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01. Juli 2015

Ein Kampf ums Überleben

Europa ist im digitalen Zeitalter nicht mehr wettbewerbsfähig

Deutschland und Europa drohen im weltweiten Hochtechnologierennen der Digitalisierung hinter die Supermächte USA und China zurückzufallen; manche Pessimisten halten den Wettbewerb angesichts des enormen Tempos der Entwicklung schon heute fast für verloren. Sechs Gründe, warum wir die Digitalisierung verschlafen haben.

Als ehemalige DDR-Bürgerin kennt sich Angela Merkel mit Revolutionen aus, als Physikerin mit den Auswirkungen technologischer Entwicklungen. Vielleicht erklärt dies ein wenig, warum die Bundeskanzlerin die Digitalisierung als geostrategische Herausforderung für Deutschland beschreibt: „Die nächsten zehn Jahre werden darüber entscheiden, ob wir weiter ein führendes Industrieland sind oder ob wir den Wandel vielleicht nicht schaffen“, warnte Merkel jedenfalls am politischen Aschermittwoch sehr drastisch. Und selbst auf dem Evangelischen Kirchentag in Stuttgart orakelte sie Anfang Juni, stolze deutsche Industriekonzerne könnten künftig zu bloßen Zulieferern amerikanischer IT-Konzerne verkommen, wenn die Bedeutung der Nutzung von Big Data in Deutschland und Europa nicht endlich verstanden werde. Immer dringlicher mahnt man in der Regierungsspitze, dass sich der alte Kontinent in einem Überlebenskampf mit den USA und China um die technologische Vorherrschaft der Zukunft befinde. Pessimisten halten den Wettbewerb angesichts des enormen Tempos der Entwicklung aber schon fast für verloren.

Diese düsteren Mahnungen passen nicht recht zu den guten Wirtschafts-, Finanz- und Arbeitsmarktdaten, die Deutschland derzeit im Monatstakt verbuchen kann. Doch ebenso wie die Großkrisen Ukraine und Griechenland verdecken die Zahlen nur die mit der Digitalisierung verbundene Entwicklung – für deren Folgen erst langsam ein Bewusstsein entsteht. Dieser Prozess lässt sich am Umdenken der Kanzlerin ablesen und hängt wie so oft auch mit persönlicher Betroffenheit zusammen: Denn die Bundeskanzlerin und die deutsche Politik sind letztlich erst richtig aufgewacht, als sie im Zusammenhang mit den Snowden-Enthüllungen plötzlich merkten, dass die Staaten auf dem europäischen Kontinent ihre Daten kaum noch schützen können. Als der politische Wille dazu entstand, folgte die Erkenntnis, dass die Europäer gar nicht mehr über die dafür notwendige Technologie verfügen. Denn ohne amerikanische und chinesische Soft- und Hardware ist heute keine Kommunikation mehr möglich.

Angela Merkel hat die Digitalisierung deshalb in ihrer dritten Legislatur­periode zu ihrer neuen Mission gemacht: Einen großen Teil ihrer innenpolitischen Aufmerksamkeit richtet sie auf jenen Bereich, den sie am 19. Juni 2013 noch als „Neuland“ bezeichnet hatte: die verstärkte Vernetzung aller Bereiche des Lebens durch das Internet. Der Begriff Industrie 4.0, also die Verschmelzung von IT-Technik und Produktion, ist dabei für die Kanzlerin des Industrielands Deutschland zum neuen Leitstern an ihrem politischen Firmament geworden.

Obwohl das Thema in den meisten deutschen Medien noch bei der Ernennung von Günther Oettinger zum EU-Digitalkommissar als unwichtig be­lächelt wurde, ist das Umdenken bei anderen Spitzenpolitikern – von Wirtschafts­minister und SPD-Chef Sigmar Gabriel über CSU-Chef Horst Seehofer bis hin zu EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker nicht weniger radikal. Seehofer hat die Digitalisierung gar zum Kernstück seiner Amtszeit in Bayern erklärt. Gabriels Ministerium ist mittlerweile nicht nur federführend bei der Koordinierung der Initiative „Industrie 4.0“ mit deutschen Firmen, sondern hat eine Vielzahl an Aktivitäten gestartet, um die deutsche Wirtschaft wachzurütteln. Und der Luxemburger Juncker galt zwar noch nie als „digital native“, hat sich aber nun die Digitalisierung ebenfalls auf die Fahnen der Kommissionsarbeit in den kommenden fünf Jahren geschrieben. Ohne die Schaffung eines echten digitalen EU-Binnenmarkts mit mehr als 500 Millionen Bürgern, so warnt er, habe Europa in dem Rennen um die Technologieführerschaft keine Chance mehr. Siemens-Chef Joe Kaeser gab sich Anfang Juni demonstrativ optimistisch: „Deutschland hat alle – ich sage alle – Voraussetzungen, um für ein digitales Wirtschaftswunder zu sorgen.“

