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01. Sep 2002

Ein Jahr danach

Vier Reaktionen auf den 11. September

Die internationale Übereinstimmung hinsichtlich der Reaktion auf den 11. September 2001 existiert nicht mehr: Die USA scheinen durch das Unglück stärker geworden zu sein. Europa hat seine Sicherheits- und Verteidigungspolitik nicht an die neuen Gegebenheiten angepasst und ist amerikakritischer geworden. Russland hat einen Schwenk zum Westen vorgenommen. Für China ist das zunehmende Engagement der USA in „seiner Einflusszone“ besonders unangenehm.

Die Lektionen des 11. Septembers sind in der ganzen Welt kommentiert worden, und es besteht eine große Übereinstimmung über die grundlegenden Elemente, über die Privatisierung der Gewalt, über die Bedrohung, die sie für alle Nationen darstellt, oder über die zunehmende Schwierigkeit, zwischen den äußeren und inneren Aspekten der Sicherheit zu unterscheiden. Doch im Einzelnen fallen die Analysen in den verschiedenen Hauptstädten nicht so harmonisch aus. Jenseits der allgemeinen Unterstützung, die Amerika angeboten wurde, hat es bereits im Augenblick der Ereignisse nicht an Hintergedanken gemangelt. Ein Jahr danach lässt der Vergleich der Einschätzungen des Ereignisses die Unterschiede noch deutlicher werden.

Amerikas Militarisierung

Mit der ihm eigenen Dynamik hat Amerika nach der Tragödie schnell wieder Tritt gefasst. Der 11. September hat zahlreichen älteren Tendenzen neuen Schwung verliehen; er hat die Vereinigten Staaten auch dazu gebracht, sich zu reformieren. Einige der Lehren, die daraus gezogen worden sind, seien hier genannt:

Seit dem 11. September genießt der Schutz des amerikanischen Bodens Vorrang in der Verteidigungspolitik in Washington, was einer kleinen Revolution gleichkommt. Gewiss hatte die Raketenabwehr, die in ihrer strategischen Version genau das Bestreben hatte, das Territorium der Vereinigten Staaten zu verteidigen, schon vor den Ereignissen Schlagzeilen gemacht.

Doch der Angriff kam viel früher als vorgesehen, und er ist aus dem Innern gekommen, wobei er mehr Opfer gefordert hat als seinerzeit der Angriff auf Pearl Harbor. Er hat dadurch die Vorstellung bestärkt, dass das amerikanische Territorium bedroht ist, dass von nun an die Bürger der Vereinigten Staaten auf ihrem eigenen Boden getroffen werden können und dass gewisse Feinde Amerikas ihm gegenüber einen grenzenlosen Hass hegen. Neben der Bestätigung des Programms der Nationalen Raketenabwehr (NMD) wurde seit dem 8. Oktober ein umfangreiches Programm zur Verteidigung des Territoriums in die Tat umgesetzt, ausgestattet mit bedeutenden Finanzmitteln (37 Milliarden Dollar im Jahr 2003), unter der Leitung von Tom Ridge, der direkt dem Präsidenten der Vereinigten Staaten untersteht.

Der Ruf nach Unterstützung durch alle Nationen für einen weltweiten Kampf gegen den Terrorismus hatte anfangs die Hoffnung geweckt, dass Amerika das Interesse an Verbündeten, Bündnissen und an der internationalen Zusammenarbeit wieder entdecken würde. Doch der rasch erzielte Sieg, mit dem die Taliban in etwas mehr als einem Monat aus Kabul vertrieben wurden, ist von den amerikanischen Streitkräften und ihren lokalen Verbündeten errungen worden ohne eine bedeutsame Beteiligung irgendeines anderen Landes.1 Für das Pentagon hat sich die Kriegführung „ohne Ausschüsse“2 ausgezahlt und die Entscheidung für eine entschiedene Verteidigung der Handlungsfreiheit der Vereinigten Staaten bekräftigt.

