Stockender Machtwechsel
Handwerkliche Fehler, eine schwierige Erblast und die Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten überschatten den Start der britischen Labour-Regierung von Keir Starmer. Insbesondere die Haushalts- und Steuerpolitik steht in der Kritik.
Farmageddon“. Mit diesem Wortspiel versuchten britische Medien die politische Bedeutung der Bauernproteste gegen die Regierung in London im November auf den Punkt zu bringen. Ob der wütende Protest von 13 000 britischen Farmern, die mit Gummistiefeln und Traktoren zum Parlament nach Westminister zogen, bereits ein Vorbote für den baldigen Untergang der erst im Juli 2024 gewählten Labour-Regierung war, mag angesichts ihrer überwältigenden Parlamentsmehrheit von 163 Sitzen zwar übertrieben erscheinen.
Ein weiterer Beleg dafür, dass die Labour-Partei nach dem fulminanten Wahlsieg den Goodwill vieler Britinnen und Briten bereits aufgebraucht hat, die sich von dem Machtwechsel einen Wandel zum Besseren erhofft haben, ist der Bauernaufstand aber allemal. Zumal am Tag der Proteste 70 Handelsunternehmen, darunter so bekannte Namen wie Marks & Spencer, Aldi und Amazon, die Regierung warnten, dass ihr erster Haushalt „den Verlust von Arbeitsplätzen unvermeidlich und höhere Preise zur Gewissheit“ machten.
Das Budget, das Finanzministerin Rachel Reeves Ende Oktober vorgelegt hat, ist zum Fokuspunkt der politischen Debatte in Großbritannien geworden. Anders als in Deutschland, wo Haushaltsdiskussionen häufig zu Expertengesprächen unter Ausschluss der Öffentlichkeit verkommen, ist der „Budget Day“ in Großbritannien ein nationales Großereignis, bei dem die Weichen für die Zukunft des Königreichs gestellt werden. Der Haushaltsplan von Reeves übererfüllt diesen Anspruch sogar: Die erste Kursbestimmung einer Labour-Regierung seit 14 Jahren markierte die endgültige Abkehr vom Marktvertrauen des Thatcherismus und eine Rückkehr des starken Staates.
Rückkehr des starken Staates
Für Premierminister Keir Starmer ist es das Drehbuch für die versprochene Politikwende – also für all das, was die Labour-Partei anders und besser machen will als ihre konservativen Vorgänger. Für die Kritiker, von den oppositionellen Tories über die Farmer bis hin zu vielen Wirtschaftsvertretern, ist der Etatentwurf dagegen der Beleg, dass Labour das Königreich mit hohen Abgaben und Steuern drangsalieren will.
Reeves hat bei der Vorlage ihrer Haushaltspläne Ziele formuliert, die nach Meinung von Ökonomen nur schwer miteinander vereinbar sind. So will die Regierung mit kreditfinanzierten Investitionen die chronische Wachstumsschwäche in Großbritannien überwinden. Darüber hinaus kündigte Reeves massive Steuererhöhungen in Höhe von 40 Milliarden Pfund (etwa 48 Milliarden Euro) insbesondere für Reiche, Finanzinvestoren und Unternehmen an. Die Gefahr ist, dass der Kostenschub für die Betriebe zur Wachstumsbremse wird und damit die Hoffnungen von Labour konterkariert.
Ähnlich wie Deutschland leidet auch Großbritannien seit Jahren unter der nur noch schwach wachsenden Produktivität und Wirtschaftsleistung. Zwar ist die Inflation inzwischen wieder auf etwa 2 Prozent gesunken, nachdem sie im vergangenen Jahr noch zweistellig war. Das Wirtschaftswachstum kommt jedoch kaum über ein Plus von 1 Prozent hinaus, und die Arbeitsproduktivität stagniert seit Langem. Das Vertrauen der Verbraucher und Unternehmen ist im Herbst ebenfalls gesunken, auch weil Starmer nach der Sommerpause angekündigt hatte, es würde erst schlechter, bevor es besser werden könne. Denn Reeves hatte noch ein „schwarzes Loch“ in der Staatskasse von 22 Milliarden Pfund (etwa 26 Milliarden Euro) entdeckt, das ihr die Tories hinterlassen hatten.
