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01. Apr. 2005

Die religiöse Rechte in den USA

Evangelikale Christen werden zunehmend auch die außenpolitische Agenda bestimmen

Christliche Rechte sind eine wichtige Wählergruppe der Republikaner. Mit ihren Überzeugungen beeinflussen sie zunehmend die amerikanische Außenpolitik, vor allem im Nahen Osten. Doch diese „weichen“ Faktoren werden in der europäischen Politikanalyse oft ausgeblendet – was zu Fehleinschätzungen führt und die transatlantische Allianz belasten kann.

Das politische Erstarken konservativer evangelikaler und fundamentalistisch-religiöser Bewegungen seit Beginn der achtziger Jahre ist eine der bedeutsamsten kulturellen Entwicklungen in den Vereinigten Staaten und bildet die Grundlage für neuartige (außen-)politische Machtstrukturen. Dabei spielt die so genannte „Christliche Rechte“1 eine zentrale Rolle als Wählerpotenzial und Wahlkampfhilfe der Republikaner im Kongress und als Basis der Bush-Administration im Weißen Haus.2 Der wachsende politische Einfluss der Christlichen Rechten, ja die zunehmend christlich rechte Legitimation der Amtsführung der Bush-Regierung hat zur transatlantischen Entfremdung beigetragen. Dissonanzen zeigten sich vor allem im Hinblick auf den Waffengang im Irak und den Nahost-Konflikt. Die Missklänge sind nicht nur auf rhetorische Entgleisungen einiger Protagonisten und politische Stilfragen amtierender Regierungen zurückzuführen. Ihre Ursachen liegen in den veränderten geostrategischen Rahmen-bedingungen seit dem Ende des Kalten Krieges und darüber hinaus in tiefergreifenden strukturellen Besonderheiten, die in der politischen Kultur und im politischen System der USA zu finden sind.

Während die geopolitischen Veränderungen seit dem Ende des Ost-West-Konflikts von Wissenschaft und Politik häufig thematisiert und als Erklärung für die Veränderungen in den transatlantischen Beziehungen herangezogen wurden, kamen kulturelle Entfremdungen bislang kaum zur Sprache. In den dominanten Diskussionen um vermeintlich „harte“ Fakten wurden diese „weichen“ Faktoren weitgehend ausgeblendet.

So bietet zum Beispiel das viel beachtete und diskutierte machtzentristische Weltbild Robert Kagans dem Betrachter eine einfache Erklärung für die jüngsten tektonischen Veränderungen zwischen den Kontinenten: Die Machtdifferenz zwischen Europa und Amerika ist die Ursache für transatlantische Spannungen. Europa ist schwach. Amerika ist stark und nutzt deshalb seine Macht.3 Selbst wenn man der inhärenten Logik dieser These folgen möchte, wonach militärische Macht und Überlegenheit automatisch dazu verleiten, sie auch nutzen zu wollen, bleibt in demokratisch verfassten Staaten wie den USA die entscheidende Frage unbeantwortet: Wie können Regierende, in diesem Fall der amerikanische Präsident, ihre Außenpolitik und dabei besonders den Einsatz militärischer Gewalt vis-à-vis der Legislative und vor allem gegenüber der eigenen Bevölkerung rechtfertigen? Selbst der „mächtigste Mann der Welt“ muss gute Gründe anführen, wenn er seinen Landsleuten kriegsbedingte finanzielle und menschliche Opfer aufbürdet.

Nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 benötigte Oberbefehlshaber Bush keine große Überzeugungskraft, um den Kongress, die amerikanische Bevölkerung und die internationale Gemeinschaft von der Notwendigkeit des Waffengangs in Afghanistan zu überzeugen. Im Vorfeld des Präventivkriegs gegen den Irak war die Lage jedoch grundlegend anders: Präventives Handeln ist weitaus schwieriger zu legitimieren als die Reaktion auf einen erfolgten oder unmittelbar bevorstehenden Angriff.

