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01. Juni 2005

Die Stunde des Trüffelschweins

Werkstatt Deutschland

Deutschland könnte ein wenig Charisma in der Politik als Antidepressivum gut gebrauchen

Deutschland im Frühsommer 2005. Das ist im Grunde ein Land mit der nachgerade klassischen Voraussetzung für die charismatische Versuchung. Große politische Charismatiker brauchen bekanntlich ihren historischen Ort. Nationen, die mit sich und ihrer politisch-ökonomischen Entwicklung in harmonischer Übereinstimmung leben, benötigen keine Charismatiker. Deren Stunde schlägt allein in Zeiten der Depression, der kollektiven Ratlosigkeit, der Paralyse oder auch der aufgewühlten innergesellschaftlichen Polarisierung. Das ist die Bühne für den Auftritt der kühnen politischen Propheten mit ihren ambitionierten Gesellschaftsprojekten. Wenn die inspirationslosen Generalsekretäre des Klein-Klein ratlos auf der Stelle treten, wenn Bürokratien lediglich hilflos verwalten, dann wird der Raum frei für die bilderreichen Visionäre und wortmächtigen Tribunen der Politik. Sie brechen dann nicht selten durch ihre farbenfrohen Zukunftsporträts die depressive Stimmung und bleierne Apathie auf. Sie entfachen Leidenschaften, regen die kollektive Phantasie an, setzen langfristige Ziele.

Ein wenig von diesem charismatischen Antidepressivum könnte die deutsche Gesellschaft gegenwärtig in der Tat ganz gut gebrauchen. Die Republik liegt im quälenden Selbstzweifel. Und doch ist nirgendwo ein brillanter charismatischer Scout der Politik in Sicht. Man hat allein die Wahl zwischen den Rüttgers und Steinbrücks, den Exekutivbeamten politischer Sachzwänge also. Gewiss: Man kann darüber aus vielen guten Gründen erleichtert sein. Denn schließlich ist dem Land dadurch bislang der populistische Rattenfänger rechtsaußen erspart geblieben. Die Erfahrungen aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben den Heroenkult des von der Vorsehung auserwählten politischen Leitwolfs bei den Deutschen vernünftigerweise gehörig entzaubert. Denn besonders aufgeklärt geht es zwischen Charismatikern und ihrem Volk eher nicht zu. Oft genug agieren die Charismatiker wie säkularisierte Religionsstifter; ihre Adressaten replizieren wie hingebungssüchtige Glaubensgemeinschaften.

Zudem: Weit kommt man mit dem charismatischen Auftritt auf dem Terrain komplexer Verhandlungsdemokratien in der Regel nicht. Der angekündigte Befreiungsschlag bleibt meist aus, verheddert sich im dichten Flechtwerk der zahllosen innenpolitischen Vetomächte des föderalen Gestrüpps. Das charismatisch verkündete politische Pfingsten geht so jäh in einen ernüchternden Alltag langwieriger, wenig mitreißender Kompromissfindung über. Die Aura des Charismatikers schwindet, seine Ausstrahlung verblasst, sein Nimbus zerfällt schließlich.

Aber zuvor können Charismatiker – als Matadore einer kraftvollen Unkonventionalität – doch ein furioses Spektakel veranstalten. Vermutlich sind in der Tat nur Charismatiker mit Sendungsbewusstsein und konzeptioneller Perspektive in der Lage, wenigstens für einen historischen Abschnitt politische Leidenschaften zu entfesseln, um ermüdete Gesellschaften aus ihrer Erschlaffung zu reißen. Charismatiker sind Aktivierer. Ihnen reicht nicht die introvertierte Enge eines abgeschotteten Milieus, eines selbstgenügsam vor sich hindämmernden Ortsvereins, eines bürokratisch sedierten Sozialstaats. Allein den ideengetriebenen Charismatikern gelingt es zeitweilig, Politik mit Sinn und Schwung zu füllen, einschneidenden und irritierenden Veränderungen Richtung und Ziel zu geben.