Europäer als die Getriebenen

Dass zur Aufholjagd geblasen wird, scheint bitter nötig. Industrie-4.0-Experten wie Wolfgang Dorst vom IT-Verband Bitcom warnen, dass sowohl die USA als auch China in einigen Bereichen wie den technischen Internetplattformen schon einen sehr großen Vorsprung haben – und sich dazu noch schneller bewegen. „Wir müssen neidlos anerkennen, dass uns die Weltentwicklung davonläuft“, warnte Merkel vergangenen Oktober auf dem IT-Gipfel der Bundesregierung. Die Europäer hätten trotz erheblicher staatlicher Subventionen den Wettlauf um die Herstellung von Chips und auch um die Herstellung von IT-Hardware von Smartphones über Computer bis hin zu Bildschirmen bereits verloren. Nur zum Vergleich ein Blick auf die Umsatzzahlen: Der US-Konzern und weltgrößte Chipproduzent Intel verzeichnete 2014 einen Umsatz von 55,9 Milliarden Dollar; der letzte ernsthafte deutsche Halbleiter-Hersteller Infineon kommt auf gerade einmal 5,8 Milliarden Euro.

Aber in Wahrheit sind Amerikaner und Chinesen nicht nur bei der Produktion der Kernstücke aller Computer führend: In den USA sitzen die zumindest für die westliche Welt dominierenden Software-Entwickler und die schnell wachsenden IT-Plattformen wie Apple, Facebook, Amazon, Twitter oder Google. China wiederum ist die Werkbank der Welt für Hardware – von Computern über Smartphones bis zu Kommunikationssystemen. In dem sorgfältig abgeschotteten Markt haben sich mittlerweile aber auch riesige und innovative IT-Plattformen wie Alibaba entwickelt, die es mit den amerikanischen Konkurrenten aufnehmen können.

„Beide Regierungen haben erkannt, dass die Digitalisierung der Schlüssel für die gesamte Wirtschaft ist und stellen sich strategisch auf“, meint Bitcom-Experte Dorst. „China sieht in der Digitalisierung der Produktion den Kern des Planes ‚China 2025‘, mit dem Peking die Wirtschaft an die Weltspitze katapultieren will“, stellt Björn Conrad fest, IT-Experte beim China-Thinktank MERICS. Und der Chef der Deutschen Telekom, Timotheus Höttges, räumt ein: „Die erste Halbzeit der Digitalisierung haben wir in Europa verloren.“

Autos von Apple und Google

Auch Wirtschaftsminister Gabriel schwant Übles. Er habe sich ja gefreut, dass mit Martin Winterkorn einmal der Volkswagen-Chef die Computermesse CeBit in Hannover eröffnen durfte, hatte er im März 2014 gesagt. „Ich will aber nicht erleben, dass jemand wie der Chef von Google irgendwann die Hannover-Messe Industrie eröffnet“, fügte er hinzu – was ein frommer Wunsch bleiben dürfte. Denn es häufen sich die Warnsignale, dass sich Europäer und Deutsche künftig nicht einmal mehr auf alte Stärken verlassen können.

Das Revolutionäre an der IT-Entwicklung ist nämlich, dass sie in jeden Bereich der Industrie, Dienstleistungen, letztlich aber sogar in alle Lebensbereiche vordringt. So gibt es Hinweise, dass Apple ein eigenes iAuto konstruieren will. Der amerikanische IT-Konzern Google hatte mit einem fahrerlosen Auto-Prototypen bereits 2014 für Aufregung in der Branche gesorgt. Wenngleich die deutschen Automobilbauer weiter stolz ihre technologische Weltmarktführerschaft betonen – hinter den Kulissen räumen Chefs der Konzerne ein, dass die für Deutschland zentrale Autobranche durch die Verschmelzung von Fahr- und IT-Technik vor dramatischen Veränderungen steht. „Kurz gesagt ist die Frage: Bauen IT-Konzerne künftig die Autos oder schaffen wir es, deren Technik zu integrieren“, sagte ein hoher Manager eines deutschen Autokonzerns.