Um den öffentlichen Rückhalt in der eigenen Bevölkerung zu erwirken, interpretierte Amtsinhaber Bush den Waffengang im Zweistromland als weitere Schlacht im langfristigen „Krieg“ gegen den Terrorismus – als „existenziellen Kampf“ zwischen „Gut“ und „Böse“, in dem die Fronten eindeutig sind. Der Oberste Befehlshaber demonstrierte seinen Anhängern einmal mehr Führungsstärke und Entschlossenheit, indem er – anders als sein Herausforderer Senator Kerry, dem Wankelmütigkeit unterstellt wurde – klar zwischen Richtig und Falsch, ja zwischen „Gut“ und „Böse“ unterschied. Schließlich erinnerte der Oberste Befehlshaber seine Landsleute vor dem Waffengang an die Mission der amerikanischen Nation, als auserwähltes Land das Richtige zu tun und die Vorhersehung Gottes zu vollstrecken.

Die Wahl 2004: It’s Security and God, Stupid!

Der wiedergewählte Präsident George W. Bush fand schließlich auch die größte Unterstützung bei Wählern, denen moralische Wertfragen am Herzen lagen und denen der Terrorismus Sorgen bereitete (vgl. Tabelle).

Nach der Wahl wurde eine heftige Debatte geführt, ob „moralische Werte“ wirklich ausschlaggebend waren. Kritiker des hier genannten CNN Exit Polls führten ins Feld, dass die gewählte Fragemethode mit vorgegebenen Antworten suggestiv gewesen sei und dadurch „moralische Werte“ höher eingestuft worden seien als dies bei offener Fragestellung der Fall gewesen wäre. Ausgewiesene Statistikexperten waren sich in dieser Frage ebenso uneinig. Um die wahlentscheidenden Faktoren genauer zu bestimmen, führte das renommierte Gallup-Institut eine weitere Umfrage durch, in der die Teilnehmer einer Umfrage unmittelbar vor den Wahlen nach dem Urnengang (vom 3. November bis 12. Dezember 2004) erneut befragt wurden – ohne dabei vorgegebene Antwortkategorien zu verwenden. Erwartungsgemäß kamen moralische Gründe insgesamt nicht mehr so häufig zur Sprache (15%). Eine genauere Analyse der Daten verdeutlichte jedoch einmal mehr, dass die Wähler des Wahlsiegers George W. Bush am häufigsten moralische Werte/religiöse Überzeugungen (mit 25%) als wichtigstes Kriterium ihrer Wahlentscheidung nannten, gefolgt vom Thema Terrorismus (21%).4 Es bleibt aber schwierig, diese beiden Themenkomplexe analytisch voneinander zu trennen: Ging Präsident Bush doch auch mit „moralischer Klarheit“ (moral clarity) gegen die Terroristen vor.

Sollten nicht massive wirtschaftliche Probleme und eine Verschlechterung der Lebensverhältnisse eintreten, dürften neben den Sicherheitsfragen religiös motivierte moralische Kriterien auch bei künftigen Wahlen eine mitentscheidende Rolle spielen und die Demokraten weiterhin vor große Herausforderungen stellen.

Mittlerweile haben einige Demokraten dieses strategische Defizit erkannt. In einem „offenen Brief an Demokraten“ machen federführende Strategen wie Ronald Asmus, Philip Gordon, Will Marshall und James Rubin ihren Parteifreunden die „National Security Challenge“, die Herausforderung der Demokraten beim Thema nationale Sicherheit, deutlich: „Diese neue Gefahr [durch islamistische Terroristen] stellt die Willenskraft und Standhaftigkeit jener Leute und Parteien auf den Prüfstand, die sich Hoffnungen machen, Amerika zu führen. Keine politische Partei wird an die Macht kommen oder sie erhalten – noch verdient sie es – wenn sie nicht den Menschen ein Grundgefühl an Sicherheit zu geben imstande ist.“ Dabei sei „moralische Klarheit“ unabdingbar: „Moral clarity in this fight is essential.“ Denn, so die Strategen weiter, „Amerikaner werden keinen politischen Führern vertrauen, die nicht energisch ihre Ideale verteidigen.“5 Damit versuchen sie den Republikanern den „moral high ground“ streitig zu machen. Diese wiederum sehen in den Nachahmungsversuchen des politischen Gegners ihre Erfolgsstrategie  bestätigt.

