Gegen den Strich

24. Apr. 2023

Gegen den Strich: Großbritannien zwei Jahre nach dem Brexit

„Make Brexit Work“: Das bleibt auch sieben Jahre nach dem Referendum über den EU-Austritt des Vereinigten Königreichs und zwei Jahre nach dessen Vollzug die Dau- eraufgabe britischer Politik. Die Einigung zwischen London und Brüssel im Streit über Nordirland wird von vielen als Schlussstrich unter die Trennung gesehen. Oder ist es vielmehr der Beginn einer Wiederannäherung? Zeit für eine ehrliche Bilanz.

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Bild: Eine junge Frau vor leeren Supermarktregalen in London
Vollmundige Versprechen, leere Regale: Die Ernüchterung über den Brexit ist groß im Vereinigten Königreich. Einen politischen Willen zur Rückkehr in die EU gibt es aber (noch) nicht.
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„Der Nordirland-Deal bringt den Brexit erfolgreich zum Abschluss“

Das ist mehr Wunsch als Wirklichkeit. Wenige Tage, bevor der britische Premierminister Rishi Sunak und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen Ende Februar in Windsor feierlich den Streit über Nordirland beilegten, kam es in Ditchley Park, rund zwei Autostunden nordwestlich von London, zu einemkonspirativen Treffen. An einem Wochenende versammelten sich auf dem 400 Jahre alten Anwesen, das schon Winston Churchill als Versteck vor deutschen Bombern diente, mehr als ein Dutzend prominente Gegner wie Anhänger des EU-Austritts in Großbritannien. Die berieten darüber, wie man den Brexit doch noch zum Erfolg führen oder seine wirtschaft­lichen und politischen Schäden zumindest begrenzen könnte.

 

Was zum Teufel, fragten misstrauische Euroskeptiker hinterher, hat ausgerechnet ein Brexit-Vorkämpfer und heutiger Minister wie Michael Gove mit einem europhilen Labour-Politiker und ehemaligen EU-Kommissar wie Peter Mandelson zu besprechen? Das „Geheimtreffen“ in Ditchley sei „ein weiterer Beweis dafür, dass viele in unserem politischen und wirtschaftlichen Establishment die Vereinbarungen, die wir getroffen haben, um 2020 aus der EU auszutreten, rückgängig machen und stattdessen im Schatten der EU bleiben wollen“, brandmarkte der frühere Brexit-Unterhändler David Frost die konspirative Zusammenkunft als Verrat am Referendum.

Der Nordirland-Deal hat das Misstrauen der Brexiteers eher noch verstärkt. Es würde ihm „sehr schwer fallen“, für das sogenannte „Windsor Framework“ zu stimmen, sagte der ehemalige Premier Boris Johnson. „Getting Brexit done“ war das Versprechen, mit dem Johnson die Parlamentswahlen 2019 haushoch gewonnen hatte. „Make Brexit Work“ ist die Aufgabe, die er seinem Nach-Nachfolger ­Rishi Sunak hinterlassen hat. Der sieht sich jetzt durch den Nord­irland-Deal am Ziel. „Wir haben die Kontrolle zurückgewonnen“, verkündete der britische Regierungschef in Windsor.

Aber ist die komplizierte Einigung über die Handelsbeziehungen zwischen der nordirischen Provinz, der EU und dem Rest Großbritanniens nun der Schlussstrich unter eine quälende Trennung oder der Beginn eines „neuen Kapitels“ freundschaftlicher Beziehungen zwischen London und Brüssel?

Das Windsor Framework ist letztlich das Ergebnis einer politischen Risikoabwägung. Die politischen Risiken einer Eskalation des Streits mit Brüssel schienen Sunak größer als die Gefahr einer Rebellion von Unionisten in Nordirland und harten Brexit-Anhängern in London. Einen Handelskrieg mit der EU wollte der britische Premier nicht riskieren. Die ersten Anzeichen deuten darauf hin, dass seine politische Rechnung aufgeht.