Die größte Last der Haushaltskonsolidierung müssen nun Arbeitgeber tragen, deren Beiträge zur staatlichen Versicherung National Insurance um 1,2 Prozentpunkte auf 15 Prozent steigen. Darüber hinaus will die Regierung den Mindestlohn anheben. Wer über 21 Jahre alt ist, verdient in Großbritannien künftig umgerechnet mindestens 14,53 Euro die Stunde. Dadurch bekommen Geringverdiener zwar mehr Geld und können mit zusätzlichen Konsumausgaben die Konjunktur ankurbeln. Zugleich steigt aber die Kostenlast, insbesondere für kleinere Unternehmen im Dienstleistungssektor.
Die Pressereaktionen fielen teils vernichtend aus: „Nightmare on Downing Street“, titelte der konservative Daily Telegraph, für das Boulevardblatt The Sun war der erste Reeves-Haushalt eine „Horror-Show“ an Halloween. Die Daily Mail sprach von der „Steuerbombe für die Leistungsträger“.
Aufgebrachte Einzelhändler
Allein der Einzelhandel rechnet mit einem Kostenschub von insgesamt sieben Milliarden Pfund. „Für jeden Einzelhändler, ob groß oder klein, wird es nicht möglich sein, so erhebliche Kostensteigerungen innerhalb eines so kurzen Zeitraums aufzufangen“, schrieben die schon erwähnten Handelsunternehmen in ihrem Protestbrief. Alexandra Hall-Chen vom arbeitgebernahen Institute of Directors warnte: „Zusammengenommen ist dies ein perfekter Sturm für die Wirtschaft und wird die Arbeitgeber erheblich davon abhalten, neue Mitarbeiter einzustellen.“
Aber auch die Bauern in Großbritannien sollen künftig erstmals eine Erbschaftssteuer von 20 Prozent zahlen, sobald ihr Vermögen bestimmte Freigrenzen übersteigt. Das treibt die Farmer auf die Barrikaden. Dabei bekommt Labour auch den Frust über die seit Jahren sinkenden Einkommen vieler Landwirte zu spüren, die seit dem EU-Austritt auf die großzügigen Agrarbeihilfen aus Brüssel verzichten müssen.
Kritik an den Haushaltsplänen kommt auch von Ökonomen: „Man kann nicht ausschließen, dass künftige negative Haushaltsprognosen die Finanzministerin dazu zwingen könnten, die Steuern weiter zu erhöhen“, sagte Michael Saunders, Ökonom bei der Denkfabrik Oxford Economics. Die Steuerlast gemessen am Bruttoinlandsprodukt steigt auf 38 Prozent, die Staatsquote gemessen an den öffentlichen Ausgaben könnte bis 2030 sogar auf 44 Prozent klettern. Für staatsgläubige Länder wie Deutschland sind das Durchschnittswerte, für das traditionell wirtschaftsliberale Großbritannien ist es eine Zeitenwende.
Dass das wirtschaftspolitische Pendel im Königreich derart heftig in Richtung des Staates zurückschlägt, kommt nicht überraschend. Die konservativen Tory-Regierungen haben in den vergangenen 14 Jahren im öffentlichen Sektor Großbritanniens eine Spur der Verwüstung hinterlassen: ein chronisch krankes Gesundheitssystem, baufällige Schulen, ein unterfinanziertes Transportwesen und eine leere Staatskasse.
Bei den Parlamentswahlen am 4. Juli haben die Briten der Labour-Partei deshalb den klaren Auftrag erteilt, diese Misere zu beenden. Jeder Labour-Wähler wusste oder hätte wissen müssen, dass er damit auch für höhere Steuern votierte. Dass Reeves die öffentlichen Dienstleistungen verbessern, die Staatsfinanzen reparieren und so für wirtschaftliche Stabilität sorgen will, ist richtig und überfällig. Ehrlicher und ökonomisch klüger wäre es jedoch gewesen, die dafür notwendigen Lasten gleichmäßiger zu verteilen.