Wie wichtig und tragfähig ist die außenpolitische Agenda bei dem Bemühen, die Allianz der Republikaner mit der Christlichen Rechten zu festigen? Sind christlich rechte Machtstrukturen für das transatlantische Verhältnis von Bedeutung? Ein außenpolitischer Themenfokus ist für Amtsinhaber Bush wichtig, um dauerhafte republikanische Mehrheiten auf religiös rechter Basis zu gewährleisten. Der Kampf gegen den Terrorismus könnte neue Macht- und Wertestrukturen etablieren, die langfristig wirkmächtig bleiben. Ein gefestigtes religiöses Establishment würde nicht nur weiterhin versuchen, das Weltbild und den Kurs amerikanischer Außenpolitik zu beeinflussen, sondern auch für den innenpolitischen Rückhalt zur militärischen Durchsetzung seiner Werte sorgen. Das würde zur weiteren inneren Polarisierung Amerikas beitragen und Divergenzen in den transatlantischen Beziehungen produzieren.

Ein religiös-moralisches Weltbild

Für die Strategen der Republikaner bleibt es ein schwieriger Balanceakt, sich die Christliche Rechte gewogen zu halten, ohne dabei die Unterstützung gemäßigter, werteliberaler Republikaner aufs Spiel zu setzen. Die Aufrechterhaltung der Allianz mit der Republikanischen Partei ist auch für die Strategen der Christlichen Rechten nach wie vor eine heikle Gratwanderung: Das Ringen um politische Macht erfordert pragmatische Zugeständnisse. Vor allem in der innenpolitischen Auseinandersetzung läuft man Gefahr, die moralischen Prinzipien preiszugeben, die zur Mobilisierung der eigenen Basis wichtig waren. Christliche Fundamentalisten hegen strikte Überzeugungen, nach denen die Welt in Gut und Böse aufgeteilt ist; im politischen Spektrum hingegen müssen Kompromisse im pragmatischen Graubereich gefunden werden, die sich den Schwarz-Weiß-Kategorien einer dichotomen Weltsicht entziehen.

Konsensfähige außenpolitische Themen sind wichtig, um eine dauerhafte Koalition zu schmieden. Besonders Fragen der nationalen Sicherheit bieten eine tragfähige Plattform, auf der sich konservative Eliten und Wähler verschiedener Richtungen versammeln können – und ein Bindemittel, um den Zusammenhalt einer breiteren dauerhaften republikanischen Mehrheit zu gewährleisten. Angesichts der terroristischen Bedrohung scheint ein inneres Zusammenrücken im Kampf gegen den äußeren Feind notwendig. In Präsident Bushs Wahrnehmung haben die Terroristen vom 11. September den „American way of life“ angegriffen, einen Weg, der von Gott vorgezeichnet sei. Amerika fühlt sich zwar angeschlagen, aber dennoch gewappnet und ist sich gewiss, unter der starken Führung seines Präsidenten das „Böse“ zu besiegen. Wie schon Präsident Reagan – in einer Rede vor Evangelikalen – dem „Reich des Bösen“ den Kampf angesagt hatte, mobilisierte Präsident Bush Amerika  gegen die „Achse des Bösen“.

