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28. Juni 2006

Eher Startschuss als Ziellinie

Das WTO-Abkommen von Genf

Nach dem Scheitern der Doha-Runde in Cancún im September 2003 rettete die Einigung der
WTO-Mitglieder in Genf den Fortbestand der Runde. Doch das Rahmenabkommen ist nur der
Anfang eines arbeitsintensiven Prozesses. Das Problemkind Agrarpolitik zeigt, wie schwierig sich
der Anpassungsprozess zwischen Nord und Süd gestaltet.

Ende Juli 2004 einigten sich die 147 WTO-Mitglieder nach einem fünftägigen Verhandlungsmarathon in Genf auf ein Rahmenabkommen für die Doha-Runde. Dieses Abkommen kam erst im zweiten Anlauf zustande, da eine Einigung in Cancún im September 2003 am Widerstand zahlreicher Entwicklungs- und Schwellenländer gescheitert war.

Trotz anders lautender Prognosen waren vor allem die großen Handelspartner ndash; EU und USA – nach Cancún sehr aktiv, den Fortbestand der Runde zu sichern. Der Durchbruch gelang, als die EU im Mai 2004 zum ersten Mal vorschlug, alle Exportsubventionen im Agrarbereich abzuschaffen.

Bereits vor den eigentlichen Verhandlungen in Genf hatte sich eine Fünfergruppe – bestehend aus der EU, den USA, Australien sowie Brasilien und Indien als Anführer der Gruppe der 20 Entwicklungsländer (G-20) – gebildet; die G-20 war kurz vor der Ministerkonferenz in Cancún als Reaktion auf den Agrarkompromiss zwischen der EU und den USA entstanden. Die Zusammensetzung dieser Fünfergruppe schaffte eine geeignete Grundlage, um eine Einigung in Genf zu ermöglichen.

Das in Genf verabschiedete Rahmenabkommen behandelt die Bereiche Landwirtschaft, Industrieprodukte (NAMA: Non-agricultural Market Access), Dienstleistungen, Handelserleichterungen (Abbau der Zollbürokratie) und Entwicklungsangelegenheiten. Obwohl Agrarprodukte im Jahr 2003 nur 7,5% der globalen Exporte ausmachten, stand die Landwirtschaft erneut im Zentrum der Verhandlungen. Erst als nach zähen Gesprächen eine Einigung im Agrarbereich zustande kam, war es möglich, auch über Industrieprodukte und Dienstleistungen zu verhandeln, die vor allem der EU und den USA am Herzen liegen.

Landwirtschaft

Als wichtigstes Ergebnis von Genf verpflichten sich die Industrieländer, ihre umstrittenen Exportsubventionen (EU) und Exportkredite (USA) sowie die handelsverzerrenden Exportpraktiken von staatlichen Handelsunternehmen zu einem bestimmten Zeitpunkt vollständig abzuschaffen. Bei der amerikanischen Nahrungsmittelhilfe soll in Zukunft darauf geachtet werden, dass sie nicht für kommerzielle Zwecke missbraucht wird. Das europäische Angebot der Abschaffung der Exportsubventionen in der Landwirtschaft, die rund drei Milliarden Euro jährlich ausmachen, war zunächst von Frankreich vehement abgelehnt worden. EU-Handelskommissar Pascal Lamy und anderen EU-Staaten gelang es jedoch, Frankreich von dem Kompromiss zu überzeugen, nicht zuletzt deswegen, weil die zu erwartenden Übergangsfristen voraussichtlich sehr lang sein werden.

Auch die handelsverzerrenden internen Unterstützungsmaßnahmen („Amber Box“) sollen erheblich gesenkt werden; bereits im ersten Jahr der Durchführung des Abkommens sollen Kürzungen in Höhe von 20% vorgenommen werden. Um Umschichtungen zu vermeiden, wurde gleichzeitig festgelegt, dass die weniger handelsverzerrenden „Blue Box“-Hilfen nicht mehr als 5% der gesamten Agrarproduktion ausmachen dürfen. Die so genannte „Green Box“ mit unbedenklichen Beihilfen, z.B. für den Umweltschutz, bleibt hingegen unangetastet. Letzteres kommt vor allem der EU zugute, die sich durch die Reform der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) bereits Spielräume bei den internen Stützungsmaßnahmen geschaffen hat. Durch die beschlossene Entkoppelung der Beihilfen von der Produktion fallen diese in die nicht zu kürzende „Green Box“.

