianz der Euro-Südländer gegenüber Deutschland und den stabilitätsorientierten nördlichen Mitgliedstaaten der Währungsunion ist größer geworden.

Auch in Berlin besteht also Verunsicherung, was Frankreichs Interessen und Absichten in der EU angeht. Und ebenso wie in Paris die Meinung vorherrscht, dass etwa die Probleme in der Euro-Zone nur dann gelöst werden können, wenn Deutschland seine nationale Wirtschaftspolitik maßgeblich anpasst, besteht die gleiche Erwartung auf der anderen Seite: Frankreich müsse erst „seine Hausaufgaben“ machen, bevor weitere gemeinsame Schritte unternommen werden können. So richtig dies in der Sache für beide Seiten sein mag, die gegenseitigen Wahrnehmungsmuster verstellen auch den Blick für tatsächliche Fortschritte und Annäherungen auf beiden Seiten.

Drei neue Rahmenbedingungen

Die Geschichte der deutsch-französischen Beziehung ist eine Geschichte von Zusammenarbeit und Annäherung, dabei aber auch immer eine vom Umgang mit gegenseitigem Misstrauen. Allerdings haben sich in den vergangenen Jahren die Rahmenbedingungen für die deutsch-französische Zusammenarbeit so verändert, dass alte Rezepte zur Wiederbelebung der Beziehung – etwa durch einen bedeutungsschwer inszenierten Gipfel oder eine bilaterale Initiative – nicht mehr so einfach wirken.

Erstens hat die Asymmetrie zwischen beiden Ländern eine neue Qualität erreicht. Beschleunigt durch die Auswirkungen der Krisen im Euro-Raum, von denen sich Deutschland sehr viel schneller erholte, hat sich die wirtschaftliche Divergenz vertieft. Frankreich kämpft mit einer Arbeitslosenquote von über 10 Prozent, einem nur langsam aufholenden Wachstum und einer nach wie vor hohen öffentlichen Schuldenlast. Deutschland verzeichnet Vollbeschäftigung, Rekordüberschüsse und schreibt seit mehreren Jahren mit seinem Staatshaushalt schwarze Zahlen. Frankreich ist heute nicht mehr der wichtigste Handelspartner Deutschlands und wurde auf diesem Platz von den USA abgelöst.

Aber nicht nur wirtschaftlich, sondern auch politisch ist die deutsch-französische Kluft in den vergangenen Jahren größer geworden. Während in Deutschland bislang relativ stabile politische Verhältnisse herrschen, ist die Autorität des amtierenden französischen Präsidenten seit Jahren angekratzt – was vor allem an der Spaltung der regierenden Parti Socialiste in den Bereichen Wirtschafts- und Europapolitik liegt. Dazu kommt die Stärke des rechtspopulistischen Front National, der seit Jahren den politischen Diskurs prägt und eine ohnehin zersplitterte Parteienlandschaft immer weiter destabilisiert. Infolge dieser Entwicklungen ist Frankreichs Einfluss innerhalb Europas schwächer geworden: Dass die europäischen Partner seit einiger Zeit den Weg nach Berlin suchen und viel weniger den nach Paris (oder Brüssel), bleibt in Frankreich nicht unbemerkt. Mit dem Aufkommen der rechtspopulistischen AfD, die bereits in mehr als der Hälfte aller Landtage sitzt, verschärften sich allerdings auch in Deutschland politische Polarisierung, Parteiensplitterung und europapolitische Kontroversen. Der wahrscheinliche Einzug der AfD in den Bundestag im September 2017 würde nicht nur die Bildung von stabilen Koalitionen erschweren, sondern könnte auch etablierte Parteien davon abhalten, eine engagierte Europapolitik zu betreiben bzw. zu unterstützen.