Karl Rove, der strategische Kopf der Republikaner, versucht, eine dauerhafte republikanische Mehrheit aufzubauen. Diese strukturelle Mehrheit würde ein „realignment“, eine dauerhafte Veränderung der Wählerstruktur und damit des Wahlverhaltens voraussetzen.6 Sie vollzöge sich neben wirtschaftlichen und werteorientierten Fragen vor allem im Hinblick auf Themen der nationalen Sicherheit. Die Sicherheitsbedrohung bot dem Präsidenten eine Gelegenheit, in Wahlkämpfen für seine entschlossene Politik gegen den Terrorismus zu werben. Das Thema der nationalen Sicherheit war entscheidend bei den Zwischenwahlen 2002,7 bei den Wahlen 2004, und es wird auch künftig Priorität im Kalkül der Wahlstrategen des Präsidenten haben.

Die politische Sprengkraft der Anschläge vom 11. September 2001 wird umso deutlicher erkennbar, wenn man sich vergegenwärtigt, dass frühere massive Umstrukturierungen von Parteiloyalitäten im Gefolge nationaler Krisen erfolgten:8 Zu einer Wählerschaft von 30 Millionen Menschen, die im Sicherheitssektor ihren Lebensunterhalt verdienen,9 kommen nunmehr jene unzähligen Amerikaner hinzu, die um ihr Leben fürchten. Das Datum „Nine Eleven“ – die neue Bedrohungslage und deren Perzeption – könnte durchaus tektonische Verschiebungen in der Wählerstruktur zeitigen, wenn es dem Präsidenten  in den Augen der Amerikaner gelingt, entschlossen im Kampf gegen den Terrorismus zu handeln und das Land vor weiteren Angriffen zu schützen.

Für den wahrscheinlichen Fall, dass sich der Kampf gegen den Terrorismus noch lange hinziehen wird, werden die Wahlkampfstrategen der Republikaner und vor allem die Christliche Rechte sicherheitspolitische „Existenzfragen“ sowie moralische und religiöse Themen im Zentrum der politischen Agenda zu halten versuchen und damit auch den Rahmen für die Auseinandersetzung um die politische Macht festlegen.

Aus der historisch fundierten Perspektive Walter Russell Meads vom Council on Foreign Relations, eines der scharfsinnigsten Beobachter amerikanischer Außenpolitik, ist das politische Erstarken konservativer evangelikaler und fundamentalistisch-religiöser Bewegungen grundlegend für ein neuartiges (außen-)politisches Establishment. Dieses neue religiöse Establishment werde zusehends versuchen, seiner Weltsicht politische und militärische Kraft zu verleihen: „In dem Maße, wie sich amerikanische Außenpolitik um den Kampf mit Fanatikern im Mittleren und Nahen Osten dreht, die ihrerseits daran glauben, einen religiösen Krieg gegen die Vereinigten Staaten zu führen, wird die religiöse Führung konservativer Protestanten eine Hauptrolle dabei spielen, die Werte und Ideen zu artikulieren, für die viele Amerikaner bereit sein werden zu kämpfen.“10

Die christlich rechte Unterstützung kann nach Einschätzung des deutschen Politikwissenschaftlers Ernst-Otto Czempiel auch zur innenpolitischen Legitimierung einer „Ideologie amerikanischer Weltführung“ genutzt werden: „Während der christliche Fundamentalismus das politische Vorhaben in eine theologisierte Weltsicht einordnete, in der nicht um Interessen, sondern um Werte gekämpft wurde, setzte die neokonservative Führungsgruppe das durch die Moralisierung unanfechtbar und selbstimmunisierend gewordene Konzept in konkrete Außenpolitik um.“11

Damit bleiben bis auf weiteres Faktoren eines möglichen „realignment“ im nationalen wie internationalen Kontext wirksam. Die Machtsymbiose zwischen der religiösen Rechten und den Republikanern würde Sinn machen: Sie könnte ein polarisierendes Weltbild in der amerikanischen politischen Auseinandersetzung etablieren, das Auswirkungen auf die reale Welt haben wird.

