Brief aus...

20. Okt. 2022

Ein Königreich sucht Halt und greift ins Leere 

Die wirtschaftliche und politische Krise in Großbritannien erinnert an den Niedergang in den 1990er Jahren. 

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Bild: Zeichnung von London
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Geschichte wiederholt sich doch. Manchmal jedenfalls. Als der damalige britische Premierminister John Major seinen Schatzkanzler Norman Lamont 1993 nach dem demütigenden Ausscheiden seines Landes aus dem Europäischen Wechselkursmechanismus feuerte, hinterließ der Geschasste ein Bonmot, das nicht nur die damalige, sondern auch die desolate Lage der heutigen Regierung in London ganz gut beschreibt: „Wir erwecken den Eindruck, im Amt zu sein, aber nicht an der Macht.“

Liz Truss war gerade einmal einen Monat in Nummer 10 Downing Street, da wurde auf dem Parteitag der Tories in Birmingham bereits offen über ihren Sturz spekuliert. Parteiveteranen verbreiteten eine Titanic-hafte Untergangsstimmung wie in den letzten Tagen der Major-Regierung. Nun ist sie nach nur 45 Tagen zurückgetreten. Sie ist die vierte an der Spitze, die die Konservativen innerhalb von sechs Jahren verbraucht haben. 

Nach ihrer demütigenden Wende in der Steuerpolitik – die Premierministerin musste die geplante Senkung des Spitzensteuersatzes von 45 auf 40 Prozent zurücknehmen – war ihre Autorität innerhalb der rebellierenden Parlamentsfraktion bald so schwer angeschlagen, dass ihr wirtschaftlicher Aufbruch bereits im Morast konservativer Grabenkämpfe steckengeblieben ist. Und die nächste Kehrtwende hatte sich bereits abgezeichnet: Soll der Wachstumsplan auf Pump wieder auf finanziell solide Füße stellen will, wird die Regierung bei den Staatsausgaben sparen müssen. In Großbritannien hat jedoch niemand die bitteren Jahre der „Austerity“ nach der Finanzkrise vergessen, die der konservative Premierminister David Cameron nach dem Machtwechsel 2010 verfolgte. Der Widerstand gegen Sozialkürzungen reicht bis ins Kabinett. Und anders als ihr politisches Vorbild, die „Eiserne Lady“ Margaret Thatcher, hat Truss ihren rebellierenden Kritikern schon vor dem Rücktritt gezeigt: „This lady is for turning.“ 

Für jemanden, der gerade nach mehr als 25 Jahren als Berichterstatter nach London zurückgekehrt ist, sind die historischen Parallelen des Machtverfalls von John Major und Liz Truss atemberaubend. Wieder sind es das schwache Pfund und die misstrauischen Finanzmärkte, die die Regierung in die Knie zwingen. Wieder muss die Bank of England eingreifen, um einen Crash zu verhindern. Der Internationale Währungsfonds, der Mitte der 1970er Jahre Großbritannien vor einer Zahlungsbilanzkrise bewahrt hatte, schickte diesmal vorsorglich eine Rüge nach London. 

Als Major im Mai 1997 von Tony Blair und New Labour abgelöst wurde, waren die Tories 18 Jahre an der Regierung. Truss und ihre konservativen Vorgänger bringen es bislang auf zwölf Jahre. Damals wie heute wirkt die Konservative Partei zerstritten, verbraucht und suizidgefährdet. 

Vor der „Blair Revolution“ führte die Labour-Partei mit über 20 Prozentpunkten in den Umfragen. Heute sind es bis zu 30 Prozent. Der Grund ist nicht nur die Selbstzerfleischung der Tories. Oppositionsführer Keir Starmer hat sich das Image eines „Blair 2.0“ verpasst und den Briten damit nach den Worten von Peter Mandelson das Gefühl gegeben, dass „man sich wieder trauen“ könne, Labour zu wählen. Mandelson war der Architekt von „New Labour“. 

Das Inselreich selbst befindet sich seit dem Brexit-Referendum 2016 in einer surrealen politischen Hypnose, aus der es langsam erwacht. Noch immer verfangen in einer melancholischen Nostalgie imperialer Größe, sucht London seinen neuen Platz in der Welt. Der Schlachtruf der Brexit-Befürworter „Take back control“ hat sich jedoch in sein Gegenteil verkehrt: Seit Jahren verliert die Atommacht Großbritannien politisch und wirtschaftlich an Einfluss in der Welt. 

London hat mit Moskau (völlig zu Recht) gebrochen, geht zu Peking auf Distanz, will mit der EU in Brüssel möglichst wenig gemein haben und bekommt von Washington die kalte Schulter gezeigt. Wie nebenbei hatte Präsident Joe Biden Truss per Twitter wissen, was er von ihrem wirtschaftspolitischen Programm hält: „Ich habe die Nase voll von der Trickle-down-Wirtschaftspolitik. Sie hat noch nie funktioniert.“ Im Außenhandel hat Großbritannien nach dem Austritt aus der EU den Anschluss an die großen Handelsnationen verloren. „Global Britain“ entpuppt sich als Fata Morgana, je näher man hinschaut. Dass Liz Truss bei Emmanuel Macrons Kopfgeburt einer neuen Europäischen Politischen Gemeinschaft mitgemacht hat, zeigt, wie einsam es um London herum geworden ist. 

Im Inneren sieht es nicht viel besser aus: Die schottischen Nationalisten wollen mit einem neuen Referendum ihre Unabhängigkeit ertrotzen, in Nordirland ist erstmal die katholisch-nationalistische Sinn Fein die stärkste Partei, was bei den London-treuen protestantischen Unionisten Ängste vor einer irischen Wiedervereinigung schürt. Der Tod der allseits verehrten Königin Elisabeth II. hat den Zusammenhalt des Vereinigten Königreichs nicht unbedingt gestärkt. 

Ist die Insel erneut reif für einen Machtwechsel? So weit sind wir noch nicht. Die nächsten Parlamentswahlen könnten auch erst in zwei Jahren stattfinden. Die Stimmung im Land ist angesichts steigender Lebenshaltungskosten, zahlreicher Streiks und des politischen Chaos in Westminster allerdings so schlecht, dass selbst der britische (Galgen-)Humor nicht mehr tröstet. Vieles erinnert an den „Winter des Missvergnügens“ Ende der 1970er Jahre, der Margaret Thatcher an die Macht brachte. 

Ironie der Geschichte: Die politische Erbin der Eisernen Lady ist Opfer eines ähnlichen Niedergangs geworden, nur dass er sich zuletzt im Rekordtempo vollzog: Liz Truss ist die Macht aus den Händen geglitten. Die britischen Konservativen sind nur noch im Amt.

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 6, November/Dezember 2022, S. 114-115

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Torsten Riecke ist London-Korrespondent des Handelsblatts. Aus der britischen Hauptstadt berichtet er bereits zum zweiten Mal, zu seinen anderen Stationen zählen Frankfurt, New York, Zürich und Berlin.

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