Die digitale Revolution hat längst den gesamten industriellen Bereich erfasst: Auch der Maschinenbau steht durch die immer stärkere digitale Vernetzung von Produktion, Vertrieb und Verwaltung vor einem dramatischen Umbruch. Die entscheidende Frage ist, ob die Konzerne es schaffen, durch die Integration von IT-Technik die technologische Führung für das Gesamtprodukt zu behalten. Klar ist das nicht: Denn wenn Computer künftig direkt mit Computern kommunizieren können, werden sie Schritt für Schritt nicht nur das Fahren von Autos, die Buchhaltung, die Bestellung von Waren, sondern durch eine immer weiter voranschreitende Vernetzung mit den Fabrik­robotern auch die industrielle Produktion übernehmen – und sich selbst reparieren oder sogar programmieren.

Diese Dynamik ist längst schon im Dienstleistungsbereich und in anderen Bereichen des Lebens deutlich zu erkennen: Amerikanische Plattformen wie Facebook oder Google weiten ihre Produktpalette vom sozialen Netzwerk und Handel auch auf Bankgeschäfte sowie Versicherungen aus. Google kaufte 2014 für drei Milliarden Dollar die Firma Nest Labs, um die digitale Steuerung in Haushalten voranzutreiben – einschließlich Rauchmeldern und Heizungsthermostaten. In China stehen mit Google- und Amazon-Konkurrenten wie Alibaba ebenfalls Riesen bereit.  

Alle Aktivitäten haben eines gemeinsam: Sie sorgen durch die Vernetzung für das Anfallen gigantischer Datenmengen über Maschinen und Personen. Diese so genannten Big Data wiederum werden zu neuen Produkten verarbeitet – vor allem in den USA, wo die großen IT-Konzerne seit Jahren Erfahrungen mit der Auswertung gesammelt haben. „Entscheidend wird sein, wer die massenhaften Daten eigentlich sammelt, die bei den Maschinen bei Industrie 4.0 anfallen“, meint der frühere SAP-Chef und heutige Präsident der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften (Acatech), Henning Kagermann. „Meine Sorge ist, dass dies die großen amerikanischen IT-Firmen sein werden, die bereits Milliarden Nutzer haben und mit Big Data umgehen können. Wir kennen die Maschinen, die Amerikaner kennen die Personen.“

Die Botschaft scheint allen NSA-Debatten zum Trotz in der Regierungsspitze angekommen zu sein: Denn spätestens seit Dezember wirbt nun Bundeskanzlerin Merkel aktiv für die Nutzung von Big Data, obwohl sie weiß, auf welche Vorbehalte dies in einer auf Datenschutz fixierten deutschen Öffentlichkeit trifft. Aber schon Siemens-Chef Kaeser hatte gewarnt, dass Europa nur Erfolg haben könne, wenn es endlich begreife, dass Daten der neue Rohstoff im digitalen Zeitalter seien. Und weil dies so ist, hämmert die Kanzlerin immer wieder eine bemerkenswert illusionslose Erklärung in die Köpfe ihrer Zuhörer: „Es wird alles digitalisiert werden, was digitalisiert werden kann“, sagte sie beim Jahrestreffen des CDU-Wirtschaftsrats Anfang Juni.

Zu langsam, zu fragmentiert – und zu naiv

Dass Europa die Digitalisierung anders als China und die USA lange verschlafen hat, ist auf eine Vielzahl von Gründen zurückzuführen. Der erste Grund ist das fehlende strategische Denken in vielen EU-Hauptstädten und lange auch in Berlin. Lange Zeit scheint keiner der führenden Politiker begriffen zu haben, welche Bedeutung die Digitalisierung hat; die gesellschaftsverändernde Kraft neuer Technologien wird ohnehin unterschätzt. Die bisherige Supermacht USA und die kommende Supermacht China haben dagegen eine technologische Vormachtstellung in strategischen Bereichen immer auch als Element ihres globalen Führungsanspruchs bzw. der Aufholjagd angesehen. Die Mittelmacht Deutschland hat sich dagegen im analogen Zeitalter damit begnügt, bei einer Vielzahl von Einzelprodukten Weltmarktführer zu sein, von Autos bis zu Dübeln.