Der Einfluss der christlichen Rechten begrenzt auch den Handlungsspielraum des Präsidenten bei den außenpolitischen Themen, denen seine Stammwähler Priorität einräumen. Die aktuelle Veröffentlichung einer längerfristig angelegten Datenreihe des Pew Research Center kam zu dem Ergebnis, dass Republikaner und Demokraten in Fragen nationaler Sicherheit so weit auseinander liegen wie nie zuvor. Die republikanische Wählerschaft misst nationaler Sicherheit einen erheblich höheren Stellenwert bei, was sich in ihrer wesentlich höheren Bereitschaft zeigt, nunmehr auch die präventive Anwendung militärischer Gewalt zu akzeptieren sowie im Kampf gegen den Terrorismus die Einschränkung persönlicher Freiheitsrechte hinzunehmen. Die Demokraten hingegen sprechen sich – nicht zuletzt infolge des Irak-Krieges – immer häufiger gegen die Anwendung militärischer Gewalt aus.12

Die Republikaner bleiben eher geneigt, militärische Gewalt anzuwenden – vor allem der harte Kern der evangelikalen Christen. Im Vergleich zum Bevölkerungsdurchschnitt setzen sie mehr auf militärische Stärke als auf Diplomatie, um Frieden zu gewährleisten.13 Laut einer Umfrage spielen so genannte „strength issues“ – militärische Stärke und Härte im Kampf gegen den Terrorismus, gegen das „Böse“ – für weiße Evangelikale eine äußerst wichtige Rolle. Für 93% ist es „extrem/sehr wichtig“, Amerikas Militär schlagkräftig zu halten.14

Christlich Rechte sind auch davon überzeugt, „dass Frieden im Nahen Osten nicht mit vertraglichen Vereinbarungen, diplomatischen Gesten oder wohlwollenden Gefühlen erreicht werden kann“. Laut Gary Bauer „wird nur ein starkes und lebensfähiges Israel im Konzert mit den mächtigen und resoluten USA Frieden erreichen“.15

Im Vorfeld des Irak-Krieges konnte sich der Präsident der Unterstützung seiner religiösen Wählerschaft an der politischen Heimatfront sicher sein. Angesichts der Polarisierung der öffentlichen Meinung in der Irak-Frage war diese Unterstützung für ihn notwendig, um seinen außenpolitischen Kurs durchsetzen zu können. Im Gegenzug verpflichtet sie ihn aber auch, Kurs zu halten.

Für den wiedergewählten George W. Bush bleibt es nach wie vor oberste Priorität, sich seiner Stammwähler zu versichern – indem er im Kampf gegen den Terrorismus weiterhin Härte zeigt und im Irak standhaft bleibt. Laut einer Studie des Pew Research Center und des Council on Foreign Relations sind nach den Erfahrungen im Irak nur 44% der Demokraten der Meinung, dass präventive Kriegführung gegen potenzielle Feinde gerechtfertigt sei, während im Lager der Republikaner eine überwältigende Mehrheit (88%) den präventiven Einsatz militärischer Mittel billigt.16

Religiöse Einstellungen spielen auch in der Frage des Irak-Kriegs eine signifikante Rolle: Häufige Kirchgänger bleiben eher geneigt, ihn zu unterstützen als weniger religiöse Amerikaner.17 Vor allem weiße evangelikale Protestanten sind nach wie vor der Auffassung, dass der Waffengang im Irak „gerechtfertigt“ ist, und sieben von zehn (72%) der Evangelikalen halten darüber hinaus am Konzept der präventiven Kriegführung fest.18 Das bleibt nicht ohne Wirkung auf die Kompromissfähigkeit des amerikanischen Präsidenten bei existenziellen Fragen der Sicherheit Amerikas sowie nicht zuletzt auch Israels und hat damit ebenfalls Auswirkungen auf die transatlantischen Beziehungen.

Transatlantische Entfremdung

Die meisten Europäer wollen die außenpolitischen Beziehungen mit den USA lockern. Selbst die Bürger traditionell enger Verbündeter Amerikas sprechen sich zunehmend dafür aus, bei Sicherheitsfragen einen unabhängigeren Weg einzuschlagen.

