Ein Königreich vor schweren Jahren
Mit dem Tod von Königin Elisabeth II. endet eine Ära. Für die Zeit danach muss das Land neue Antworten finden.
Sie war die am längsten „regierende“ Monarchin der Welt – mit 70 Jahren und 214 Tagen auf dem Thron nur übertroffen von Ludwig XIV. (1643–1715) in Frankreich –, ihr Ableben lange erwartet und dessen Umstände samt Fernsehsondersendungen und Extraausgaben der Zeitungen minutiös geplant (von der Times heißt es, sie habe die Berichterstattung für die kommenden zehn Tage bereits fertig im Stehsatz): Der Tod von Elisabeth II., Königin des Vereinigten Königreichs von Großbritannien und Nordirland und Oberhaupt des Commonwealth war ein lange antizipiertes Weltereignis. Und doch trifft er das Land und die Welt auf schwer berechenbare Weise.
Mit ihr endete am 8. September das „zweite elisabethanische Zeitalter“. Das erste im 16. Jahrhundert unter ihrer Namensvetterin Elisabeth I. (1533–1603) sah Englands Aufstieg zur See- und damit langfristig zur Weltmacht. Unter der zweiten Elisabeth verlor Großbritannien Stück für Stück seinen Weltmachtstatus, und niemand verkörperte diesen „managed decline“ mit mehr Würde als Elisabeth II. Sie verkörperte das Idealbild der „dienenden Monarchin“, hielt als Staatsoberhaupt das multiethnisch gewordene Vier-Nationen-Königreich (England, Schottland, Wales, Nordirland) zusammen, pflegte die Freundschaft der Britinnen und Briten zu anderen Nationen (die Beziehungen zu Frankreich lagen ihr stets am Herzen, die transatlantischen Beziehungen ebenso, und ihre Gesten der Versöhnung gegenüber Nachkriegsdeutschland waren von überragender Bedeutung für die Rückkehr Deutschlands in den Kreis zivilisierter Nationen) und setzte sich für die Völkerverständigung ein – Haltungen, die man von den britischen Regierungen der jüngsten Zeit nicht mehr uneingeschränkt voraussetzen konnte.
Die Queen erkannte auch früher als viele andere die Wirkungsmacht britischer Soft Power, die das Land bis heute „in einer höheren Gewichtsklasse boxen“ lässt, als es die schwindende Hard Power eigentlich erlauben würde. Bei ihrer Krönung 1953 setzte sie sich gegen den Willen des alternden Premierministers Winston Churchill durch und sorgte dafür, dass die Zeremonie live im Fernsehen übertragen wurde – auch dies ein Weltereignis im beginnenden audiovisuellen Zeitalter. Es ist kein Zufall, dass die Kommunikationsstrategen in Buckingham Palace und Downing Street die Queen bei den Olympischen Spielen 2012 in London in einem Fernsehclip von dem von Daniel Craig verkörperten James Bond im Hubschrauber zum Stadion bringen und per Fallschirm abspringen ließen und später, zum 70. Thronjubiläum, zum Tee mit Paddington baten: Elisabeth II. gehörte zu den Kulturgütern Großbritanniens mit weltweiter Anziehungskraft und überstrahlte den Geheimagenten „mit der Lizenz zum Töten“ und den sprechenden, tollpatschigen Bären mühelos.
Die Tage bis zum Staatsbegräbnis, bei dem London noch einmal zur Bühne für die meisten maßgeblichen Staats- und Regierungschefs der Welt werden wird, sollten Anlass geben, erneut über die Zukunft des Vereinigten Königreichs und seinen Platz in der Welt nachzudenken. Wie Sam Knight, der London-Korrespondent des New Yorker, schon vor ein paar Jahren schrieb: „Die Queen ist Britanniens letzte lebende Verbindung zu unserer früheren Größe – das „Es“ der Nation, die problematische Selbstsicht –, die weiterhin von unserem Sieg im Zweiten Weltkrieg definiert wird.“
Der neue Monarch, König Charles III., besteigt den Thron als Großvater und hat als Dauergegenstand der Berichterstattung der Boulevardmedien seit den Zeiten seiner unglücklichen Ehe mit Prinzessin Diana nicht die Aura majestätischer Unantastbarkeit. Auf seinen Sohn William, nun der nächste Prince of Wales, wird sich die Frage konzentrieren, ob die britische Monarchie überhaupt eine Zukunft hat.
Zeit ihres Lebens war Elisabeth II. ein wichtiges Gegengewicht für die Unabhängigkeitsbestrebungen der Schottinnen und Schotten, die sich von „Westminster“ gegängelt und zum Austritt aus der EU gezwungen fühlen. In einem durch den Brexit weiterhin tief gespaltenen Land ist eine der wichtigsten Institutionen, die für den emotionalen Zusammenhalt sorgen, fürs Erste unterbesetzt. Die neue Regierung von Premierministerin Liz Truss, die die Queen nur zwei Tage vor ihrem Tod mit der Regierungsbildung beauftragte, ist kaum im Amt und mit einer der schwersten wirtschaftlichen Krisen konfrontiert, die das Land seit dem Zweiten Weltkrieg meistern muss. Ihr populistischer Vorgänger Boris Johnson, zurück auf den Hinterbänken des Parlaments, schmiedet bereits Pläne für das eigene Comeback.
Das sind keine guten Voraussetzungen, um Großbritanniens zukünftigen Platz in der Welt neu zu durchdenken. Doch der Tod der Queen wird diese Frage unweigerlich stellen. Zwar existiert das Commonwealth als loser Bund einer multiethnischen und -kulturellen „Anglosphere“, doch immer weniger Staaten wollen den britischen Monarchen noch als Staatsoberhaupt. Die Brexit-Befürworter, die schillernde Figur Johnson voran, setzen weiter auf einen nostalgischen Nationalismus. Ein von der EU losgelöstes „Global Britain“ ist jedoch bislang eine Schimäre geblieben; dahinter steht letztlich nicht viel mehr als die Selbstbeschwörung britischer Größe und die Autosuggestion eines nie endenden elisabethanischen Zeitalters der Weltgeltung.
Sechs Jahre nach der folgenschweren Volksabstimmung und zwei nach dem tatsächlichen EU-Austritt ist klar, dass ein immer radikalerer Brexit, wie ihn Johnson und wohl auch Truss anstreben, die falsche Antwort ist. Ob Elisabeth II. für (wie das Boulevardblatt The Sun behauptete) oder gegen den Brexit war (ihr blaues Kostüm samt Hut mit goldenen Knöpfen, der an die EU-Fahne erinnerte, gab dieser Annahme 2017 Nahrung), ist nicht bekannt. Wohl aber, dass sie bei ihrem Besuch bei der EU-Kommission in Brüssel 1980 sagte: „Es wäre schwer, die Bedeutung der Aufgabe der Europäischen Gemeinschaften zu übertreiben, die Völker (damals noch: West-)Europas zusammenzubringen.“ Es wäre äußerst begrüßenswert, wenn ein nun postelisabethanisches Großbritannien dies auch wieder als eigene Aufgabe erkennen würde.
Internationale Politik, online exclusive, 09.09.2022