Noch ist aber unklar, welche rechtliche Schwerkraft das Windsor Framework im Vergleich zum Brexit-Vertrag haben wird. Ob die von Sunak ausgehandelte Notbremse für das Parlament in Belfast, die sogenannte „Stormont Brake“, wirklich ausreicht, um ein Auseinanderdriften der Rechtsräume in Nordirland und dem Rest Großbritanniens zu verhindern, ist zweifelhaft.

Die Hürden dafür, dass London mit einem Veto neue EU-Regeln in Nordirland blockieren kann, sind ziemlich hoch. Für Brüssel handelt es sich hier um eine eher theoretische Kröte, die man bereit war zu schlucken. In London sieht man die Stormont-Bremse dagegen als Hebel, um den Einfluss der EU in der weiterhin zum Binnenmarkt gehörenden nordirischen Provinz zurückzudrängen.

Die Notbremse des Regionalparlaments in Stormont könnte sich in Kombination mit dem expliziten Wunsch der harten Brexit-Verfechter in London, von EU-Regeln abzuweichen, noch als politische Zeitbombe entpuppen. Der Brexit hat Fliehkräfte freigesetzt, die sich auch durch noch so geschickte Reparaturanleitungen wie das Windsor Framework für Nordirland nicht bändigen lassen.

Zumal die britische Regierung nicht müde wird, den Briten eine „Brexit-Dividende“ in Form einer Abschaffung von EU-Regeln zu versprechen. Bis Ende des Jahres will London mehr als 3000 Gesetze und Regeln aus der Zeit der EU-Mitgliedschaft entweder ändern oder, sollte die kurze Zeit dafür nicht ausreichen, automatisch streichen. So will es der „Retained EU Law Bill“, der bereits im Parlament in Westminster eingebracht wurde.

In Brüssel wird seit Langem befürchtet, die Briten könnten nach ihrem EU-Austritt einen Deregulierungswettbewerb nach unten beginnen. Zumal der britische Finanzminister mit den kürzlich verkündeten „Edin­burgh-Reformen“ die „Brexit-Freiheiten“ nutzen will, „um ein flexibles und einheimisches Regulierungssystem zu schaffen“. Unter anderem plant er, die Kapitalanforderungen für Versicherungen zu lockern und die strikte Trennung von Investment- und Retailbanking (Privatkundengeschäft) aufzuweichen.

Neue Konflikte zwischen den neuen besten Freunden in London und Brüssel sind also vorprogrammiert. „Der Brexit kann nicht funktionieren“, schrieb der belgische EU-Parlamentarier Guy Verhofstadt auf Twitter.



„Die Briten haben den EU-Austritt als Fehler erkannt und werden bald reumütig in die Gemeinschaft zurückkehren“

Die Ernüchterung ist groß, den politischen Willen zur Rückkehr gibt es aber (noch) nicht. Der „Budget Day“ ist in Großbritannien ein politisches Großereignis, an dem der wirtschafts- und finanzpolitische Kurs des Landes abgesteckt wird. Das Unterhaus war Mitte März so voll, dass viele Parlamentarier stehen mussten, um die Haushaltsrede von Finanzminister Jeremy Hunt zu verfolgen. Und der Tory-Politiker hatte sich einiges vorgenommen: Mit einem „Budget for Growth“ will er die chronische Produktivitäts- und Investitionsschwäche Großbritanniens beenden und das Inselreich vom letzten Platz beim Wirtschaftswachstum der sieben großen Wirtschaftsnationen (G7) an die Spitze führen.

Umso verblüffender war es, dass Hunt in seiner einstündigen Rede eine der größten Wachstumsbremsen gar nicht erwähnte: Der EU-Austritt tauchte nur an einer einzigen Stelle auf, und zwar als „Brexit Pubs Guarantee“, die es der Regierung erlaube, die Biersteuer zu senken.