Der zweite Grund ist in Deutschland die mangelnde Erkenntnis über die militärische und sicherheitspolitische Bedeutung von Technologie. Die IT-Technik ist eben nicht nur eine Gefahr, weil sie für das Eindringen in die Privatsphäre anderer eingesetzt werden kann. Letztlich sichert nur sie nationale oder europäische Selbstbestimmung.

In den Vereinigten Staaten ist die IT-Entwicklung deshalb maßgeblich vom Militär mit betrieben worden. Das zivil genutzte Internet ist letztlich ebenso ein „Abfallprodukt“ wie das weltweit benutzte Nagivationssystem GPS. Die militärische Entwicklungsagentur DARPA finanziert mit ihrem Riesenetat auch die Entwicklung von Produkten, die militärisch relevant sein könnten; oder sie kauft Technologie interessanter Start-up-Firmen auf. Der Auslands­geheimdienst CIA betreibt ebenfalls eigene Start-up-­Förderung.

Eng mit der IT-Revolution verknüpft ist die Entwicklung von Weltraumtechnologie. Denn beides – technologische Unabhängigkeit im IT-Sektor und die Beherrschung von Satellitentechnik – ist untrennbar miteinander verknüpft. In Israel hat die Militärforschung dazu beigetragen, dass ein sehr leistungsfähiger IT-Sektor mit zivilen Produkten entstanden ist. In Europa hat dagegen maßgeblich Deutschland dafür gesorgt, dass das europäische Navigationssystem Galileo eine ausschließlich zivile Nutzung erhielt – und nun angesichts endloser Kompetenzstreitigkeiten um viele Jahre hinter den internationalen Konkurrenten hinterherhinkt.

Ein dritter Grund für den mittlerweile großen Rückstand ist der immer noch sehr fragmentierte digitale Markt in Europa. Juncker kritisierte Anfang Juni erneut diese „nationalen Silos“. Europa werde nur vorankommen, wenn endlich der nationale Protektionismus im IT- und Kommunikationssektor beendet und ein echter digitaler Binnenmarkt mit mehr als 500 Millionen Nutzern geschaffen werde. Deutschland gehörte zu den Bremsern, weil es wegen nationaler Empfindlichkeiten beim Datenschutz über Jahre hinweg die Einigung auf eine gemeinsame EU-Datenschutzgrundverordnung blockiert hat. Nun soll es Bewegung geben. Aber Europa kommt insgesamt nur langsam voran: Derzeit werden in Deutschland wieder nationale Mobilfunkfrequenzen versteigert. Dabei ist die Größe des Marktes in den USA und in China in Zeiten von Big Data ein zentrales Element, damit Firmen eine entscheidende Größe für eine marktbeherrschende Stellung erreichen können. Aber auch das Wettbewerbsrecht in der EU muss dringend reformiert werden, weil es im Telekommunikationsbereich auf einer völlig überholten Fixierung auf nationale Monopolstellungen aufbaut – und damit das Entstehen global wettbewerbsfähiger EU-Firmen verhindert.

Der vierte Grund liegt in der geografischen und historischen Situation auf dem alten Kontinent: Europa hat bei der sehr schnellen Digitalisierung ein Problem mit der Vielzahl der Sprachen und unterschiedlichen kulturellen Einstellungen. Bereits der frühere französische Präsident Jacques Chirac und Bundeskanzler Gerhard Schröder waren mit der Idee einer französisch-deutschen Suchmaschine gescheitert. Das hat damit zu tun, dass die Menschen in den 28 EU-Staaten im Alltag eben unterschiedliche Sprachen sprechen – und schon deshalb kleine, segmentierte Märkte bestehen. Aber weil dies so ist, hätten die EU und ihre Mitgliedstaaten bei strategischer Weitsicht eigentlich Milliarden an Forschungsmitteln in die Entwicklung automatisierter Übersetzungssysteme pumpen müssen, um eine reibungslose Kommunikation in einem digitalen EU-Binnenmarkt zu erleichtern. Da die EU-Staaten ihre nationalen Egoismen aber letztlich nie überwinden konnten, zeichnet sich nun ab, dass die Verkehrssprache in der neuen westlichen digitalen Welt eben Englisch sein wird – was dem großen amerikanischen Entwicklungsmarkt auch künftig einen Vorteil verschaffen wird.