Bereits als Präsidentschaftskandidat hatte George W. Bush vorgeschlagen, den Verteidigungshaushalt noch stärker zu erhöhen; der Krieg gegen den Terrorismus hat diesem Vorhaben eine außerordentliche Dynamik verliehen. Als der neue Präsident sein Amt antrat, betrugen der Haushalt des Pentagons und der für Kernwaffen bestimmte Teil des Haushalts des Energieministeriums 300 Milliarden Dollar. Im Jahr 2002 beträgt er 350 Milliarden, und 2003 wird er auf 396 Milliarden gestiegen sein. Was die Planung für 2007 angeht, so beträgt sie 470 Milliarden, d.h. 15 mal so viel wie der gesamte britische Verteidigungshaushalt. Zwischen den USA und dem Rest der Welt klafft keine „Lücke“, sondern ein Abgrund.

Zum gleichen Zeitpunkt, als die Militärschläge in Afghanistan begannen, erlebten die Vereinigten Staaten eine zweite, besonders heftige Attentatswelle. Mit Milzbrandsporen vergiftete Briefe, die nicht mehr als 10 g dieses Pulvers enthielten, töteten fünf Personen, verletzten zwölf, lähmten den Kongress während mehrerer Monate3 und versetzten Millionen von Amerikanern in Angst und Schrecken. Die finanziellen Schäden werden auf mehrere Milliarden Dollar geschätzt. Diese Anschläge, deren Urheber auch nach einem Jahr noch immer unbekannt sind, haben die bis dahin recht vage Drohung des Bioterrorismus in eine erschreckende Wahrscheinlichkeit verwandelt. Die Mittel, die dagegen aufgewendet werden, sind deshalb ebenfalls bedeutend erhöht worden.4

Es musste erst eine Krise kommen, um CIA und FBI reformieren zu können. Das Fehlen von Koordination und die Beurteilungsfehler der zentralen Instanzen erfahren jetzt durch die Journalisten und Abgeordneten eine schonungslose Analyse. Am 6. Juni 2002 hat Präsident Bush die Schaffung einer neuen Behörde angekündigt, die den Auftrag hat, die von FBI und CIA gesammelten Informationen über terroristische Anschläge im Innern der Vereinigten Staaten zu analysieren. Dabei handelt es sich um die wichtigste Reorganisation der Bundesbürokratie in den vergangenen 50 Jahren.5

Die Anschläge vom September 2001 waren wichtig für die Beantwortung einer wesentlichen Frage: Wer sind die wirklichen Verbündeten der USA? Europa hat gezeigt, dass es unmittelbar an der amerikanischen Trauer teilnahm und seine Solidarität auf vielfache Weise unter Beweis gestellt. In anderen Weltgegenden ist die Bilanz bitterer. Am Golf wurde über Monate hinweg die saudische Verwicklung in die Anschläge immer deutlicher.6 Ohne Reformen wird dieses Land eines Tages unter dem Druck einer Jugend ohne Perspektive explodieren. Die Anschläge haben Washington auch bewogen, unerlässliche taktische Bündnisse einzugehen: Pakistan ist dafür das beste Beispiel. Und schließlich haben sie eine Periode von Ad-hoc-Bündnissen eingeleitet, die fortgesetzt werden dürften.

Europas Konservatismus

Europa, der Hauptverbündete der Vereinigten Staaten, hat das Trauma des 11. Septembers 2001 geteilt. Ein Jahr danach sind die Meinungsunterschiede zu den Vereinigten Staaten überdeutlich, doch hat sich in zentralen Punkten auch ein transatlantischer Austausch entwickelt.