Differenziertere Analysen zeigen, dass diese Entfremdung größtenteils der Politik des amtierenden Präsidenten geschuldet ist: Knapp drei Viertel (74%) der Deutschen und Franzosen sowie 59% der Bevölkerung Großbritanniens sind nicht generell kritisch gegenüber Amerika eingestellt, sondern beziehen ihre Kritik konkret auf George W. Bush.19 Dieser „Anti-Bush-Faktor“ wurde auch in weiteren Umfragen deutlich: Drei Viertel (76%) der Bevölkerung Europas (Deutschland: 86%) sind gegen die Außenpolitik der Regierung Bush.20

Initiativen in der Nahost-Politik sind nach wie vor mit einem hohen Risiko des Scheiterns behaftet, nicht zuletzt aufgrund des politischen Drucks christlich Rechter in den USA.21 Diese bilden eine wirksame Allianz mit neokonservativen Gegnern der Zwei-Staaten-Lösung, die vom so genannten Nahost-Quartett – bestehend aus den USA, der EU, der Russischen Föderation und den Vereinten Nationen – in Form einer „Road Map“ vorgezeichnet wurde.

Künftig könnten sich transatlantische Divergenzen noch weiter vertiefen: Neben ihrem Einsatz gegen die „Road Map“ betreibt die christliche Rechte auch nachhaltiges Lobbying für Sanktionen gegen Syrien und den Iran. Christlich Rechte machen sich im Kongress sogar für einen „Regimewechsel“ nach dem Vorbild des Iraq Liberation Act stark.

Diese Initiativen verdeutlichen, dass der Handlungsspielraum der amerikanischen Exekutive in der Nahost-Politik von christlich rechten Interessengruppen und deren Repräsentanten im Kongress mitbestimmt wird. Christlich Rechte werden nachhaltig versuchen, über den legislativen Machthebel Einfluss auf die Exekutive zu nehmen: „Christliche Rechte werden künftig stärker in einige der Nahost-Themen involviert sein“ – so Jim Backlin, Chef-Lobbyist der Christian Coalition.22

Fazit und Empfehlungen

Auf europäischer Seite ist nachhaltiger als bisher zur Kenntnis zu nehmen, dass die religiöse Rechte in den USA erhebliches und bleibendes politisches Gewicht hat. Das christlich rechte Wähler- und Wahlkampfpotenzial ist für den Machterhalt der Republikaner im Weißen Haus und im Kongress notwendig. Der Einfluss christlich Rechter auf amerikanische Politikvorstellungen bleibt bestehen.

Für den Fall, dass Amtsinhaber Bush nicht wiedergewählt worden wäre, hätte die Christliche Rechte zwar im „Entscheidungskampf“ gegen den Terrorismus und im innenpolitischen „Kulturkampf“ nicht mehr auf Gleichgesinnte im Weißen Haus  zählen können. Doch selbst in diesem Fall wäre das über Jahrzehnte kultivierte Organisationsgeflecht der Christlichen Rechten in der amerikanischen Gesellschaft wirkmächtig geblieben, nämlich über ihren organisatorischen Transmissionsriemen zur Legislative sowie über Netzwerke und Arbeitskreise gleichgesinnter Repräsentanten und Senatoren im Kongress. Christlich Rechte bleiben auf absehbare Zeit innen- und außenpolitisch relevante Akteure, die amerikanische Präsidenten – und die mit ihnen verhandelnden internationalen Partner – ernst nehmen sollten.