Distanz zwischen Politik und Wirtschaft

Der fünfte Grund und ein echter strategischer Nachteil im Digitalzeitalter ist die in Deutschland gepflegte Distanz zwischen Politik und Wirtschaft. Viele Unternehmen waren lange stolz darauf, in der sozialen Marktwirtschaft Abstand von der Regierung zu halten. Im analogen Zeitalter hatte dies große Vorteile, weil die starken mittelständischen Unternehmen in aller Ruhe und Breite ihre Innovationskraft ausleben konnten. In der EU galt zudem Frankreich als abschreckendes Beispiel dafür, wie ein starker staatlicher Einfluss eher zur Abschottung von Märkten und sinkender Wettbewerbsfähigkeit führen kann.

Zwei Dinge haben sich jedoch geändert: Zum einen führt das digitale Zeitalter ohnehin zu einer stärkeren Vernetzung aller Bereiche, egal ob privat oder öffentlich. Zum anderen sind schnellere Entscheidungen als im analogen Zeitalter notwendig. Doch in Deutschland mussten wechselnde Regierungen sogar den Widerstand der Firmen brechen, Cyberattacken zumindest zu melden. Ausgerechnet dem stolzen deutschen Mittelstand attestieren mehrere Studien eine erschreckende Unkenntnis, wie schnell technologische IT-Rückständigkeit seine Geschäftsmodelle ruinieren könnte. Dabei impliziert die stärkere Vernetzung über das Internet, dass mangelhafte Sicherheitsstandards bei einzelnen Firmen zu einer Gefahr für die gesamte Volkswirtschaft werden können. Denn Hackerangriffe auf Bereiche der so genannten kritischen Infrastruktur wie der Energieversorgung häufen sich. Auch als Juncker, Merkel und Frankreichs Staatspräsident François Hollande am 1. Juni mit Vertretern großer europäischer Konzerne über die Folgen der Digitalisierung sprachen, waren Gesprächsteilnehmer ernüchtert über die fehlende Weitsicht der Manager, die meist aus der klassischen Industrie kamen.

In der EU-Politik wiederum kann man sich nicht zu einer rechtlichen Regelung durchringen, mit der sich europäische Firmen gegen die amerikanischen Riesen behaupten könnten. Dazu müssten Regelungen wie das Safe-Harbor-Abkommen mit den USA so modifiziert werden, dass Daten europäischer Internetnutzer nicht mehr automatisch in die USA übertragen und dort gewinnbringend analysiert werden – nach amerikanischen, nicht aber nach strengeren europäischen Datenschutzstandards. Dabei sieht Acatech-Präsident Kagermann es als echten Wettbewerbsvorteil für Europa, wenn in der gesamten EU straffere Datenschutzregelungen für alle Nutzer durchgesetzt würden – und bessere Datensicherheit würden auch amerikanische Kunden schätzen.

Amerika und China zeigen, wie es geht

Wie die Zusammenarbeit zwischen Staat und privaten Firmen funktionieren kann, zeigen die USA und China, allerdings mit jeweils anderen Vorzeichen: Amerikanische Präsidenten setzen sich seit Jahren regelmäßig mit den Spitzen der großen IT-Konzerne zusammen – auch um nationale strategische Fragen zu besprechen. Das schließt zwar gelegentliche Konflikte wie jenen um die Datensammelwut des US-Geheimdiensts NSA nicht aus. Aber Firmen und Staat ziehen schon wegen der wachsenden Zahl von Cyberattacken von außen an einem Strang. Und jede US-Regierung hat ein genuines Interesse, dass die modernsten und tonangebenden IT-Firmen der Welt im Land der Supermacht sitzen – dementsprechend fördert man ihren Aufstieg. Wie dies funktioniert, zeigt ein einfaches Beispiel: Sieben amerikanische Ministerien haben zunächst bei Amazon rechnen lassen, um dem Unternehmen eine Basis für den Aufbau seiner riesigen Rechenzentren zu ermöglichen.