Auf den Gebieten der Aufklärung, der Polizei, der Überwachung von Finanzströmen und der Justiz ist die Zusammenarbeit zwischen Europa und den USA wichtiger und vor allem weniger unausgewogen als auf militärischem Gebiet. Es liegt auf der Hand, warum diese Zusammenarbeit wenig sichtbar ist, doch der Austausch mit den Vereinigten Staaten, der oft bilateraler Natur ist, findet häufig statt und nützt beiden Seiten.

Die Briten haben unmittelbar und öffentlich eine Entscheidung getroffen: vom ersten Tag der Feindseligkeiten an haben sie sich am Angriff auf die Stellungen der Taliban beteiligt. Sie waren in den Bergen von Tora Bora im Dezember 2001 dabei wie auch bei der Operation „Anakonda“ im März 2002. Weniger bekannt ist die Anwesenheit mehrerer hundert Soldaten der deutschen Spezialkräfte, weil Berlin beschlossen hat, davon kein Aufhebens zu machen. Was Frankreich angeht, so hat es dort zwischen dem 15. Dezember 2001 und dem 20. Juni 2002 etwa 5000 Soldaten eingesetzt.7

Die europäische Integration hat in Schlüsselbereichen Fortschritte gemacht. Der Krieg gegen den Terrorismus hat die Vernetzung der Justiz- und der Polizeisysteme beschleunigt. Die spektakulärste Maßnahme war die Verabschiedung eines Europäischen Haftbefehls, der im Januar 2003 in Kraft treten soll, doch auch in verwandten Bereichen hat die Zusammenarbeit Fortschritte gemacht. Die am weitesten klaffenden Lücken in der Gesetzgebung der europäischen Länder waren ebenfalls Gegenstand von Reformen, ob es sich um die Überprüfung der Bedingungen für Visaerteilung und Aufenthalt von Ausländern oder die Begrenzung der Vereinsfreiheit für „religiöse“ Organisationen handelt.

Die neuen Formen des Terrorismus sind nirgends offen erörtert worden. Der Kontrast zwischen der Wirklichkeit der terroristischen Präsenz in Europa, der Überzeugung der Fachleute, wonach Anschläge auf europäischem Boden vorbereitet werden,8 und dem schwachen Bewusstsein der öffentlichen Meinung in Europa ist beeindruckend. Die Regierungen, die zu einem großen Teil für diesen Zustand verantwortlich sind, haben keine öffentliche Auseinandersetzung über die neuen Dimensionen der Sicherheit beginnen wollen, selbst in Frankreich und in Deutschland nicht, wo Wahlen stattfanden oder stattfinden werden. Während Amerika dazu neigt, die Bedrohungen zu übertreiben, scheinen die Europäer alles zu tun, um sie nicht zur Kenntnis nehmen zu müssen. Viele sind der Meinung, dass es erst einer Katastrophe bedarf, damit Europa aufwacht. Dann wird die Öffentlichkeit die Frage stellen, was unternommen wurde, um sie vorzubereiten und zu informieren.

Die Ziele der europäischen Verteidigung sind nicht geändert worden. Man hätte eine europäische Auseinandersetzung über die Ziele von Petersberg und die in Helsinki vereinbarten Ziele für 2003 erwarten können, denn diese laufen Gefahr, angemessener auf die Bedürfnisse der neunziger Jahre auf dem Balkan zu antworten als auf die, die zu Beginn des 21. Jahrhunderts auftreten. Die europäischen Länder können ihre Interventionen nicht mehr nur auf ihre Peripherie begrenzen und können sich nicht mehr damit zufrieden geben, Einsätze zur Friedenswahrung vorzubereiten, die als einzige unumstritten sind. Die europäische Verteidigung hat nach dem 11. September keinerlei Anpassung erfahren und kommt viel langsamer voran, als es die Bedrohung tut.