Der wirtschaftspolitische Diskurs in Großbritannien krankt seit dem Brexit-Referendum 2016 daran, dass die politische Klasse in London die negativen Folgen des Austritts totschweigt. „Die Tories wollen nicht darüber reden, Labour will es nicht, die Gewerkschaften und der Industrieverband CBI wollen es nicht, und auch die nationalen Fernsehsender meiden das Thema“, bescheinigte kürzlich der ehemalige britische Finanzminister George Osborne seinem Land eine nahezu neurotische Verdrängung.

Gemessen an Umfragen hinken Regierung und Opposition in London der Stimmung in der Bevölkerung weit hinterher. „Die Menschen merken, dass der Brexit ein großer Irrtum war“, berichtet der 90-jährige Tory-Veteran Michael Heseltine. Tatsächlich halten inzwischen mehr als die Hälfte der Briten den EU-Austritt für einen Fehler. Das hat eine Meinungsumfrage des Instituts YouGov aus dem Februar ergeben. „Das letzte halbe Dutzend Umfragen zeigt, dass sogar 58 Prozent für einen erneuten EU-Beitritt stimmen würden“, schreibt der Politikwissenschaftler und Meinungsforscher John Curtice von der Universität Strathclyde. In nur noch dreien der insgesamt 632 Wahlkreise im Königreich gibt es demnach eine Mehrheit für den Brexit.

Hunt und seine Kabinettskollegen bestreiten zwar, dass Großbritannien durch den Brexit ärmer geworden sei. Die Zahlen sprechen jedoch eine andere Sprache. Das parteiunabhängige Office for Budget Responsibility (OBR) geht davon aus, dass sich das langfristige Produktivitätspotenzial durch den EU-Austritt um rund 4 Prozent verringern wird. Der britische Notenbanker Jonathan Haskel sagt voraus, dass durch den Brexit private Investitionen in Höhe von 29 Milliarden Pfund verhindert wurden. Die Investitionslücke seit 2016 entspreche etwa 1,3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts.

Noch deutlicher wurde Haskels Kollegin Catherine Mann: „Kein anderes Land hat sich dazu entschlossen, seinen engsten Handelspartnern einseitig Handelsschranken aufzuerlegen“, sagte die Währungshüterin der Bank of England. Die Importe und Exporte der einst stolzen Handelsnation Großbritannien werden nach einer Prognose des OBR jeweils um 15 Prozent geringer ausfallen, als wenn das Land in der Europäischen Union geblieben wäre.

Brexit-Befürworter wie der britische Energieminister Grant Shapps räumen zwar ein, dass der Austritt „kurzfristig“ zu Verwerfungen insbesondere in der Wirtschaft führe. Langfristig werde die Bilanz jedoch positiv ausfallen. Sein Parteifreund Jacob Rees-Mogg vom rechten Parteiflügel hatte einst prophezeit, dass die Briten vielleicht bis zu 50 Jahre warten müssten, um die Brexit-Früchte zu ernten.

Wenn dann auch noch die Obst- und Gemüseregale in ihren Supermärkten leer sind, während es im benachbarten Frankreich Südfrüchte, Salat und Tomaten in Hülle und Fülle gibt, dann fühlen sich viele Inselbewohner hinters Licht geführt. Auch wenn an dem Mangel mehr das schlechte Wetter als der Brexit schuld war. Ihr Inseldasein hat die Briten eben entgegen anderslautender Versprechen der Regierung auch nicht vor dem enormen Anstieg der Energiepreise nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine bewahrt.

Dass weder die regierenden Tories noch die oppositionelle Labour-Partei über die negativen Folgen des Brexits sprechen oder gar den Austritt infrage stellen wollen, hat vor allem politische Gründe. Im kommenden Jahr ­finden voraussichtlich Parlamentswahlen in Großbritannien statt. Wollen die Konservativen an der Macht bleiben, müssen sie viele der alten Labour-Hochburgen in den nördlichen Industrieregionen verteidigen, die Boris Johnson 2019 erobert hatte. Umgekehrt muss Oppositionsführer Keir Starmer genau dort punkten, wenn er den Machtwechsel schaffen will.