Im kommunistischen China gibt der Staat mit der Strategie „China 2025“ selbst technologische Ziele für ganze Industriezweige vor. Das kann sicher kein Vorbild für freie Marktwirtschaften sein. Aber der Aufstieg des Landes ist so rasant und erfolgreich, dass dringend analysiert werden müsste, ob man nicht zumindest von einzelnen Elementen lernen kann. „Ein Vorteil ist sicher, dass die chinesische Regierung eine langfristige Sicht hat: Nach einer Grundsatzentscheidung sorgt sie Stück für Stück dafür, dass die Rahmenbedingungen für die gewünschte wirtschaftliche Entwicklung stimmen“, sagt MERICS-Experte Björn Conrad. Peking ist schlau genug, in jedem Bereich gleich mehrere Firmen gegeneinander um die technologische Führerschaft ringen zu lassen, um Wettbewerb innerhalb eines geschützten Wirtschaftsraums zu fördern.

Jüngstes Schlachtfeld ist die Entwicklung neuer Standards für die Verschmelzung von IT-Technologie mit klassischen Produktionsprozessen. Amerikanische IT-Konzerne treiben über das Industrial Internet Consortium (IIC) die Zusammenarbeit mit klassischen Industrieunternehmen voran; man ist weltweit auf der Suche nach Partnern und hat auch schon deutsche Mitglieder.

Es müsste also im strategischen Interesse Deutschlands als einem Mutterland der Indus­trieproduktion und unterentwickelter Software-Basis liegen, ebenfalls und schneller einen Standard zu entwickeln, der eine Übernahme durch die IT-Giganten verhindert und auf eine von den klassischen Unternehmen gesteuerte Integration von IT-Elementen setzt. Aber die Arbeit der 2013 gegründeten Verbändeplattform „Industrie 4.0“ aus dem IT-Verband Bitkom, dem Zentralverband Elektrotechnik- und Elektronikindustrie (ZVEI) und dem Verband Deutscher Maschinen- und Anlagenbau (VDMA) wurde selbst von Teilnehmern als wenig effektiv beschrieben. „Die deutsche Wirtschaft bewegt sich weiter im analogen Tempo des untergehenden industriellen Zeitalters“, spottete ein Teilnehmer.

Die Firmen wiederum klagen, dass die Regierung bei der Digitalen Agenda in einem der klassischen Zuständigkeitsstreits zwischen Wirtschafts-, Verkehrs-, Forschungs- und Innenministerium stecke. Dabei müsse die Politik schleunigst für schnelle Internetverbindungen in Deutschland sorgen – die seien nämlich Voraussetzung für die digitale Zukunft des Landes. Weil beide Seiten unzufrieden mit dem Reformtempo sind, fiel auf dem IT-Gipfel im Oktober 2014 in Hamburg dann zumindest die Entscheidung, dass das Wirtschaftsministerium nun die schwerfällige Verbändeplattform „Industrie 4.0“ koordinieren soll.

Sechster strategischer Nachteil ist die schlechtere Verfügbarkeit von Kapital: China finanziert seine technologische Aufholjagd an die Weltspitze mit riesigen Handelsüberschüssen und Devisenreserven. Die USA verfügen über das größte Finanzsystem. Das führt zusammen mit dem riesigen nationalen Markt dazu, dass IT-Giganten wie Apple, Microsoft, Google, Amazon oder Facebook eine Marktkapitalisierung erreichen, die ihnen eigentlich unbegrenzte Übernahmemöglichkeiten und enorme Forschungsetats erlaubt. Zudem gibt es in beiden Ländern sehr klare Ansichten darüber, welche Firmen mit strategischen Technologien auf keinen Fall in ausländische Hände fallen sollen. In Deutschland dagegen gehört schon heute die Mehrheit der Dax-Konzerne ausländischen Besitzern. Und die Außenwirtschaftsphilosophie ist so liberal, dass die Düsseldorfer Firma Secusmart, die das Sicherheitskonzept für das „Kanzlerinnen-Handy“ gegen Spionage entwickelt hatte, ohne Probleme in eines der Länder der „Five eyes“ (USA, Kanada, Großbritannien, Australien, Neuseeland) verkauft werden konnte, die ihre Geheimdiensterkenntnisse sehr eng miteinander austauschen.