Die Kluft zu den USA wird tiefer, sowohl psychologisch wie strategisch. Die Vereinigten Staaten entdecken ihre Verwundbarkeit zu einem Zeitpunkt, an dem Europa von Bedrohungen nichts mehr hören will. Ein anderer psychologischer Faktor ist der große Unterschied, der die USA in der Frage der Souveränität und der Handlungsfreiheit von Europa trennt. Washington besteht mehr und mehr auf diesen beiden Themen zu einem Zeitpunkt, an dem die europäischen Länder sich wie nie zuvor ihrer Interdependenz und ihrer Souveränitätsverzichte bewusst sind. Auf strategischer Ebene schließlich sind die USA mehr denn je eine Weltmacht, und Europa ist eine Regionalmacht.

Die Erweiterung der EU wird in den kommenden zehn Jahren den wesentlichen Teil der politischen und wirtschaftlichen Energie der europäischen Länder beanspruchen. Im Jahr 2004 oder 2005 werden zweifellos zehn Kandidatenländer der EU beitreten. Bulgarien und Rumänien werden einige Jahre später folgen, dann die Balkan-Länder und schließlich die Türkei. Deshalb muss man eine Union mit über 30 Mitgliedern vorbereiten, die die jetzt schon recht komplizierten Entscheidungsverfahren wie auch die finanziellen Vereinbarungen (Gemeinsame Agrarpolitik und Strukturfonds) durcheinander bringen wird. Die Erweiterung des Territoriums der Union sollte einhergehen mit einer Erweiterung ihrer strategischen Vision, doch diese Entwicklung vollzieht sich noch langsam.

Ein Jahr nach dem 11. September hört man in Europa amerikakritische Stimmen statt Sympathiebekundungen. Das geringe Eingehen auf die Hilfsangebote der europäischen Hauptstädte, die katastrophale Auseinandersetzung über die Genfer Konventionen, die Rede vom Januar 2002 vor dem Kongress über die „Achse des Bösen“, die neue amerikanische Nukleardoktrin – dies alles hat dazu beigetragen, die Europäer zu entfremden. Europa seinerseits hat das Ausmaß seiner weltweiten Verantwortung noch nicht erkannt und verstärkt dadurch den amerikanischen Unilateralismus, den es kritisiert.

Russlands geschickte Hand

Präsident Wladimir Putin hat die Ereignisse vom 11. September sofort als eine günstige Gelegenheit begriffen, die man nicht verpassen darf. Er soll nicht nur der Erste gewesen sein, der Bush telefonisch seiner Unterstützung versichert hat, sondern vor allem der Erste, der verstanden hatte, welches Kapital aus diesen Ereignissen geschlagen werden konnte.

Am 18. September erklärte Moskau seine Bereitschaft, sich an einer antiterroristischen Front unter der Schirmherrschaft der Vereinten Nationen zu beteiligen, und schloss nicht aus, dass die Amerikaner russische Stützpunkte nutzen könnten. Die Rede des russischen Präsidenten vom 24. September kündigte die Zusammenarbeit der Geheimdienste an, die Öffnung des russischen Luftraums für humanitäre Einsätze wie die Duldung Russlands, dass zentralasiatische Länder Stützpunkte zur Verfügung stellten. Dieser Schwenk zum Westen wird von der NATO bekräftigt, die im Mai 2002 in Rom ein neues Abkommen mit Russland unterzeichnete: von nun an können für die Fragen, die nicht unter Artikel 5 des Washingtoner Vertrags fallen (Weiterverbreitung, Terrorismus, Einsätze zur Friedenswahrung), Beschlüsse zu 20 in einem neuen Rat getroffen werden.

Die Vorteile sind nicht auf den ersten Blick erkennbar: der Rückzug der Vereinigten Staaten vom ABM-Vertrag wird im November 2001 in Crawford bestätigt und im Dezember verkündet, die Programme zur Forschung und Entwicklung von Raketenabwehrsystemen sind keiner Begrenzung unterworfen, die neue Erweiterung der NATO, bis hin zu den baltischen Staaten, wird ebenfalls bestätigt und dürfte im November 2002 in Prag bekannt gegeben werden. Und schließlich verpflichtet sich Washington nicht zur Zerstörung von Nuklearsprengköpfen, die gemäß der strategischen Vereinbarung vom 24. Mai 2002 außer Dienst gestellt werden.