In vielen Wahlkreisen entlang der ehemaligen „Red Wall“ zwischen Middlesbrough im Osten und Blackpool im Nordwesten haben die Wähler 2016 für den EU-Austritt gestimmt. Die Angst, dass die Bürger dort ein Schwanken in der Brexit-Frage an der Wahlurne abstrafen würden, hat dazu geführt, dass auch Starmer „den Brexit zum Erfolg“ führen will.

Dabei hat sich die Stimmung vor Ort längst gedreht. „Wir haben es ziemlich schwer, und der Brexit hat die Sache nicht einfacher gemacht“, erzählt John McCabe. Der Chef der Handelskammer im Nordosten Englands ist in Newcastle zu Hause und arbeitet seit Jahren daran, den wirtschaftlichen Abstieg seiner Region durch neue Initiativen in Bereichen wie Greentech, Windenergie oder Life Sciences aufzuhalten.

Obwohl etwa zwei Drittel der lokalen Unternehmen im Nord­osten gegen den Brexit waren und sind, stimmten allein in Middlesbrough mehr als 60 Prozent der Bürger für den Austritt. Viele bereuen das heute, denn „für die örtlichen Firmen wird der Außenhandel durch den Austritt teurer und bürokratischer“, betonte McCabe.

 

„Die Idee eines Global Britain ist gescheitert“

Stimmt, aber die Idee war nie ausgereift. „Europa ist eine gute Idee, aber nicht für uns“, lautete schon das Credo der berühmten Rede, in der Winston Churchill kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs 1946 in Zürich den Europäern leidenschaftlich die Vision der Vereinigten Staaten von Europa nahelegte.

Geografie, Geschichte und Kultur machen ­Großbritannien seit jeher zu einem Außenseiter Europas: halb drinnen, halb draußen. So war es denn auch nicht überraschend, dass Ex-Premier Boris Johnson, der sich selbst als politischen Erben Churchills sieht, mit der Idee eines „Global Britain“ die Identitätslücke füllen wollte, die der Brexit nach 47 Jahren EU-Mitgliedschaft hinterlassen hatte.

Global Britain, das ist der ebenso wohlklingende wie schwammige Begriff, mit dem die Brexit-Verfechter Großbritanniens Platz in der Welt definieren. Darin steckt ein melancholischer Hauch vom alten britischen Empire und viel Weltoffenheit sowohl nach innen wie nach außen. Mit seinem globalen Finanzplatz London und Handelsbeziehungen in alle Welt sollte Großbritannien zu einem „Singapur an der Themse“ werden.

Das Bild ist schon deshalb schief, weil die liberalen Briten sich kaum mit einer autokratischen Regierung wie in Singapur anfreunden würden. Die Idee eines Global Britain ist aber vor allem daran gescheitert, dass sie die geopolitischen und geoökonomischen Veränderungen des 21. Jahrhunderts schlicht ignoriert – und weil der Brexit und Weltoffenheit nicht zusammenpassen wollen.

Ein wichtiges Motiv für den EU-Austritt war der Wunsch vieler Briten, die hohe Zahl der Einwanderer zu reduzieren, indem London wieder die alleinige Kontrolle über die Landesgrenzen übernimmt. Ein Blick in die jüngste Einwanderungsstatistik zeigt jedoch, dass sich diese Hoffnung nicht erfüllt hat. Im Gegenteil: Das Office for Budget Responsibility rechnet langfristig mit einer Netto-Einwanderung von 245 000 Migranten pro Jahr. Der deutliche Rückgang von EU-Einwanderern ist durch Personen aus Nicht-EU-Ländern überkompensiert worden. Das hat nicht nur den Fachkräftemangel zum Beispiel im Gesundheitswesen verstärkt, sondern auch das Brexit-Versprechen „Taking back control“ ad absurdum geführt. Die Einwanderung ist sogar höher als vor dem EU-Austritt.

