Buchkritik

03. Jan. 2022

Die Widerstandsfähigkeit des Westens

Amerika und Europa auf der Suche nach nachhaltigem Erfolg: Neue Bücher zur westlichen Außen- und Sicherheitspolitik.

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Bild: Illustration eines Buches auf einem Seziertisch
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Die Fähigkeit zur Selbstkritik ist immer noch eine Stärke des Westens; sie liegt gleichsam in seiner demokratischen DNA. Hinzu kommt ein permanenter kritischer Dialog besonders zwischen Amerikanern und Europäern. Hier geht es dann meist nicht nur um die gemeinsame Gegenwart und Zukunft, sondern auch um die jeweils eigene, aber miteinander stark verwobene Vergangenheit. Dass der Westen jede Menge Erblasten mit sich herumschleppt, politisch, wirtschaftlich, gesellschaftlich, ist nichts Neues. An westlichen Autoren, die das beschreiben, mangelt es nicht.



Ein Autor, der wie kaum ein anderer in Deutschland für den kritischen Blick auf die Vereinigten Staaten steht, ist Bernd Greiner. Der Gründungsdirektor und Mitarbeiter des Berliner Kollegs Kalter Krieg hat sich vor allem mit Studien zur Geschichte der amerikanischen Außen- und Sicherheitspolitik international einen Namen gemacht. Nun legt er ein ernüchterndes Fazit des „amerikanischen Jahrhunderts“ vor.



Seine These: Seit 1945 hätten die Vereinigten Staaten mit Abstand die meisten Kriege geführt, wiederholt Angriffskriege vom Zaun gebrochen und das Völkerrecht mit Füßen getreten. Unzählige Menschen hätten dabei ihr Leben gelassen, Gesellschaften seien traumatisiert und Staaten ruiniert worden, weil die USA ihren Anspruch auf Ordnung der Welt hätten durchsetzen wollen. Amerika gebe noch heute das meiste Geld für Rüstung aus und unterhalte weltweit mehr Militärstützpunkte als alle anderen Staaten zusammen. Und es sei einsamer Spitzenreiter beim Sturz missliebiger, auch demokratisch gewählter Regierungen. Kurz: Keine andere Nation sei seit dem Zweiten Weltkrieg derart rabiat aufgetreten.



Ob das so zutrifft, darüber tobt seit Jahrzehnten eine internationale Debatte. Doch was folgt bei Greiner daraus? Er selbst bezeichnet seine Schlussfolgerung als „streitbar“: Ohne die USA sei eine neue Weltordnung nicht zu haben, aber „unter ihrer Führung schon gar nicht“. Und nun? Auf eine Selbstkorrektur der Vereinigten Staaten zu hoffen, hält Greiner für illusorisch. „America First“ sei nicht die Marotte eines Einzelnen, sondern die „außenpolitische Partitur“ aller Präsidenten bis zum heutigen Tag – Unterschiede in Stil und Rhetorik sollten nicht darüber hinwegtäuschen.



Daher macht sich Greiner in seinem Nachwort „Gedanken zu einer Unabhängigkeitserklärung“ – vom bisherigen Denken und Handeln. Er ruft zum Nachdenken über die Zivilisierung von Konflikten auf. Mit Bezug auf Willy Brandt, Olof Palme und Bruno Kreisky erinnert er an eine Antwort von „zeitloser Attraktivität“: Sicherheit sei nicht mehr gegen-, sondern nur noch miteinander zu erreichen. Es verlören alle zusammen, wenn sie nicht gemeinsam gewinnen wollten.



Naiv ist Greiner nicht: Auch er hält es für „zweifellos richtig“, dass Russland in den vergangenen Jahren seine „finsteren Seiten“ hervorgekehrt habe und China wie ein „Raufbold“ auftrete. Aber: Daraus folgt für ihn kein Einwand. Vielmehr unterstreiche es die Notwendigkeit einer Politik der gemeinsamen Sicherheit.



Stimmen aus Afghanistan

Wie sieht man das in Afghanistan? Diese Frage mag auf den ersten Blick verwundern. Für gewöhnlich wird über die Ausrichtung westlicher Außen- und Sicherheitspolitik aus der Perspektive der Hauptstädte Amerikas und Europas berichtet.

Emran Ferozs Blickwinkel ist ein anderer. Der österreichische Journalist mit Fokus auf Nahost und Zentralasien schildert in seinem Buch über Afghanistan einen Westen auf dem Rückzug. Als es im Sommer erschien, war Kabul noch nicht wieder an die Taliban gefallen. Für einen Blick auf das Handeln des Westens aus seiner Peripherie ist das Buch aber weiterhin ein Gewinn.



Feroz versammelt Stimmen aus Afghanistan, die ganz unterschiedlich klingen, je nachdem, ob man die Menschen in der Stadt oder auf dem Land fragt. Jedenfalls sollten sie einem im Ohr bleiben, wenn man über die künftige Ausrichtung westlicher Außen- und Sicherheitspolitik nachdenkt. „Früher waren wir aufgrund eines kleinen Streites traurig und zerbrachen uns deshalb tagelang den Kopf. Heute sterben jeden Tag Menschen und es interessiert niemanden“, habe ihm eine Frau aus Kabul vor einigen Jahren erzählt. Sie habe in Nostalgie geschwelgt und sich an ihre Schulzeit in den 1970er Jahren im friedvollen Kabul erinnert.