Es gibt jedoch wirkliche Vorteile: Tschetschenien wird mehr und mehr als eine interne Angelegenheit Russlands behandelt,9 von den Amerikanern wird eine Pufferzone an der südlichen Flanke Russlands eingerichtet, die russische Wirtschaft wird als eine Marktwirtschaft anerkannt, was es Russland erlaubt, Vollmitglied der G-8 zu werden. Russland hofft darüber hinaus, dass die Entwicklung der Beziehungen zwischen Washington und Saudi-Arabien die Vereinigten Staaten dazu bringen wird, sich mehr für das russische Erdöl zu interessieren. Schließlich wird es die am 24. Mai in Washington geschlossene strategische Vereinbarung Moskau, das sich vom Start-II-Abkommen zurückzieht, gestatten, mehrere nukleare Gefechtsköpfe auf einigen seiner Boden-Boden-Raketen zu belassen oder sie dort wieder anzubringen.

Die prinzipielle Meinungsverschiedenheit, die zwischen den Vereinigten Staaten und Russland nach wie vor besteht, ist die Zusammenarbeit Moskaus mit Staaten, die Verbindungen zum Terrorismus haben oder die Massenvernichtungswaffen entwickeln, ganz besonders mit Iran.10 Putin hat nicht die Absicht, diese Beziehungen abzubrechen, wahrscheinlich mehr aus kommerziellen als aus strategischen Gründen. Der russische Präsident will auch keinesfalls als eine bloße Figur im amerikanischen Spiel erscheinen und möchte so viel Manövrierfreiheit wie möglich bewahren. Was Irak angeht, so würde Russland einer Militäraktion gegen Saddam Hussein keine großen Hindernisse in den Weg legen, wenn Washington garantieren könnte, dass die von den gegenwärtigen Machthabern versprochenen Anteile am Erdöl bei einem Regimewechsel beibehalten werden.

Auch in Bezug auf Europa sind die Spannungsherde nicht verschwunden: Russland verlangt beispielsweise Korridore für die Bewohner von Kaliningrad, die nach dem Beitritt Polens und Litauens in die EU noch isolierter von Moskaus sein werden, als dies schon heute der Fall ist. Moskau verlangt freien Durchgangsverkehr zwischen Kaliningrad und Russland und lehnt die Forderung der EU nach einem Transitvisum zur Kontrolle dieses Verkehrs ab. Für die Europäer besteht das Problem in der Sicherheit der Außengrenzen der Union.

Die Partnerschaft mit China ist keine mögliche Alternative zur Entscheidung für den Westen, sondern nur eine taktische Annäherung, die nicht zu vernachlässigende kommerzielle Aspekte, aber keinerlei strategische Dimension haben kann. Während Präsident Jiang Zemin sich bemüht hatte, Putin von der Rolle der UN zu überzeugen, hat der russische Präsident Beijing nicht über seine Politik der Annäherung an Washington informiert. Doch er verkauft weiter Waffen an China, darunter U-Boote.

Chinas Furcht

China ist das Land, für das der 11. September die unangenehmsten strategischen Folgen haben könnte, weil sich die Vereinigten Staaten zunehmend in Asien engagieren. Die amerikanische Intervention hat in einem Raum stattgefunden, den China als eine seiner Einflusszonen ansieht,11 und Beijing hat in den vergangenen Jahren viel in die Schanghai-Gruppe investiert, die sich jetzt zur Bedeutungslosigkeit verurteilt sieht.12 Noch schlimmer ist, dass die Mitglieder dieser Gruppe bereit waren, mit den Vereinigten Staaten zusammenzuarbeiten, ohne China zu konsultieren. Auch Pakistan, ein alter Verbündeter Chinas, ist plötzlich mit den USA verbündet.13

