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01. Sep 2013

Ein Gewinn für den Westen

Eine transatlantische Handelspartnerschaft besäße Modellcharakter

Es geht nicht „nur“ um den Abbau von Handelshemmnissen oder um dringend benötigte Wachstumsimpulse für Europa und die USA. Eine Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft hat auch eine geopolitische Dimension: Ein Abkommen wäre ein unübersehbares Signal für die Vitalität und Gestaltungskraft des Westens.

Europa und Amerika wollen es noch einmal wissen: Könnte es nicht doch gelingen, sich auf eine Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft (TTIP) zu verständigen? Die ökonomischen Vorteile für beide Seiten sind offensichtlich und kaum zu bestreiten: günstigere Preise für Verbraucher, bessere Geschäftschancen für Unternehmer, neue Arbeitsplätze auf beiden Seiten des Atlantiks. Gründe genug also für den amerikanischen Präsidenten, den Kongress, die EU-Kommission, das Europaparlament, die Bundesregierung und den deutschen Bundestag, das Thema neu aufzurufen und Verhandlungen zum Erfolg zu führen.

Was steht auf dem Spiel?

Zum einen geht es ganz klassisch um Zollabbau – dies ist die leichteste Übung. Im Durchschnitt liegen die Zölle zwischen den USA und der EU nur noch bei ca. 3 Prozent; wegen des gewaltigen Handelsvolumens ergäben sich gleichwohl auf beiden Seiten jährliche Vorteile in zweistelliger Milliardenhöhe. Noch wichtiger sind zum anderen die weitere Liberalisierung und der Schutz der gegenseitigen ­Auslandsinvestitionen, die heute den Kern der Wirtschaftsbeziehungen zwischen der EU und den USA ausmachen: Weit über die Hälfte aller amerikanischen Auslandsinvestitionen geht in die EU, und zwei Drittel aller ausländischen Direktinvestitionen in den USA stammen aus Europa. Zum Vergleich: Die EU investiert in den USA achtmal so viel wie in China und Indien zusammen.

Am wichtigsten – und schwierigsten – wird aber die Angleichung, gegenseitige Anerkennung oder gemeinsame Neuentwicklung von Standards, Normen und technischen wie rechtlichen Regulierungen. Solche nichttarifären Handelshemmnisse treiben derzeit – je nach Sparte – die Kosten um 10 bis 20 Prozent in die Höhe. Brauchen wir wirklich zwei unterschiedliche Standards für Airbags? Bei neuen Technologien geht es zudem nicht nur um Kostenvorteile, sondern auch um zukünftige Marktchancen: Wer die Standards setzt, hat in der Regel die Nase vorn. Dies gilt bei der Elektromobilität ebenso wie bei der Nanotechnologie, bei Sicherheitsstandards oder Bezeichnungsvorschriften.

Natürlich melden sich auch Skeptiker zu Wort: vor allem Verbraucherschützer, Gesundheitspolitiker, Landwirte, Umweltschützer und Kulturschaffende – von den Befürwortern einer Festung Europa einmal ganz abgesehen. Die Rede ist wieder vom Chlorhühnchen, desgleichen vom genmanipulierten Mais und hormonbehandeltem Rindfleisch. Es geht hier nicht nur um handfeste Interessen, sondern auch um ernst zu nehmende Ängste und kulturelle Unterschiede, die man nicht einfach bei­seite schieben kann und darf. Sollten deswegen alle diese sensiblen Bereiche aus dem Verhandlungspaket herausgenommen werden?

Unterschiedliche Philosophien

In einem Punkt ist dies schon geschehen: Frankreich hat auf europäischer Ebene durchgesetzt, dass die nationale Kulturförderung außen vor bleibt und deutsche Kulturpolitiker haben Gleiches gefordert. Bei dieser einen Ausnahme sollte es bleiben. Weitere Bereiche von den Verhandlungen grundsätzlich auszunehmen, wäre kontraproduktiv. Nur wenn über die ganze Bandbreite der Themen verhandelt wird, lässt sich auf beiden Seiten des Atlantiks das Momentum für ein breit angelegtes Abkommen erzeugen. Dies trifft auch auf vier ganz besonders schwierige Bereiche zu: den Datenschutz, den Konsumentenschutz, den Umweltschutz sowie das Thema Energie. Hier prallen zum Teil sehr unterschiedliche Philosophien und Sichtweisen aufeinander.