Auch der Außenschutz soll drastisch gekürzt werden: nach der Devise, je höher der Zoll, desto höher die Kürzung. Die EU konnte sich jedoch mit ihrer Forderung durchsetzen, in Zukunft „sensible Produkte“ von dieser Regel auszunehmen, wie z.B. Rindfleisch, Milch, Hartweizen und Reis. Auf Druck der Entwicklungsländer wurden diese Ausnahmen jedoch bislang noch nicht im Abkommen festgeschrieben.

Insgesamt sollen alle Entwicklungsländer von speziellen Vorzugsbehandlungen profitieren, d.h. sie erhalten längere Umsetzungsfristen und müssen geringe Zölle und Subventionskürzungen vornehmen. Die am wenigsten entwickelten Länder (LDCs) müssen sogar keinerlei Verpflichtungen bei Zollsenkungen und Unterstützungszahlungen eingehen. Ihnen soll zusätzlich ein zoll- und quotenfreier Marktzugang gewährt werden.

Baumwolle

Amerikanische Baumwollsubventionen waren eines der strittigsten Themen von Cancún. Sie wurden dort zum ersten Mal von vier westafrikanischen Staaten – Mali, Burkina Faso, Tschad und Benin – auf die Tagesordnung gebracht und entwickelten sich zu einem großen Hindernis für die weiteren Verhandlungen. In Genf zeigten sich die USA bereit, über Baumwollsubventionen zu verhandeln. Sie setzten sich aber mit ihrer Forderung durch, das Thema im Rahmen der Agrarverhandlungen zu belassen. Das Abkommen betont jedoch die besondere Bedeutung des Sektors, der „ambitioniert und schnell“ behandelt werden soll.

Industrieprodukte/Dienstleistungen

Das Abkommen sieht für sämtliche Industrieprodukte Zollsenkungen vor, wobei höhere Zollsätze am stärksten gekürzt werden sollen. Zusätzlich wurde vereinbart, die Zölle bei bestimmten Industriesektoren, die vor allem für Entwicklungsländer von Interesse sind, drastischer zu senken bzw. ganz abzuschaffen. Aufgrund des Widerstands einer Gruppe von Entwicklungsländern sind jedoch noch weitere Verhandlungen notwendig, um die genaue Ausgestaltung der Zollsenkungsformel festzulegen. Auch im Industriegüterbereich gibt es spezielle Ausnahmen für Entwicklungsländer. Die LDCs sind erneut vollständig von den Verpflichtungen ausgenommen, müssen jedoch ihre bestehenden Zölle transparenter darlegen.

Bezüglich der Dienstleistungen, die mittlerweile die Hälfte bis zwei Drittel der Wirtschaft von Industrie- und Entwicklungsländern ausmachen, wurde im Rahmenabkommen festgelegt, dass bis Mai 2005 verbesserte Angebote auf den Tisch gelegt werden sollten.

Handelserleichterungen

Trotz einigem Widerstand der Entwicklungsländer wurde in Genf der Beginn der Verhandlungen über den Abbau der Zollbürokratie beschlossen, die in einigen Ländern bis zu 5% des Importwerts ausmachen kann. Die EU hatte sich bereit erklärt, die restlichen drei Singapur-Themen (Wettbewerb, Investitionen und Transparenz im öffentlichen Auftragswesen) fallen zu lassen.

Entwicklungsangelegenheiten

Das Abkommen von Genf sieht zusätzlich vor, für alle Bereiche die Ausnahmeregelungen für Entwicklungsländer („Special and Differential Treatment“) zu verstärken.

