Ein aufgeblasener Dummkopf
Julian Assange schadet der Arbeit der Diplomaten
Im 24. Buch der „Ilias“ lesen wir eine der großartigsten Szenen der Weltliteratur: Priamos, der König von Troja, besänftigt das Herz seines Feindes Achill, der seinen Sohn Hektor im Zweikampf getötet hat; er bewegt Achill dazu, ihm den Leichnam von Hektor auszuhändigen, statt ihn weiter zu schänden, damit er ihn würdig begraben kann. Wenn es nach Julian Assange ginge, dem Gründer und autokratischen Chef von WikiLeaks, wäre es nie zu dieser ergreifenden Begegnung gekommen. Warum? Weil Priamos heimlich – im Schutz der Nacht – quer durch das Heerlager der Griechen ins Zelt von Achill schlich. Julian Assange hätte das natürlich sofort im Internet gebloggt. Die Griechen hätten es auf ihren iPhones lesen können, noch während es geschah. Sie wären wie ein Mann über den armen greisen Priamos hergefallen, um ihn zu zerfleischen.
Irgendwann in grauer Vorzeit hatte ein unbekanntes Genie eine Vision. Jenes Genie träumte davon, dass jeder Staat überall in der Welt auf dem Territorium der anderen Länder winzige Enklaven unterhalten sollte. Sie würden, so stellte unser Genie sich vor, unantastbar sein. In den künstlichen Gebilden sollten Abgesandte leben, die sich gelegentlich mit den Häuptlingen oder Königen des Landes, wo sie zu Gast waren, auf ein Gelage mit Met, Bier und nackten Tänzerinnen trafen. Bei diesen Gelegenheiten sollten sie beim Rülpsen die Hand vor den Mund halten und sich überhaupt sehr manierlich betragen. Gleichzeitig sollten sie alles Wichtige, was ihnen zu Ohren kam, nach Hause berichten. Auf diese Weise, dachte das Genie in grauer Vorzeit, würde die Kriegsgefahr entschieden verringert. Konflikte könnten womöglich entschärft werden, ehe sie den Beteiligten um die Ohren flogen.
Halten wir etwas ganz Entscheidendes fest: Julian Assange hat seine WikiLeaks nicht aus Sorge um irgendeinen realen Missstand erfunden. Er hat nicht aufgedeckt, dass der amerikanische Präsident die demokratische Opposition abhören ließ; er hat nicht ans Licht gebracht, dass Diplomaten in Kriegsverbrechen verstrickt waren. Es geht diesem Mann vielmehr ums Eigentliche, ums Ganze, ums Prinzip, um die Wahrheit an und für sich. Er will jedes Geheimnis im zwischenstaatlichen Verkehr abschaffen – zumindest jedes amerikanische Geheimnis. Er will die Erfindung des unbekannten Genies aus grauer Vorzeit wieder rückgängig machen.
Zugestanden: Die gegen Assange in Schweden erhobenen Vergewaltigungsvorwürfe sind windig. Es kann gut sein, dass er mit seinen Veröffentlichungen auf WikiLeaks kein einziges Gesetz verletzt hat – darüber mögen Juristen befinden. Gleichwohl handelt es sich bei dem Kerl um das, was die Amerikaner einen „jerk“ nennen: Julian Assange ist ein aufgeblasener Dummkopf.
HANNES STEIN lebt als Korrespondent der Welt in New York.
Internationale Politik 1, Januar/Februar 2011, S. 144-145