Diese Militärintervention ist mit der Zustimmung Moskaus geschehen, das Beijing als strategischen Partner gewinnen wollte, und mit dem es im Juli 2001 einen Freundschaftsvertrag auf 25 Jahre unterzeichnet hatte. In Südostasien, wo es zahlreiche chinesische Interessen gibt, machen die Vereinigten Staaten Fortschritte, und ihre Anwesenheit auf den Philippinen verstärkt sich zunehmend. Das Vorrücken der amerikanischen Streitkräfte wird von Beijing meist als eine Verstärkung der „amerikanischen Hegemonie“ gesehen, ja als der Willen der Vereinigten Staaten, China einzukreisen.

Die chinesische Politik der Nichteinmischung ist ein weiteres Opfer des Konflikts. Sie scheint dauerhaft beschädigt zu sein, und dies zu einem Zeitpunkt und unter Bedingungen, wo es schwierig, ja unmöglich ist, dagegen zu protestieren. Überdies wird die chinesische Militärstrategie, die auf der unterstellten „moralischen Unfähigkeit“ der westlichen Länder beruht, eine Militäroperation zu beginnen, bei der ernsthafte Risiken für Verluste an Menschenleben bestehen, gegenwärtig in Frage gestellt. Die Vereinigten Staaten haben seit September 2001 erklärt, dass sie zu Opfern bereit seien und dass sie den Kampf bis zum Ende führen würden – eine Formulierung, die angesichts des Wesens des Terrorismus so verstanden werden konnte, dass dieser Krieg kein Ende haben werde.

Während Moskau aus dem antiterroristischen Feldzug im Hinblick auf Tschetschenien Nutzen gezogen hat, sind die Bemühungen Beijings, dasselbe Resultat gegenüber Taiwan zu erreichen, schließlich gescheitert. Die Idee, dass China und die USA ein „gemeinsames Interesse“ hätten, „die Aktivisten für eine Unabhängigkeit Taiwans“ zu bekämpfen, ist außerhalb Chinas von niemandem geteilt worden. Dagegen hat Japan von der Krise profitiert, indem es einen weiteren Schritt auf dem Weg zur Emanzipation gemacht hat.

Um alles noch zu verschlimmern, hat der Krieg gegen den Terrorismus den Rücktritt der USA vom ABM-Vertrag nicht in Frage gestellt, denen es darüber hinaus noch gelungen ist, im Mai 2002 ein Abkommen mit Moskau zu unterzeichnen. Dieses Abkommen gibt beiden Ländern völlige Freiheit bei der Strukturierung ihrer Nuklearstreitkräfte und gestattet es den Vereinigten Staaten, eine beträchtliche strategische Reserve zu behalten, die jeden Rüstungswettlauf definitiv unmöglich macht. Schließlich hat die NATO ohne Zögern einen Einsatz außerhalb Europas unterstützt, und die Erweiterung der NATO wird mit der Zustimmung Moskaus geschehen. Beijing fürchtet diese Erweiterung und noch mehr eine Einigung zwischen NATO und Russland.

Der Handlungsspielraum Beijings ist somit kleiner geworden. Man muss die Zerbrechlichkeit der Beziehungen zu Russland sehen, das China instrumentalisiert, das vor allem aber gute Beziehungen zu den westlichen Ländern braucht. Umgekehrt wird es für Beijing viel schwieriger sein, die Weiterführung seines Dialogs mit Washington zu instrumentalisieren, denn das Niveau der amerikanischen Toleranz ist auf diesem Gebiet spürbar gesunken. Schließlich macht der Krieg gegen den Terrorismus einmal mehr die Unfähigkeit Chinas deutlich, die Rolle eines globalen Akteurs zu spielen. Beijing interessiert sich weiterhin nur dafür, was die chinesischen Interessen direkt berührt; aus dieser Sicht ist es keine Großmacht.