Nervöse Finanzmärkte
Auch an den Finanzmärkten blickt man skeptisch auf die Pläne von Labour. Die Zinsen für britische Staatsanleihen waren bereits im Vorfeld des Budgets spürbar gestiegen. Analysten führen das nervöse Zucken an den Märkten unter anderem darauf zurück, dass die Regierung massiv neue Kredite für Investitionen aufnehmen will und dadurch die Staatsverschuldung weiter nach oben treibt. Zudem will Reeves bei der Berechnung der Staatsverschuldung künftig stärker illiquide Finanzvermögen des Staates wie zum Beispiel Forderungen aus staatlichen Krediten für Studenten berücksichtigen. So will sie finanziellen Spielraum für mehr öffentliche Investitionen in die Gesundheitsversorgung, neue Schulen, eine bessere Transportinfrastruktur und den klimafreundlichen Umbau der Wirtschaft schaffen.
Dadurch gewinnt sie einen zusätzlichen Kreditspielraum von rund 50 Milliarden Pfund. Ein Teil davon – etwa 28 Milliarden Pfund – soll helfen, die staatlichen Investitionen über die kommenden fünf Jahre auf 100 Milliarden Pfund zu steigern. „Das wird langfristig auch das Bruttoinlandsprodukt um 1,4 Prozent stärken“, versprach die Labour-Politikerin. Dabei visiert sie einen Zeitraum von zehn Jahren an.
Der Investitionsschub auf Pump soll verhindern, dass die Nettoinvestitionen des Staates bis 2029 von derzeit 2,5 auf nur noch 1,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts sinken. Zum Vergleich: In Deutschland liegt die öffentliche Investitionsquote bei 2,4 Prozent, in der EU ist sie mit 3,7 Prozent noch deutlich höher.
Mehr Investitionen des Staates in Infrastruktur, Transportwesen und sozialen Wohnungsbau sind eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für mehr Wachstum. Großbritannien wird seine chronische Wachstumsschwäche nur nachhaltig überwinden, wenn neben dem Staat auch private Unternehmen deutlich mehr im Königreich investieren.
Dadurch, dass die Labour-Regierung jedoch die Abgabenlast für Firmen erhöht, riskiert sie, dass ihre Investitionsoffensive nach wenigen Jahren verpufft. Das parteiunabhängige Office for Budget Responsibility (OBR) warnt gar vor einer Verdrängung privater Investitionen durch den Staat und hält die Wachstumsimpulse des Haushaltsplans allenfalls für minimal.
Die Labour-Pläne sind aber nicht nur ökonomisch riskant, sie könnten auch politisch nach hinten losgehen. Ohne die erhofften Wachstumseffekte wäre die Regierung gezwungen, die Steuerschraube weiter anzuziehen, um ihr Stabilitätsversprechen einzuhalten, die laufenden Ausgaben nur durch die Einnahmen des Fiskus zu finanzieren. Sollten die Briten dann mit höheren Steuern und geringeren verfügbaren Einkommen dastehen, wird das Pendel ökonomisch wie politisch wieder in die andere Richtung ausschlagen.
Der Trump-Faktor
Zusätzlich belastet wird der Start der Labour-Regierung durch die Wahl von Donald Trump zum nächsten US-Präsidenten, den die Sun in Anspielung auf Trumps Catchphrase („You’re fired“) aus den Zeiten als Reality-TV-Star mit der Schlagzeile „You’re re-hired“ bedachte. In London wächst die Furcht, Großbritannien könnte in einem drohenden Handelskrieg zwischen die Fronten der USA und der Europäischen Union geraten, was die Wachstumsaussichten weiter eintrüben würde.