Die britische Regierung will nun den Zuzug von illegal einreisenden Flüchtlingen, die meist mit kleinen Schlauchbooten über den Ärmelkanal kommen und an der britischen Küste anlanden, durch drakonische Maßnahmen stoppen. Die meisten von ihnen sollen künftig für bis zu 28 Tage ohne Anhörung in Haft genommen und „so schnell wie vernünftigerweise möglich“ in einen sicheren Drittstaat wie Ruanda abgeschoben werden.

Die Flüchtlingsorganisation der Vereinten Nationen (UNHCR) bezweifelt, dass das neue Gesetz mit internationalem Recht vereinbar ist, weil es das Asylrecht faktisch aushebelt. Der Erzbischof von York, Stephen Cottrell, brandmarkte die Maßnahmen als „Grausamkeit ohne Zweck“. Nach Meinung des einst von Albert Einstein gegründeten International Rescue Committee schadet London damit „Großbritanniens weltweitem Ruf für Fairness und Mitgefühl“.

Aber auch die Hoffnungen, Großbritannien durch den Brexit zu einer internationalen Drehscheibe für Handels- und Finanzströme zu machen, haben sich nicht erfüllt. Bislang hat die britische Regierung seit dem EU-Austritt nur drei neue Freihandelsabkommen mit Japan, Australien und Neuseeland abgeschlossen. Der Handel mit Japan ist in den ersten zwölf Monaten seit dem Abschluss sogar zurückgegangen. Beim Deal mit „Down Under“ haben die Australier die britischen Unterhändler nach den Worten des ehemaligen Umweltministers George Eustice über den Tisch gezogen.

Die größten Hoffnungen setzt die britische Regierung auf ein neues Freihandelsabkommen mit den USA. US-Präsident Joe Biden wollte darüber jedoch erst reden, wenn London und Brüssel ihren Streit über Nordirland beigelegt haben. Nachdem diese Hürde genommen wurde, ist der Weg für Gespräche jetzt frei, doch einfach wird die Sache nicht. So gleichen die britischen Standards für Lebensmittel bislang noch mehr den EU-Normen als den Vorstellungen in Washington. Und das gilt nicht nur für die berüchtigten „Chlorhühnchen“. Einen Vorgeschmack bieten gerade die ins Stocken geratenen Beitrittsverhandlungen Londons mit dem pazifischen Handelspakt CPTPP, wo es zum Streit mit Kanada über die Einfuhr von Rindfleisch und die Öffnung der Agrarmärkte kam.

Großbritannien bekommt jetzt zu spüren, dass es als Einzelkämpfer wesentlich schwerer ist, sich im geoökonomischen Kampf der großen Wirtschaftsblöcke zu behaupten. So hat man in der britischen Hauptstadt inzwischen gemerkt, dass man im industriepolitischen Subventionswettlauf zwischen den USA, der EU und China auf der Strecke bleibt. Nach einer Antwort auf den amerikanischen Inflation Reduction Act, der Staatshilfen von rund 370 Milliarden Dollar für den grünen Umbau der US-Wirtschaft enthält und dem die EU nun Paroli bieten will, sucht man in London bislang vergebens.

Und auch seine Stellung als globaler Finanzplatz konnte London seit dem Brexit nicht ausbauen. Das Gegenteil ist der Fall: Eine wachsende Zahl von Unternehmen listet seine Aktien lieber in New York oder Hongkong. Jüngstes Beispiel ist der britische Chipdesigner ARM.



„Europa braucht Großbritannien nicht mehr“

Ganz im Gegenteil. Angesichts der Kollateralschäden durch den Brexit macht sich bei vielen Kontinentaleuropäern klammheimliche Schadenfreude breit. Das ignoriert jedoch die Tatsache, dass die EU-Mitglieder großes Interesse daran haben müssen, die Bande zu Großbritannien so eng wie möglich zu halten. Nirgends zeigt sich das deutlicher als in der Außen- und Sicherheitspolitik, die mit der Bedrohung durch Russland und China vor neuen Herausforderungen steht.