Politiker wie Ludwig Erhard oder Willy Brandt trugen gemäßigt charismatische Züge. Als Realpolitiker an der Spitze ihrer Bonner Kabinette scheiterten sie zum Schluss zwar ziemlich kläglich, wie letztendlich fast alle Charismatiker als Regierungsführer in modernen Demokratien. Doch hatten sie zuvor mit klaren Grundsätzen und couragierten Aktionen viel riskiert, dadurch den politischen Spielraum weit über den Normalzustand hinaus erweitert und auf diese Weise Reformen möglich gemacht. Mit Grundbegriffen aus der politischen Überzeugungswelt von Brandt und Erhard können Sozial- und Christdemokraten noch im Jahr 2005 die Wurzeln und bleibenden Perspektiven ihres politischen Engagements erklären. Dagegen werden nicht so sehr viele Menschen in, sagen wir, 20 Jahren ihre politischen Leitmaximen auf die derzeit dominanten ideenlosen Pragmatiker der puren Alternativlosigkeit zurückführen.

Natürlich: Die Fest- und Aktionswochen der Charismatiker sind zeitlich eng bemessen. Sie dürfen sich auch nicht zu häufig ereignen. Die Ausstrahlung der Charismatiker lebt davon, dass man ihrer nur selten bedarf, dass sie nur in Ausnahmefällen aus den Hinterhöfen der Gesellschaft und oft genug verquerer Biographien in das Zentrum der Politik gelangen. Charismatiker in Permanenz würden Nationen nicht aushalten können. Denn sie sind keine verlässlichen Manager. In den Details der praktischen Politik richten sie häufig Unordnung an. Auf den kurzen Frühling der Charismatiker folgt daher unweigerlich ein langer Herbst der disziplinierten Organisatoren. Und das muss wohl so sein. Denn zweifellos verkörpert der politische Geschäftsführer des Gegenwärtigen den Normalzustand repräsentativer, komplexer, prosaischer, moderner Demokratien.

Aber in regelmäßigen Abständen leiden diese Demokratien doch an Inspirationsdefiziten, an Vakuen von Ethos und Elan. Dann helfen keine Pragmatiker und Administratoren. Dann helfen nur die im Alltag unpräzisen politischen Männer oder Frauen mit dem verwegenen Mut zum Anderen. Allein sie können den elementaren Kern des Politischen freilegen; jenen Drang, jenseits von strukturellen Beschränkungen eigene, ganz unorthodoxe Pfade zu beschreiten. Nochmals: Zu viel von diesem antiinstitutionellen Impetus können komplexe Demokratien nicht vertragen. Doch haben sie davon zu wenig, was gerade in ergrauenden Gesellschaften gleichsam natürlich der Fall ist, dann werden sie starr, ängstlich, verlieren an Energie und Schwung.

Indes: Im deutschen Parteiensystem ist derzeit niemand mit einer solchen charismatischen Magie zu erkennen. Aber gerade das mag das charismatische Bedürfnis demnächst noch weiter – und dann vielleicht gefährlich – erhöhen. So findet man es häufig in der Geschichte: Die Charismatiker kamen immer dann, wenn keiner sie im Kalkül hatte. Ausschließen also lässt sich nicht, dass irgendwo bei den Jüngeren in den Parteien der Prophet einer neuen Sinnperspektive, das Trüffelschwein für unkonventionelle Ideen, der emotional aufrührende Volksredner subkutan heranwachsen mag.

Allerdings muss man wohl hoffen, dass eine solche außergewöhnliche Begabung, sollte es sie tatsächlich geben, nicht ausgerechnet an den Rändern des politischen Spektrums lauert, um die müde Mitte der Republik neu aufzumischen.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 6, Juni 2005, S. 56 - 57.

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