Beim Konsumentenschutz stehen sich bei gleichem Ziel der Verbrauchersicherheit zwei sehr unterschiedliche Philosophien des Vorgehens gegenüber: Während die EU mit dem Vorsorgeprinzip auch potenzielle Gesundheitsbedrohungen in den Blick nimmt, beschränken sich die USA auf eine wissenschaftlich beweisbare Risikoabschätzung. Hierüber wird zu sprechen sein, aber nicht als Vorbedingung und auch nicht als eines der ­ersten Verhandlungsthemen. Es gibt niedriger hängende Früchte.

Umweltschutz hängt sehr oft mit der Weite des Landes zusammen; je mehr ungenutzte Fläche zur Verfügung steht, desto entspannter sehen große Teile der Bevölkerung den Schutz der Umwelt. Das so genannte Fracking bei der Förderung von Schiefergas und -öl ist nur ein Beispiel von vielen. Während in den USA in den meisten Fällen das Argument der Energiesicherheit zu einem niedrigen Preis die Oberhand behalten wird, dürfte sich in vielen Ländern der EU – jedenfalls in Deutschland – die Sorge um die Bewahrung der Umwelt durchsetzen.

Dies führt dazu, dass die USA und Deutschland beim Thema Energie im Begriff sind, ganz unterschiedliche Wege einzuschlagen. Schiefergas als relativ billige Brückentechnologie wird in den USA in den nächsten 30 Jahren eine ungleich größere Rolle spielen als in den meisten Ländern der EU; umgekehrt werden erneuer­bare Energien sich in den USA später durchsetzen. Diese unterschiedlichen Ansätze müssen miteinander kompatibel gemacht werden.

Größte Schwierigkeiten bereitet – angesichts der jüngsten Debatten rund um NSA und Prism – das Thema Datenschutz. Vor allem in Deutschland wird darüber mit Leidenschaft diskutiert; dabei geht es unter anderem
•    um das Ausspionieren von EU-Vertretungen, für die es keine Begründung geben kann; dieses Problem muss umgehend ausgeräumt werden;
•    um den Umfang des Datensammelns durch amerikanische Dienste und um das Abgreifen von Milliarden von Telefon- und Internetdaten von Bürgern Deutschlands und anderer Staaten;
•    um die Haltung der US-Regierung, die dieses mit Zustimmung des Kongresses auf den Weg gebrachte Ausspähprogramm aus Sicherheitsgründen für unverzichtbar hält und weiter betreiben will;
•    um die Einbindung der deutschen Bundesregierung und der deutschen Dienste in dieses Programm.

Die Debatte, die bei uns heftig und mit zum Teil deutlich amerikakritischem Unterton geführt wird, dreht sich um Grundsatzfragen über die Wertigkeit von Freiheit und Sicherheit, bei denen es auf beiden Seiten des Atlantiks Unterschiede, aber eben auch Gemeinsamkeiten gibt. Zu erinnern ist dabei vor allem an eine Grundeinsicht des Staatsrechts, dass es die unverzichtbare Aufgabe von Staaten ist, für die Sicherheit ihrer Bürger nach innen und außen zu sorgen. In den USA ist die Priorität dieser Aufgabe nach 9/11 auch in der Bevölkerung mehrheitlich akzeptiert. In Deutschland überwiegen, mit Blick auf die Erfahrungen mit zwei Diktaturen, Besorgnisse vor umfassender Bespitzelung.

Muss man deshalb an der trans­atlantischen Wertegemeinschaft zweifeln? Nicht, wenn man über die Reichweite geheimdienstlicher Aktivitäten miteinander redet und dabei den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachtet (was ist wirklich notwendig und verhältnismäßig und was nicht?). Genau dies sollte jetzt geschehen; es könnte – wenn es gelänge, die rechtlichen und sachlichen Fragen zu klären – durchaus zu einer Stärkung der transatlantischen Partnerschaft beitragen. Diese Chance gilt es zu nutzen, und zwar bilateral oder eben im Rahmen von TTIP.

Erfolgsprojekt für USA und EU

Denn: Trotz all dieser Unterschiede und ernst zu nehmenden Vorbehalte stehen die Chancen für ein Transatlantisches Handels- und Investitionsabkommen dieses Mal besser als je zuvor. Dies hat vor allem drei Gründe: einen inneramerikanischen, einen europäischen und einen geostrategischen.