Ein Jahr nach dem 11. September scheint das Unglück die Vereinigten Staaten nur stärker gemacht zu haben, doch in einer Zeit asymmetrischer Auseinandersetzungen könnte die Verwundbarkeit der einzigen Weltmacht erneut durch Angriffe bestätigt werden. Europa hat es versäumt, die Gelegenheit, die sich ihm bot, entschlossen zu nutzen, um sich auf der internationalen Szene als einer der Hauptakteure zu präsentieren. Russland dagegen hat den größten Nutzen aus einer schwierigen Situation gezogen, in der es kaum Trümpfe besaß. Für China schließlich führt die aktuelle Lage – anders als noch während der Präsidentschaft von Bill Clinton – zu einer realistischeren Einschätzung seines internationalen Status.

Anmerkungen

1  Der Beginn der Feindseligkeiten war am 7. Oktober, der Einmarsch in Kabul am 13. November.

2  Anders als im Kosovo-Krieg. Diese Sicht der Militäreinsätze in Kosovo ist übrigens falsch, denn die Ziele wurden nie anders als bilateral ausgehandelt.

3  Die Wiederaufnahme der Arbeiten im Kongress geschah rasch, doch die Post war monatelang blockiert, und ein Teil der Post aus den Monaten Oktober und November hat ihre Empfänger erst im Mai 2002 erreicht.

4  Der Haushalt für die Zivilverteidigung gegen Biowaffen im Jahr 2003 beträgt 4,3 Milliarden Dollar.

5  Heute haben mehr als 100 Einrichtungen der Bundesregierung der Vereinigten Staaten verschiedene Kompetenzen auf dem Gebiet der Territorialverteidigung.

6  80 Prozent der Gefangenen auf Guantánamo sollen saudischen Ursprungs sein.

7  Vom 15. Dezember 2001 bis zum 20. Juni 2002 hat eine französische Flugzeugträgergruppe Luftraumüberwachung über Afghanistan sowie Seeüberwachung entlang der pakistanischen Küsten durchgeführt. Seit März 2002 gehören zur französischen Präsenz auch sechs Mirages 2000.

8  Auf einem Treffen in London am 19. Juni 2002 sind die Verantwortlichen für die europäische Sicherheit zu dem Schluss gekommen, dass die Hauptfrage, die man beantworten müsse, nicht lautete, „ob“ ein Anschlag in Europa stattfinden würde, sondern „wo“ und „wann“.

9  Die Verbindung zwischen dem Krieg gegen den Terrorismus und Tschetschenien wurde bereits im September hergestellt, als Putin den Guerillakämpfern ein Ultimatum von 72 Stunden stellte, während er seine Beteiligung an den Operationen gegen Al Khaïda und die Taliban ankündigte.

10 Seltsamerweise war die Zusammenarbeit der USA mit der Sowjetunion bei der Nichtweiterverbreitung besser als die der USA mit Russland. Der wichtigste Zankapfel hierbei ist Iran.

11 Die Beziehungen zwischen China und der Taliban-Regierung waren ganz und gar nicht gespannt: es gab nur wenige uigurische Kämpfer in Afghanistan, und Mullah Omar hatte im Jahr 2000 den chinesischen Botschafter empfangen. Es gab Kooperationsabkommen zwischen den beiden Staaten, und neue Abkommen waren kurze Zeit vor dem Anschlag angekündigt worden.

12 Zur Schanghai-Gruppe gehören China, Russland, Kasachstan, Kirgistan, Tadschikistan und Usbekistan.

13 Angeblich haben chinesische Unternehmen in Pakistan die Aufforderung erhalten, ihre Tätigkeit einzustellen, ihre Büros zu schließen und chinesische Mitarbeiter nach China zurückzuschicken.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 9, September 2002, S. 39 - 46.

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