Deutsche Regierungsvertreter, die sich um ein stärkeres Engagement europäischer Außenpolitik im Nahen Osten verdient gemacht haben, müssen bei ihren Initiativen auch den Einfluss christlich Rechter auf den Kurs amerikanischer Außenpolitik ins Kalkül ziehen. Das politische Gewicht der Christlichen Rechten begrenzt den Handlungsspielraum George W. Bushs in zentralen außenpolitischen Feldern, vor allem in der Nahost-Politik. Die von Europäern favorisierte Politik, mehr Druck auf Israel auszuüben, wurde in Washington vor der Wahl 2004 aus wahltaktischen, wird aber auch weiterhin aus wahlstrategischen Überlegungen nur rhetorisch unterstützt. Dies birgt auch eine Gefahr für gemeinsame Projekte wie die Road Map.

Angesichts dieser Konstellation amerikanischer Politik könnte der transatlantische Graben künftig noch weiter aufreißen, insbesondere in der Politik gegenüber Syrien und dem Iran – beides Länder, die in den Augen christlich Rechter die Sicherheit Israels und Amerikas unmittelbar bedrohen. Deutsche wie europäische Akteure sollten dieses Konfliktpotenzial in der Konsenssuche antizipieren und frühzeitig christlich rechte Interessenvertreter in diplomatische Gespräche einbinden, um die unterschiedlichen Einschätzungen der Realität und die verschiedenen Vorgehensweisen einander anzunähern.

Hiesige Regierungsvertreter sowie zivilgesellschaftliche Akteure sollten versuchen, die sich verhärtenden Positionen jenseits des transatlantischen Wertegrabens im Dialog aufzuweichen. Denn sonst könnten religiöse Standpunkte christlich Rechter in Amerika die Perspektiven für gemeinsame Interessen verstellen und zur langfristigen Belastung der transatlantischen Beziehungen werden.

1 In der wissenschaftlichen Fachliteratur wird der „jüngere Konservatismus in seinen beiden Spielarten“ differenziert. Dabei interpretiert man den intellektuelleren „Neo-Konservatismus“ à la Irving Kristol – ursprünglich Linke, die zum Konservatismus konvertierten – wie auch den Konservatismus der „Religiösen Rechten“ (Religious Right), synonym auch als „Christliche Rechte“ (Christian Right) bezeichnet, als „Reaktion auf die tiefgreifenden und rapiden sozialen, ökonomischen, demographischen, innen- und außenpolitischen Veränderungen der sechziger und siebziger Jahre“. Beide Spielarten des „jüngeren Konservatismus“ werden von vorwiegend ökonomischen Interessen verpflichteten „Altkonservativen“ oder „älteren Konservativen“ (früher auch als „Rockefeller-Republikaner“ bezeichnet) unterschieden. Siehe Peter Lösche: Thesen zum amerikanischen Konservatismus, Aus Politik und Zeitgeschichte, Dezember 1982, S. 37–45. Michael Minkenberg untersuchte ebenfalls „Neuere konservative Gruppierungen und Strömungen im Kontext sozialen und kulturellen Wandels“, vgl. Michael Minkenberg: Neokonservatismus und Neue Rechte in den USA, Baden-Baden 1990. Auch Manfred Brocker beschrieb die „Entwicklungsdynamik der (Neuen) Christlichen Rechten im System der intermediären Interessenvermittlung der USA“, vgl. Manfred Brocker: Protest – Anpassung – Etablierung: Die Christliche Rechte im politischen System der USA, Frankfurt/Main 2004.

2 Ausführlicher dazu siehe Josef Braml: Die religiöse Rechte in den USA: Basis der Bush-Administration? Berlin 2004 (SWP-Studie S 35).

3 Vgl. Robert Kagan: Power and Weakness, Policy Review, Juni/Juli 2002.

4 Jeffrey Jones: Different Influences Found for Bush, Kerry Voters, Gallup-Analyse, Washington DC, 16.12.2004.

5 Ronald Asmus et al.: Our National Security Challenge: An Open Letter to Democrats, Progressive Policy Institute (PPI) Brief vom 6.2.2005, <http://www.ppionline.org/ppi_ci.cfm?knlgAreaID=450004&subsecid=900020&c…; [Zugriff am 9.3.2005].