Spätestens seit der sowjetischen Niederlage in ­Afghanistan wird das Land als „Friedhof der Supermächte“ bezeichnet. Diese Einschätzung teilt auch Feroz. Aber bei ihm ist das mit einer Beobachtung verknüpft, die der westliche Blickwinkel oft vermissen lässt: In erster Linie hätten die Supermächte Afghanistan zum Friedhof der Afghanen gemacht. Auch all die für den Westen namenlosen getöteten Zivilisten stünden für die Niederlage der USA und ihrer Verbündeten.



Hat der Westen dieses Desaster wirklich nicht kommen sehen? Nicht nur in Europa, sondern auch in Amerika gab es warnende Stimmen – selbst im Repräsentantenhaus und bereits unter dem Eindruck des 11. September 2001. Dort stimmte die Demokratin Barbara Lee zwar als einzige, aber dafür umso weitsichtiger gegen den Kriegseinsatz. Feroz ruft ihre Begründung in Erinnerung: „Ich will nicht erleben, dass diese Spirale außer Kontrolle gerät. Falls wir voreilig zurückschlagen, besteht die große Gefahr, dass Frauen, Kinder und andere Nichtkombattanten ins Kreuzfeuer geraten.“ Und wie viele andere später warnte sie von Beginn an vor einem Krieg „mit offenem Ende“ und „ohne Exit-Strategie“.



Zeit des Zweifels

Nicht allein 9/11 und Afghanistan waren im Westen Gegenstand der Diskussionen, die Hannelore Veit und Peter Fritz unter der Überschrift „Zeit des Zweifels“ subsummieren. Die beiden ORF-Journalisten mit langjähriger Erfahrung als ­Korrespondenten in Washington blicken auf den Zustand der transatlantischen Beziehungen. Neben Themen wie Terrorismus, Flüchtlingsbewegungen, Immigration, Polarisierung, China, Corona-Pandemie und Klimakrise behandeln sie ein politisches Feld, das derzeit im Schatten der öffentlichen Aufmerksamkeit in Deutschland steht: die Kriegführung der Zukunft.



So weisen Veit und Fritz darauf hin, dass die russischen und chinesischen Pläne für ein Aufrüsten im Weltraum früher oder später mit denen des Westens in Konflikt geraten dürften. Nach Angaben von Frankreichs Militär habe sich bereits 2017 ein russischer Spionagesatellit einem französischen Militärsatelliten verdächtig stark angenähert – auch weitere Vorfälle soll es gegeben haben. Die Reaktion in Paris: Auch Frankreich wird seine Militärsatelliten mit La­serwaffen und Geräten ausrüsten, die Funksignale gezielt so stören können, dass Satelliten des Gegners blind und unerreichbar für ihre Bodenstationen werden.



Während auch in Deutschland, Italien und natürlich den Vereinigten Staaten Vorbereitungen auf künftige Konfliktszenarien im All laufen, hat im irdischen Luftraum der Krieg mit Drohnen seit Herbst 2020 seine nächste Entwicklungsstufe erreicht: Im kurzen, aber intensiven militärischen Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan um Berg-Karabach wurde zum ersten Mal in größerem Maßstab demonstriert, welch entscheidende Rolle bewaffnete Drohnen auch in einem klassischen Krieg zwischen zwei Staaten spielen können. In nur wenigen Tagen waren Armeniens Truppen geschlagen, ihre Panzerverbände besiegt.



Wie soll der Westen mit dieser Herausforderung umgehen? Während infolge des armenisch-aserbaidschanischen Krieges ein regelrechter Rüstungswettlauf in der noch recht jungen Waffen­gattung der Drohnen entbrannt ist, soll ihre Bewaffnung bei der Bundeswehr in Deutschland erst im Laufe der neuen Legislaturperiode ermöglicht werden, um Soldaten im Auslandseinsatz zu unterstützen. Veit und Fritz vermuten, in Frankreich würde man die Debatte, ob es ethisch zu verantworten sei, dass Drohnen Waffen tragen, als typische „querelle d’Allemands“ abtun, als Streit unter Deutschen, die viel schärfer als die Franzosen ums Grundsätzliche zu ringen pflegten.



Letzter Aufruf

Grundsätzlich wird es auch bei Daniela Schwarzer. Die Leiterin der Open Society Foundations in Europa und Eurasien, Mitglied im Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik und Sonderberaterin des Außenbeauftragten der Europäischen Union, Josep Borrell, ruft Europa zu nichts weniger als zum „Final Call“. In ihren Augen steht Europa vor einem „Make-it-or-break-it-Moment“ – so stark sind in ihrer Wahrnehmung die inneren Fliehkräfte, so groß der äußere Druck.