Das Vereinigte Königreich verfügt als eines von fünf Ständigen Mitgliedern im UN-Sicherheitsrat nicht nur über erheblichen politischen Einfluss, sondern ist als Nuklearmacht auch für die militärische Sicherheit Europas unverzichtbar. Zudem gehört Großbritannien zum angelsächsischen Geheimdienst-Club „Five Eyes“ und verfügt damit über Informationen, die für die innere und äußere Sicherheit Europas lebenswichtig sind.

Mit dem Militärbündnis ­AUKUS, zu dem neben Großbritannien auch die USA und Aus­tralien gehören, schaffen die Briten in der geopolitisch wichtigen Pazifikregion Fakten, während die Europäische Union immer noch an einer ­eigenen Strategie für den Indopazifik bastelt.

Und dass London in militärischen Fragen auch nach dem Brexit immer noch Ton und Tempo in Europa angibt, zeigt sich seit Putins Angriffskrieg auf die Ukraine. Der britische Geheimdienst warnte frühzeitig vor dem Einmarsch, Großbritannien gehörte zu den ersten Waffenlieferanten an die Ukraine und ist bis heute einer der wichtigsten Unterstützer Kiews.

Als Bundeskanzler Olaf Scholz lange zögerte, den Ukrainern Kampfpanzer vom Typ Leopard zu liefern, setzte London Berlin mit seiner Lieferzusage für den „Challenger II“ unter Handlungsdruck und räumte damit die Panzersperre aus dem Weg.

Gerade hat die britische Regierung angekündigt, dass sie in den kommenden zwei Jahren umgerechnet rund 5,6 Milliarden Euro mehr für die militärische Sicherheit ausgeben will. Bis 2025 soll damit der Anteil der Verteidigungsausgaben am Bruttoinlandsprodukt auf 2,25 Prozent steigen. Langfristig peilen die Briten die Marke von 2,5 Prozent an.

Damit tut Großbritannien deutlich mehr für die eigene Sicherheit, als es das NATO-Ziel von 2 Prozent verlangt. Deutschland wird trotz des 100-Milliarden-Versprechens von Bundeskanzler Olaf Scholz im laufenden Jahr vermutlich nicht über einen Verteidigungsbeitrag von 1,6 Prozent hinauskommen.

Ähnlich wie in Deutschland gibt es auch in Großbritannien eine lebhafte Debatte über die Kampfbereitschaft der eigenen Streitkräfte – insbesondere seit ein US-General den Zustand des britischen Militärs kritisiert hat. In schlechter Erinnerung ist zudem noch die peinliche Panne des sechs Milliarden Pfund teuren Flugzeugträgers „Prince of Wales“, der kurz nach dem Auslaufen im vergangenen August wegen eines Propellerschadens wieder in den Hafen von Portsmouth zurückgeschleppt werden musste.

Zumindest schaffen es die Briten seit Jahrzehnten, eine Nationale Sicherheitsstrategie zu formulieren, die von einem Nationalen Sicherheitsrat überwacht wird. Die Bundesregierung hat zwar jetzt eine Strategie zu Papier gebracht, auf ein nationales Sicherheitsgremium konnten sich Kanzleramt und Auswärtiges Amt jedoch nicht einigen. Wenn es darum geht, die eigenen Sicherheitsinteressen strategisch zu formulieren und dabei wirtschaftliche und außenpolitische Ziele zusammenzudenken, können die Deutschen von den Briten noch einiges lernen.

 

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 3, Mai/Juni 2023, S. 98-103

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Mehr von den Autoren

Torsten Riecke ist London-Korrespondent des Handelsblatts. Aus der britischen Hauptstadt berichtet er bereits zum zweiten Mal, zu seinen anderen Stationen zählen Frankfurt, New York, Zürich und Berlin.

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