Donald Trump hat vor der Wahl angedroht, auf alle Güterimporte Strafzölle zwischen 10 und 20 Prozent zu erheben; auf Wareneinfuhren aus China sollen es sogar 60 Prozent sein. Die Hälfte aller britischen Exporte besteht jedoch aus Dienstleistungen und wären von Trumps Abschreckungsmaßnahmen vermutlich nicht betroffen.
Ganz ungeschoren kämen die Briten allerdings nicht davon, wenn Trump seine Strafzölle auch auf Importe aus Großbritannien verhängen würde. Betroffen davon wären vor allem Pharmaprodukte und Luxusautos. Nach Berechnungen des National Institute of Economic and Social Research (NIESR) könnte ein solcher Schlag das Wirtschaftswachstum 2025 auf magere 0,4 Prozent halbieren. Anders als die EU, die bereits Gegensanktionen vorbereitet hat, hält sich die britische Regierung bislang bedeckt, wie sie auf mögliche Strafzölle von Trump reagieren würde.
Begegnen will Labour der Gefahr offenbar mit einem typisch britischen Pragmatismus des Sowohl-als-auch: Die Regierung hofft sowohl auf ein Freihandelsabkommen mit den USA als auch auf bessere Handelsbeziehungen zur EU. „Wir haben uns immer für Handelsvereinbarungen eingesetzt, sowohl mit der EU als auch mit den USA“, sagte Starmer im November beim Gipfeltreffen der G20 in Rio de Janeiro.
Rückkehr von „Global Britain“
Vorbild für Starmer ist offenbar die Idee eines „Global Britain“, mit der sein Vorgänger Boris Johnson das Königreich nach dem Brexit zu einer wichtigen, nach allen Seiten offenen Handelsnation in der Weltwirtschaft machen wollte. Kritiker warfen Johnson damals vor, er wolle auf allen Hochzeiten gleichzeitig tanzen.
Genau diese Taktik fordert jetzt der Labour-Politiker Peter Mandelson, der gute Chancen hat, der nächste Botschafter des Königreichs in den dann von Trump regierten USA zu werden. „Wir müssen das Beste aus beiden Welten haben“, sagte der ehemalige EU-Handelskommissar mit Blick darauf, dass die Regierung in London trotz der von Trump angekündigten generellen Importzölle auf eine Sonderbehandlung durch den kommenden US-Präsidenten hofft.
Zugleich reicht London seinen europäischen Nachbarn die Hand: „Wir werden den Brexit nicht rückgängig machen, aber wir müssen unsere Beziehungen (zur EU) neu gestalten“, sagte Finanzministerin Reeves. Ende 2025 wird erstmals das Austrittsabkommen zwischen Großbritannien und der EU überprüft. Die britische Regierung will die Gelegenheit nutzen, um Handelshemmnisse bei Finanzdienstleistungen und im Warenverkehr mit Lebensmitteln abzubauen.
Ganz so einfach wird London sich jedoch nicht zwischen den Fronten eines Handelskonflikts mit Trumps Amerika durchmogeln können. Stephen Moore, Wirtschaftsberater des neuen US-Präsidenten, forderte die britische Regierung bereits auf, sich zwischen dem „sozialistischen Modell Europas“ und dem „freien Markt Amerikas“ zu entscheiden. Eine Entscheidung für die USA könnte sich auch positiv auf ein mögliches Freihandelsabkommen auswirken.
Der britische Wirtschaftsminister Jonathan Reynolds räumte zwar bei einer Anhörung im britischen Oberhaus ein, dass die USA mit einem bilateralen Handelsvolumen von etwa 300 Milliarden Pfund der wichtigste Handelspartner für Großbritannien seien: „Aber im Vergleich zur EU mit einem bilateralen Handelsvolumen von über 800 Milliarden Pfund müssen wir natürlich die Konsequenzen abwägen, wenn ... von uns Dinge verlangt werden, die zu einer Beeinträchtigung der Beziehungen auf europäischer Seite führen würden.
Internationale Politik 1, Januar/Februar 2025, S. 120-124
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