Was Schwarzer von vielen Analysten der europäischen Misere positiv abhebt, ist der Anreiz, den sie den Entscheidungsträgern und Bürgern Europas mit auf den Weg gibt. Sie schlägt vor, diese sollten sich ab und zu vorstellen, wie die Dinge aussähen, wenn alles gut sei auf ihrem Kontinent: Sie hätten eine Gemeinschaft, die ihre ökologische Transformation nicht nur als Erste entschieden begonnen, sondern auch mit Bravour gemeistert habe. Keine gesellschaftliche Gruppierung habe übermäßig mit der Umstellung zu kämpfen. Eine solche EU kooperiere mit anderen Staaten und Regionen im Rahmen ihrer eigenen Klimatransformation, auch dank der Vorreiterrolle einer innovativen und flexiblen europäischen Wirtschaft. Eine solche EU gehe entschieden dabei voran, die Welt vor der absoluten Klima­katastrophe zu retten.



Und weiter: Die EU habe technologisch aufgeholt und die Digitalisierung gemeinsam mit den USA so reguliert, dass diese im Dienste der Demokratie stehe und sie nicht untergrabe. Die europäischen Gesellschaften hätten sich parallel verändert. Das betreffe das Konsumverhalten, Lebensgewohnheiten, Flexibilität, Innovationskraft und lebenslanges Lernen, eine neue Wertschätzung von Nachhaltigkeit und eine Anerkennung der Tatsache, dass die EU als Wertegemeinschaft wichtig und schützenswert sei.



Daniela Schwarzer hat eine Gemeinschaft vor Augen, in der die Bevölkerung im Grunde zufrieden ist, da ihr auch nach Jahrzehnten immer noch Frieden, Stabilität und individuelle Freiheit garantiert werden. Sie wünscht den Europäern die dazu passenden Politikerinnen und Politiker, die nicht nur „gerne und ehrlich“ immer wieder auf diese Garantien hinweisen, sondern gleichzeitig kritikfähig sind.



Denn sie weiß aus langjähriger Erfahrung, dass ein System wie die EU stetig angepasst und weiterentwickelt werden muss. Aber: Dies solle in einer idealen Europäischen Union nicht als Schwäche gesehen werden, sondern als „angemessen weitsichtig“. Zu Recht fragt sie, welcher Staat, welche Gemeinschaft von Staaten schon ohne Wandel so lange überlebt habe.



Sicherheitsnetz gegen Krisen

Um das Überleben geht es auch bei Markus Brunnermeier. Der aktuelle Gewinner des Deutschen Wirtschaftsbuchpreises ist einer der weltweit renommiertesten Makroökonomen. In Deutschland vor allem mit seinen Studien zum Streit zwischen den unterschiedlichen Wirtschaftskulturen der Euroländer und damit zum Kern der ökonomischen Probleme Europas bekannt geworden, hat sich der Direktor des Bendheim Center for Finance in Princeton nun der Frage gewidmet, wie eine Gesellschaft nach der Corona-Krise mehr Resilienz aufbauen kann – im zweiten, im Westen weitgehend selbstverschuldeten Corona-Winter eine überaus lohnende Lektüre.



Brunnermeier geht es aber nicht nur um das richtige Management dieser Krise. Er leitet aus ihr ab, was immer stärker zählen wird: die Fähigkeit nicht nur jedes Einzelnen, sondern auch ganzer Gesellschaften, nach Krisen „zurückzufedern“, nach einem Schlag wieder aufzustehen – ob nach weiteren Pandemien, nach Cyberangriffen oder nach künftig denkbaren Attacken durch von Einzelpersonen selbst geschaffene Bio­hacking-Tools.



Dabei ist für Brunnermeier eine resiliente Fiskal-, Geld- und Klimapolitik elementare Grundlage, um auf kommende Herausforderungen vorbereitet zu sein. In diesem Sinne fordert der Ökonom ein Sicherheitsnetz aus Puffern, Redundanzen und Schutzzonen. Damit der Westen widerstandsfähig wird, allen Erb­lasten zum Trotz.



Dr. Thomas Speckmann ist Historiker, Politikwissenschaftler und Lehrbeauftragter am Historischen Institut der Universität Potsdam.



Bernd Greiner: Made in Washington. Was die USA seit 1945 in der Welt angerichtet haben. München: C. H. Beck 2021. 288 Seiten, 16,95 Euro



Emran Feroz: Der längste Krieg. 20 Jahre War on Terror. Frankfurt am Main: West­end 2021. 223 Seiten, 18,00 Euro

Peter Fritz und Hannelore Veit: Zeit des Zweifels. Die USA und Europa 20 Jahre nach 9/11. Wien: Kremayr & Scheriau 2021. 190 Seiten, 24,00 Euro

Daniela Schwarzer: Final Call. Wie Europa sich zwischen China und den USA behaupten kann. Frankfurt am Main: Campus 2021. 210 Seiten, 22,95 Euro

Markus K. Brunnermeier: Die resiliente Gesellschaft. Wie wir künftige Krisen besser meistern können. Berlin:

Aufbau 2021. 336 Seiten, 24,00 Euro

 

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 1, Januar/Februar 2022, S. 124-127

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