Zwar kann sich Deutschland dank seiner guten Finanzlage erlauben, Start-ups stärker zu fördern. Es gibt einen wahren Gründungsboom. Aber selbst hier zeigt sich, wie schwer es ist, einen einmal erreichten Vorsprung der Konkurrenten aufzuholen. Denn zu den Hauptförderern der jungen Firmen gehören ausgerechnet Google oder Microsoft: Sobald Start-ups interessante Neuentwicklungen gelingen, werden sie meist von großen amerikanischen IT-Häusern geschluckt – zuletzt die Firma 6Wunderkinder durch Microsoft. In Deutschland kommt zur Aversion gegen staatliche Verkaufsverbote, dass viel weniger Risikokapital zur Verfügung steht und die Aktienkultur so unterentwickelt ist, dass deutsche Unternehmen selten über wirklich große Kapitaldecken verfügen. Mittlerweile ist Deutschland als eines der größten Industrieländer der Welt dabei, die letzten Banken mit halbwegs globaler Ausrichtung zu verlieren.

Am Ende warten die Chinesen

Aufgeben will man aber noch nicht. Deutsche Telekom-Chef Timotheus Höttges setzt in Fortsetzung des Bildes von der verlorenen ersten Halbzeit nun auf eine Aufholjagd in der zweiten. Und Acatech-Präsident Henning Kagermann hat mit Industrie 4.0 tatsächlich einen Begriff geprägt, der das Bewusstsein für die tiefgreifende Änderung stärker ins Bewusstsein der Öffentlichkeit und der Wirtschaft gebracht hat. Auch die Industrie ist natürlich nicht untätig, weil sie sich neue Geschäftsmodelle verspricht – notfalls im Ausland. Firmen wie Siemens, Bosch oder Kuka setzen in Fabrikhallen Computer und Roboter ein, die selbst an den Produktionsbändern bauen, Ersatzteile und Material bestellen oder eigenständig auf drohende Materialabnutzung hinweisen. Siemens gründete im vergangenen Oktober eine eigene Einheit „Digitale Fabrik“.

Bundeskanzlerin Merkel und Wirtschaftsminister Gabriel fördern dies durch demonstrative Aufmerksamkeit für diese Firmen – übrigens noch aus einem anderen Grund. Denn mit dem Zusammenwachsen der Weltmärkte und dem Tempo der Digitalisierung ist klar, dass technologischer Rückstand noch schneller als früher bedeuten kann, dass Produktion eingestellt werden muss und Jobs massiv verloren gehen. „Wenn wir es ... geschickt machen und die Chancen der Digitalisierung nutzen, dann haben wir alle Chancen, am Ende mehr Arbeitsplätze zu haben und nicht weniger“, machte die Kanzlerin am 18. Oktober 2014 in ihrer wöchentlichen Videobotschaft Mut. Im Umkehrschluss heißt das aber: Wenn wir es nicht geschickt anstellen, dann kann es einen Kahlschlag in der deutschen Industrielandschaft geben. Acatech-Chef Kagermann sieht das ebenfalls so: „Die Zeit läuft, wir müssen in den zweiten oder dritten Gang hochschalten.“

Nur entsteht aus Einzelinitiativen und Mahnungen noch kein Gesamt­ansatz, der Deutschland und Europa künftig wieder eine zumindest teilweise strategische Unabhängigkeit sichern hilft. Dazu bräuchte man ein gemeinsames Vorgehen aller Akteure – und eine andere Mentalität. Denn Experten warnen, dass sich auf diesem Feld eine altbekannte Entwicklung wiederholt: Die dem Konzept Industrie 4.0 zugrunde liegenden Ideen sind gut, nur sind andere mit der Umsetzung schneller. „Wir haben bei unseren Untersuchungen festgestellt, dass chinesische Medien den Begriff Industrie 4.0 mittlerweile viel häufiger verwenden als deutsche“, meint MERICS-Experte Conrad.

Und Bitkom-Chef Dieter Kempf erzählte vor geraumer Zeit von seinem Treffen mit dem chinesischen Wirtschaftsminister. Dieser habe eingeräumt, dass die Volksrepublik China derzeit noch auf der Entwicklungs­stufe Industrie 2.0 stehe. Der Minister habe dann aber hinzugefügt: „In China werden wir Industrie 3.0 überspringen. Wir machen gleich 4.0 oder … 5.0.“

Dr. Andreas Rinke ist politischer Chefkorrespondent der Nachrichtenagentur Reuters in Berlin.
 

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 4, Juli/August 2015, S. 8-20

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