Eine zweite veränderte Rahmenbedingung ist die neue Machtverteilung in der EU. Brüssel und die EU-Institutionen haben nach Jahren der Krise an Renommee und Einfluss eingebüßt. Je größer der Machtzuwachs, den die EU-Staaten erleben, desto stärker fällt Deutschlands Gewicht auf. Neben den Krisen, die Europa seit Jahren in Atem halten und die nationale Regierungen dazu zwingen, sich eng abzustimmen und schnell zu reagieren, gab es relevante Entwicklungen in der institutionellen Architektur der Union. Mit dem Vertrag von Lissabon verstärkte sich 2007 die Rolle des Europäischen Rates – und mithin auch die der Mitgliedstaaten – zu Lasten der EU-Kommission. Dadurch erhöhte sich der Einfluss großer Länder, die in der Lage sind, Partner zu finden und Koalitionen zu bilden. In diesem Kontext konnte Deutschland seinen Einfluss festigen und vervielfachen; Frankreich wurde durch seine internen Schwierigkeiten und mangelnde Glaubwürdigkeit geschwächt.

Drittens ist die Europaskepsis in Frankreich während des vergangenen Jahrzehnts deutlich gewachsen. Heute äußern sich nur noch 31 Prozent der vom Pew Research Center im Juni 2016 befragten Französinnen und Franzosen positiv zur EU (gegenüber 50 Prozent in Deutschland). Im Jahr 2004 waren es 69 Prozent, mehr als doppelt so viel. Diese Einstellung schlägt sich im politischen Diskurs nieder – und verstärkt damit wiederum die kritische öffentliche Meinung. Dass die meisten Kandidaten im Präsidentschaftswahlkampf von der EU als Problem und weniger als Lösung sprechen, zeigt, wie weit diese Skepsis und die Rückbesinnung auf das Nationale inzwischen gehen.

Über Jahrzehnte zog die europäische Integration in Frankreich ihre Legitimität aus dem Versprechen, sie würde die Bürgerinnen und Bürger schützen – insbesondere vor den Gefahren der Globalisierung, die stärker als in Deutschland als Bedrohung gesehen wird. Der Anstieg der Arbeitslosigkeit und ein Anwachsen der Anzahl von Menschen, die in prekären Lebensverhältnissen leben, haben den Glauben an diese Schutzfunktion der EU kontinuierlich schwinden lassen. Das europäische Regelwerk zur Haushaltsdisziplin und Wirtschaftspolitik wird von vielen als von Deutschland verordnetes Korsett angesehen. Auf diese Weise werde Frankreich eine Politik aufgedrängt, die viele für mitschuldig an der wirtschaftlichen und sozialen Situation halten.

Auch die EU-Osterweiterung im Jahr 2004 und das Anwachsen der EU auf damals 25 Mitglieder wurde von Anfang an mit Skepsis betrachtet und sorgte für ein Gefühl des Kontrollverlusts und der Entfremdung. Spätestens als im Mai 2005 eine Mehrheit der französischen Wähler den EU-Verfassungsvertrag ablehnte, wurde klar, dass ein Stimmungswandel stattgefunden und die politische Elite die Meinungsführerschaft über das Europathema in Frankreich verloren hatte. Zuletzt trug die Verpflichtung zur Haushaltsdisziplin zur Abkehr vom europäischen Projekt bei.

An diesen Beispielen zeigt sich, wie stark deutsche und französische Präferenzen und Wahrnehmung in Kernfragen auseinanderliegen und dass es über die vergangenen Jahre nicht gelang, bei diesen Themen einen breiten, auch von den Gesellschaften getragenen Konsens zu entwickeln. Für Deutschland war etwa die EU-Osterweiterung eine historische Notwendigkeit und strategische Priorität; die Chancen, die sich daraus im wirtschaftlichen Bereich ergaben, wurden ergriffen. Der Anpassungsdruck, der von europäischen Regeln auf nationale Volkswirtschaften in der Euro-Zone ausgeht, ist gewollt und wird nicht als Gefährdung, sondern als Voraussetzung gesehen, um langfristig nachhaltig wirtschaften zu können. Finanzielle Solidarität über den bestehenden EU-Budgetrahmen hinaus erachtet man in Deutschland tendenziell nicht als notwendig. Die in Frankreich verbreitete Ansicht, dass zu einer gemeinsamen Währung auch mehr Risikoteilung etwa im Bereich der Staatsfinanzen und des Bankensektors gehört, wird in Deutschland abgelehnt.