6 Da der Begriff „realignment“ im gängigen Sinne eine bleibende Veränderung beschreibt, ist ein sicherer Befund erst ex post möglich. Man kann aber dennoch strukturelle Faktoren analysieren und auf ein entsprechendes Potenzial hinweisen. Siehe James Sundquist: Dynamics of the Party System. Alignment and Realignment of Political Parties in the United States, Washington 1993, S. 5–6.

7 Für eine ausführlichere Analyse der Zwischenwahlen siehe Josef Braml: Freie Hand für Bush? Auswirkungen der Kongreßwahlen auf das innenpolitische Machtgefüge und die Außenpolitik der USA, Berlin 2002 (SWP-Aktuell 55/02).

8 Siehe Jerome Clubb, William Flanigan, Nancy Zingale: Partisan Realignment. Voters, Parties, and Government in American History. Beverly Hills, 1980.

9 Beim Thema nationale Sicherheit liegen laut Berechnungen der Brookings Institution bzw. des International Institute for Strategic Studies (IISS) selbst in Friedenszeiten etwa 30 Millionen Wählerstimmen in der politischen Waagschale: aktives und pensioniertes Militärpersonal, Veteranen sowie Angestelle im industriellen Militärkomplex – deren Familienangehörige nicht mitgerechnet. Siehe Dana Allin/Philip Gordon/Michael O’Hanlon: The Democratic Party and Foreign Policy, World Policy Journal, (Frühjahr 2003), S. 7–16.

10 Vgl. Walter Russell Mead, Power, Terror, Peace, and War. America’s Grand Strategy in a World at Risk, New York 2004, S. 95.

11 Siehe Ernst-Otto Czempiel: Die Außenpolitik der Regierung George W. Bush, Aus Politik und Zeitgeschichte, November 2004, S. 16.

12 Pew Research Center for the People & the Press, Evenly Divided and Increasingly Polarized. 2004 Political Landscape, Washington, 5.11.2003, S. 27–32.

13 Siehe Andrew Kohut, John Green, Scott Keeter, Robert Toth: The Diminishing Divide. Religion’s Changing Role in American Politics, Washington, 2000, S. 130–133.

14 Siehe Anna Greenberg/Jennifer Berktold, Evangelicals in America, Religion and Ethics News Weekly, 5.4.2004, S. 18–20, Questionnaire, S. 6–8.

15 Zitiert von der Website von American Values, <http://www.ouramericanvalues. org/issues_foreign.htm> [Zugriff am 4.11.2003].

16 Pew Research Center, Umfrage in Zusammenarbeit mit dem Council on Foreign Relations, Eroding Respect for America Seen as Major Problem: Foreign Policy Attitudes Now Driven by 9/11 and Iraq, Washington, 18.8.2004, S. 26.

17 Vgl. National Annenberg Election Survey: Blacks, Hispanics Resist Republican Appeals But Conservative White Christians Are Stronger Supporters than in 2000, Washington, 25.7.2004.

18 John Green, The American Religious Landscape and Political Attitudes: A Baseline for 2004, Washington, 2004, S. 34

19 Siehe The Pew Global Attitudes Project 2003, Views of a Changing World, Washington, 3.6.2003, S. 22; The Pew Global Attitudes Project 2004, A Year after Iraq War: Mistrust of America in Europe Ever Higher, Muslim Anger Persists, Wa-shington, 16.3.2004. S. 21. 20 Siehe German Marshall Fund of the United States, Transatlantic Trends 2004. Top-Line Data, Washington, 2004, S. 23.

21 Für eine detaillierte Analyse der amerikanischen Rolle im Nahost-Konflikt siehe Gert Krell, Die USA, Israel und der Nahost-Konflikt. Studie über demokratische Außenpolitik im 20. Jahrhundert, HSFK-Report 12/2004, Frankfurt/Main 2004.

22 Interview J. B. mit Jim Backlin, 16.7.2003.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 4, April 2005, S. 36 - 43.

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