Die Rückkehr der Geopolitik
Wann hat die Wiederkehr des in Deutschland einst verpönten Begriffs der Geopolitik in die außenpolitische Debatte begonnen? Der Zeitpunkt ist schwer zu datieren. Auf den Tag genau lässt sich dafür der Moment bestimmen, an dem Ursula von der Leyen den Anspruch formulierte, „eine wahrhaft geopolitische Kommission“ zu führen: Das war am 12.11.2019, kurz vor ihrem Antritt als EU-Kommissionspräsidentin. Seither wird die EU an dieser Ambition gemessen.
In den letzten Jahren ist die Terminologie der Geopolitik allerdings übernutzt worden. „Geopolitisch“ ist eine Art Prunkwort, das außenpolitische Reden oder Leitartikel aufwertet („Deutschland kann sich geopolitisch nicht wegducken“) und Ansprüche auf höheres Durchblickertum signalisiert („Der Newsletter über geopolitische Risiken für den deutschen Mittelstand“).
Neuerdings hat es die Geopolitik sogar unter die Ausreden für schlechte Haushaltsführung geschafft. Die Vorsitzende der Wirtschaftsweisen schlug nach dem Urteil des Verfassungsgerichts vor, eine „geopolitische Ausnahme“ für den nächsten Bundeshaushalt zu erklären (wegen der Belastung durch den Ukraine-Krieg). Ein wenig überzeugendes Argument, denn die enormen Kosten für diesen Krieg werden sicher keine Ausnahme bleiben.
Es gibt kein Zurück hinter die außenpolitische Überforderung, die etwas hilflos mit der geopolitischen Terminologie umrissen wird. Der Boom des Begriffs ist darum auch nicht auf Deutschland beschränkt. Die maßgebliche außenpolitische Publikation Frankreichs, Le Grand Continent, wird von der „groupe d’études géopolitiques“ herausgegeben. Geopolitik wird bei unserem Nachbarn, genau wie in der britischen und amerikanischen Öffentlichkeit, als wertfreie Wissenschaft betrachtet, die in einer Welt neuer Großmachtkonflikte unerlässlich ist.
Die heutige Geopolitisierung der EU hat nichts mit der diskreditierten deutschen Denkschule (von Friedrich Ratzel über Karl Haushofer bis zu Carl Schmitt) und ihrer imperialistisch-rassistischen „Lebensraum“-Ideologie zu tun. Im Gegenteil: Sie ist eine defensive Reaktion auf die raumgreifenden Aktivitäten konkurrierender Großmächte.
Geopolitik betont die politische Bedeutung des Terrains. Es geht um (natürliche) Grenzen, Infrastruktur, Ressourcen, sichere Handelswege, militärische Machtmittel. Chinas Projekt der „Neuen Seidenstraße“ verbindet alle diese Faktoren in einer großen geostrategischen Anstrengung. Dieses Projekt ist einer der Gründe für den geopolitischen Anspruch der Kommissionspräsidentin. Der andere ist Putins Angriff auf die Ukraine und damit auf die europäische Friedensordnung im Namen eines russischen Großraumdenkens.
Lange hatte die EU sich nicht als ein geopolitischer Akteur, sondern als Raum des Rechts verstanden, der qua Attraktion von den Rändern her wuchs. Dass der russische Nachbar dieses gutartige Wachstum (in Form der „Assoziierung“ der Ukraine) als geostrategischen Akt wahrnahm und es ab 2014 mit Gewalt zu stoppen versuchte, war ein tiefer Schock. Er wird nicht der letzte bleiben. Das neue Reden über Geopolitik verdankt sich der verspäteten Erkenntnis, dass die freiheitliche Welt der Regeln, Verträge und Institutionen von Voraussetzungen lebt, die sie nicht selbst bereitstellen kann.
Internationale Politik 1, Januar/Februar 2024, S. 15
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