Der inneramerikanische Grund fällt sofort ins Auge: Präsident Barack Obama hat sich in seiner diesjährigen Rede zur Lage der Nation entschlossen und mit der ganzen Autorität seines Amtes hinter das Projekt gestellt – was sein Vorgänger immer vermieden hatte. Konsequent hat er seinen engsten Wirtschaftsberater, Michael Froman, zum Chefunterhändler ernannt. Sicherlich spielt auch eine Rolle, dass eine Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft eines der ganz wenigen seiner Vorhaben ist, das auch bei den Republikanern viel Zustimmung findet. Deswegen stehen die Aussichten für eine Erneuerung der „Trade Promotion Authority“ für den Präsidenten durch den Kongress nicht schlecht. Allen ist bewusst, dass die gewünschte Stärkung der Exportwirtschaft und der Industriegüterproduktion nur mit noch mehr europäischen Direktinvestitionen zu erreichen sein wird. Die Zahlen sprechen diesbezüglich eine deutliche Sprache. Und Obama braucht diesen Erfolg.

Ein neues Erfolgsprojekt braucht auch die EU. In der derzeitigen Krise sind die großen Erfolge der Vergangenheit verblasst. So wie Jacques Delors seinerzeit mit dem Vorhaben eines europäischen Binnenmarkts eine Aufbruchstimmung erzeugte, so könnte eine Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft neuen Schwung, eine neue gemeinsame Anstrengung für das Projekt EU bringen – vielleicht noch wichtiger als die Wachstumsimpulse. Hinzu kommt, dass eine solche transatlantische Partnerschaft auch den Zusammenhalt in der EU stärken würde. Wenn TTIP gelingt, wird kein Mitgliedsland mehr daran denken, aus der EU auszuscheiden. Die politischen und wirtschaftlichen Kosten wären zu hoch, auch für ein starkes Land wie Großbritannien.
Das wichtigste Argument für eine Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft ist aber das geostrategische. Europa und Amerika wissen, dass sich die strategischen Gewichte auf globaler Ebene verschieben: demografisch, wirtschaftlich und politisch. Nur noch 13 Prozent der Weltbevölkerung leben in Amerika und Europa, gegen Ende des Jahrhunderts werden es vielleicht nur noch 7 Prozent sein. Der Anteil der BRIC-Staaten an der Weltwirtschaftsleistung wächst ebenso wie ihr Selbstbewusstsein. In manchen Teilen der Welt herrscht – unseres Erachtens zu Unrecht – die Perzeption vor, der Westen befinde sich im Niedergang. Diese weit verbreitete Wahrnehmung steht in einem bemerkenswerten Kontrast zu der Tatsache, dass das „politische Erwachen“ (Zbigniew Brzezinski) großer Bevölkerungsschichten überall in der Welt die Sehnsucht nach Werten stärkt, bei denen der Westen einiges vorzuweisen hat: Gerechtigkeit, Menschenwürde, soziale Gerechtigkeit, Transparenz und Partizipation. Das sind die Werte der Aufklärung, die Europa und Amerika verbinden.

Abkommen mit Modellcharakter

Ein Transatlantisches Handels- und Investitionsabkommen wäre ein unübersehbares politisches Signal für die Vitalität und Gestaltungskraft des Westens. Natürlich muss und wird die Sicherheitspartnerschaft in der NATO Bestand haben, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die atlantische Gemeinschaft zusammengehalten hat; sie bleibt für beide Seiten unverzichtbar. Aber seit der Zeitenwende 1989/91 ändert sich allmählich die Wertigkeit des Militärischen. Über Anziehungskraft verfügt, wer die Normen, Standards und Regelungen setzt. Deswegen muss die westliche Sicherheitspartnerschaft durch eine zweite Säule, eine Handels- und Investitionspartnerschaft, ergänzt werden. Ein solches Abkommen hätte Modellcharakter weit über die jetzt beteiligten Länder hinaus und könnte eine Sogwirkung auch für andere Regionen entfalten.
Voraussetzung dafür ist, dass es ein offenes Regelwerk wird, dem sich auch andere Staaten anschließen könnten, wenn sie bereit sind, sich die hohen transatlantischen Standards zu eigen zu machen. Vorbild ist hier das EU-US-Telekommunikationsabkommen, das genau dieses erreicht hat. Wenn es außerdem gelänge, generöse Ursprungsregeln zugunsten von Zulieferen aus Drittländern zu vereinbaren, würde dies die Attraktivität für Andere weiter erhöhen.

Eine Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft wäre ein Gewinn für die EU, für die USA, für den Westen und für alle, denen westliche Werte am Herzen liegen. Also: Go TTIP, go!

Hans-Ulrich Klose war viele Jahre stv. Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses des Deutschen Bundestags und Vorsitzender der Deutsch-Amerikanischen-Parlamentariergruppe.
Dr. Klaus Scharioth ist der Rektor des -Mercator Kollegs für internationale Aufgaben. Von 2006 bis 2011 war er deutscher Botschafter in Washington.
 

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 5, September/Oktober 2013, S. 64-68

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