Begrenzt wirksam: alte Reflexe

Angst und Misstrauen gegenüber Deutschland erwiderte die Politik in der Vergangenheit mit neuen Initiativen für die europäische Integration. In den siebziger Jahren brachten Helmut Schmidt und Valéry Giscard d’Estaing das Europäische Währungssystem auf den Weg. 20 Jahre später reagierten Helmut Kohl und François Mitterrand auf französische Verunsicherungen mit der Einberufung einer Regierungskonferenz, die 1992 im Vertrag von Maastricht mündete. Angesichts der Entfremdung vom EU-Projekt, die in Frankreich eingesetzt hat, ist ein solcher Reflex keine Selbstverständlichkeit mehr.

Auch in Deutschland ist angesichts der neuen parteipolitischen Konstellationen – und der bereits bestehenden Integrationstiefe in der EU – kein breites Angebot an Vorschlägen für große integrationspolitische Sprünge vorhanden. Wohl gehört es zum obersten Ziel der derzeitigen Europapolitik, die EU und den Binnenmarkt gerade angesichts der Herausforderungen des Brexit zusammenzuhalten und etwa gegenüber den USA zu stärken. Aber es herrscht auch großer Realismus, was die Möglichkeiten von Vertragsreformen angeht.

Dagegen muss nach den Wahlen in Deutschland und Frankreich ein altes Ziel zur neuen Priorität werden: den Nachbarn wieder besser verstehen lernen. Neue deutsch-französische Initiativen können nur dann erfolgreich sein, wenn sie auf einem tiefen gegenseitigen Verständnis der wirtschaftlichen, ­sozialen und gesellschaftlichen Situationen beider Länder basieren. Die Lage auf dem Arbeitsmarkt ist ein Beispiel dafür. Während deutsche Unternehmen einen Fachkräftemangel beklagen, ist die Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit Frankreichs oberste Priorität. Die Perspektivlosigkeit eines beachtlichen Teiles der Jugend ist nicht nur ein soziales Problem, sondern gefährdet auch den gesellschaftlichen Zusammenhalt und hat in der Politik gravierende Konsequenzen. Davon zeugt der Aufstieg des Front National, der sich als Sprecher der „kleinen Leute“ darstellt und insbesondere bei Jungwählern erfolgreich ist. Deshalb hält die französische Regierung einen drastischen Sparkurs für gefährlich.

Auch in der Flüchtlingsfrage haben unterschiedliche Erfahrungen und Prioritäten die Zusammenarbeit zwischen beiden Ländern belastet. Deutschland war von der Krise direkt betroffen und betrachtete sie unter humanitären Aspekten. Frankreich hingegen stand noch unter dem Schock der islamistischen Terroranschläge. In der Innen- wie auch in der Außenpolitik ist die Bekämpfung des Terrorismus vorrangig – und führte unter anderem zur Verstärkung französischer Auslandseinsätze. Gerade in solch angespannten Situationen bezweifelt man in Berlin beziehungsweise Paris, dass der Partner die Probleme richtig einschätzt und adäquate Lösungen anstrebt. Nicht selten ist der Vorwurf zu hören, die Deutschen seien naiv und die Franzosen unverantwortlich.

Für die EU könnte 2017 ein Schicksalsjahr sein. Es ist unbestritten, dass Frankreich und Deutschland nur gemeinsam, in enger Abstimmung mit den EU-Partnern, entscheidende Integrations- und Reformschritte angehen können. Ebenso klar ist allerdings auch, dass es aufgrund wachsender Interessendivergenzen und einer stärkeren politischen Polarisierung schwieriger denn je ist, die EU handlungs- und überzeugungsfähiger zu machen. Es ist möglich, dass ein deutsch-französischer Vorstoß an der EU scheitert. Wahrscheinlicher ist indes, dass die EU ohne den dringend notwendigen deutsch-französischen Vorstoß scheitern würde.

Dr. Claire Demesmay leitet das Frankreich-Programm im Forschungsinstitut der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP).

Dr. Daniela Schwarzer leitet das Forschungsinstitut der DGAP.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 2, März/April 2017, S. 33-41

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