Bewertung

EU-Handelskommissar Lamy bewertete das Abkommen als „wichtigen Schritt vorwärts“, der amerikanische Handelsbeauftragte Robert Zoellick sprach von einem „Meilenstein“, und WTO-Generaldirektor Supachai Panitchpakdi bezeichnete das Ergebnis sogar als „historisch“ für die WTO. Doch sind diese euphorischen Bewertungen gerechtfertigt? Wohl kaum. Das wichtigste Signal aus Genf ist der Abschluss des Abkommens selbst: Die Pattsituation von Cancún konnte überwunden werden und die Richtlinien stehen nun fest. Ohne diese politisch wichtige Einigung wäre wohl die gesamte Entwicklungsrunde gescheitert und das multilaterale Handelssystem in eine schwere Krise gestürzt worden. Es hätte die Gefahr bestanden, dass viele Länder verstärkt auf diskriminierende bilaterale und regionale Handelsabkommen zurückgegriffen hätten.

Diese Furcht vor einem endgültigen Scheitern der Runde war auch der Grund für das große politische Engagement der Handelspartner, diesem Abkommen zu einem Durchbruch zu verhelfen. Nicht zuletzt wollten Lamy und Zoellick einen Erfolg aufweisen, bevor es im Herbst zu einem personellen Wechsel bei der EU-Kommission und möglicherweise im Amt des US-Handelsbeauftragten kommt. Brasilien sah die Verhandlungen hingegen als Möglichkeit, sich als Führungsmacht der G-20 darzustellen, und auch die afrikanischen Staaten unter der Führung von Ruanda zeigten sich kooperativ und verhandlungsbereit.

Trotz des politischen Zwischenerfolgs steht noch ein langer Verhandlungsmarathon bevor, bis die Runde erfolgreich abgeschlossen werden kann, denn die eigentlichen Auseinandersetzungen darüber, welche Produkte von den Liberalisierungen betroffen sind, wie hoch die Senkung der Zölle und Subventionen ausfallen wird und wann die Kürzungen vollzogen werden sollen (Zeitplan), stehen noch aus.

In der Landwirtschaft besteht vor allem das Problem, dass kein Termin für die Abschaffung der Exportsubventionen vereinbart wurde, dem Kernstück des Rahmenabkommens. Frankreichs Agrarminister Hervé Gaymard sprach bereits von einem Zeitfenster bis 2015 oder 2017. Und auch die Formulierung bei der Senkung von Agrarzöllen wurde aufgrund des Widerstands von Industrie- und Entwicklungsländern sehr vage gehalten.

In den Bereichen Industrieprodukte und Dienstleistungen ist das Abkommen sogar noch unkonkreter als in der Landwirtschaft. Industrieprodukte machen 75% des Welthandels und rund 70% des Handels der Entwicklungsländer aus. Trotz dieser Bedeutung wurde das Thema bei den Verhandlungen in Genf zugunsten der Landwirtschaft vernachlässigt. So blieben die Details der Zollkürzungen ungeklärt, wie auch die Frage, wie hoch die Zollsenkungen in diesem Bereich ausfallen sollen. Bei den Dienstleistungen läuft das Abkommen nur darauf hinaus, politischen Druck auf die Verhandlungen auszuüben und die Mitglieder zu ermahnen, ihre Angebote bis zum Mai 2005 nachzubessern. Der Dachverband der europäischen Industrie (Unice) forderte daher bereits deutliche Verbesserungen des Marktzugangs für Industrieprodukte und Dienstleistungen.

Als neues Zieldatum für den Abschluss der Doha-Runde wurde die sechste WTO-Ministerkonferenz in Hongkong im Dezember 2005 festgelegt. Da zahlreiche strittige Punkte auf spätere Verhandlungen vertagt wurden, ist es jedoch wahrscheinlich, dass die Runde erst 2006 oder sogar 2007 beendet werden kann. In den folgenden Verhandlungen sollte vor allem die EU vermeiden, die Abschaffung der Exportsubventionen in der Landwirtschaft zu lange hinauszuzögern. Nur auf diese Weise kann sich eine positive Verhandlungsdynamik entwickeln, die auch eine Einigung in anderen Bereichen wie Industriegütern und Dienstleistungen ermöglicht.

Ein vollständiger Abbau von Handelsbarrieren bis 2015 könnte nach Ansicht der Weltbank zu einem zusätzlichen globalen Einkommen von 2,8 Billionen Dollar führen. Der Erfolg der Entwicklungsrunde käme vor allem den ärmsten Ländern zugute. Es bleibt viel zu tun; nun muss die eigentliche Arbeit beginnen.

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 9, September 2004, S. 87‑90

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