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01. Jan. 2009

Volle Kraft voraus

Deutschland als Motor globaler Energie- und Umweltpolitik

Die Bundesrepublik sollte in der Energiepolitik eine europäische und globale Führungsrolle spielen. Für ein energieabhängiges und exportorientiertes Land ist es unumgänglich, außenpolitische Initiativen zu ergreifen, um jenseits des Horizonts nationalstaatlicher Lösungen – etwa über die EU – einen neuen globalen ordnungspolitischen Rahmen zu gestalten.

Europas Ziel, einen einheitlichen und zuverlässigen EU-Binnenmarkt für Strom und Gas zu schaffen, bleibt eine Wunschvorstellung. Einer der wichtigsten Schwachpunkte des europäischen Energiemarkts ist nach wie vor die fehlende Integration der nationalen Energie-, insbesondere der Strommärkte. Um sicherzustellen, dass die Mitgliedsländer ihre Energiemärkte öffnen, brauchen wir nicht nur einheitliche Umsetzungsstandards, sondern auch eine europäische Regulierungsbehörde, die mit Sanktionsmechanismen ausgestattet ist und Wettbewerbsverzerrungen entgegenwirkt.

Auch in ihren Außenbeziehungen sollte die EU ein stimmiges Konzept entwickeln. Europa hat derzeit weder eine klare Vorstellung davon, wie die durch die Regierungswechsel in Moskau und Washington eröffneten Chancen genutzt werden können, noch hat es einen Plan, wie es mit Staaten umgehen will, die mit (nuklearen) Energieoptionen ihre Regionalmachtambitionen verfolgen. Ebenso verdeutlicht Europas Abhängigkeit von Erdöl exportierenden Ländern, dass wir multilaterale Strukturen weiterentwickeln müssen, um diesen Marktmängeln und Marktmächten zu begegnen. Immenses transatlantisches Wirtschaftspotenzial

Die USA und die EU sind in Energie- und Klimafragen weder bilateral noch multilateral über deklamatorische und unverbindliche Zielsetzungen hinausgekommen. Barack Obamas Wahl zum US-Präsidenten und die Neuausrichtung etablierter Interessengruppen in der energiepolitischen Auseinandersetzung in den USA bieten eine gute Gelegenheit, in einem Politikfeld zu kooperieren, das für die Zukunft energieabhängiger Volkswirtschaften von zentraler Bedeutung ist. Bereits im Wahlkampf hatte Obama seinen Landsleuten erklärt, dass sich hier ein immenses wirtschaftliches Potenzial biete.

Demnach wird die globale jährliche Nachfrage nach Energieträgern mit geringen fossilen Anteilen bis 2050 einen Wert von 500 Milliarden Dollar erreichen. Angesichts der akuten Wirtschaftskrise forderte Obama bereits vor seiner Amtsübernahme die Abgeordneten und Senatoren im Kongress auf, ein 100-Milliarden-Dollar-Konjunkturprogramm auf den Weg zu bringen. Investitionen zur Modernisierung der Energieinfrastruktur sollen nicht nur kurzfristig Arbeitsplätze schaffen, sondern langfristig die amerikanische Wirtschaft auf eine „low carbon economy“, also ein Wirtschaften mit möglichst niedrigem Verbrauch fossiler Brennstoffe, umstellen. In erster Linie wird es in den USA darum gehen, alternative Kraftstoffe und effiziente Technologien für den Transportsektor zu entwickeln. Hier könnte die deutsche, hier könnte die europäische Politik ansetzen: Eine transatlantische Energie- und Umweltpartnerschaft sollte Forschung und Investitionen für neue Technologien und den freien Handel mit alternativen Kraftstoffen im multilateralen Rahmen fördern. Daneben läge es im beiderseitigen Interesse, der russischen Tendenz zur Bilateralisierung traditioneller Energiebeziehungen entgegenzuwirken.

Kooperation mit Russland

Für die künftige strategische Beziehung zu Russland hat Europa nach wie vor kein Konzept. Ein neues Partnerschafts- und Kooperationsabkommen wäre nötig, zumal Russland die Europäische Energiecharta als ein Relikt aus der Zeit der eigenen Schwäche ansieht, als man Anfang der neunziger Jahre noch die westlichen Spielregeln akzeptieren musste. Durch exklusive bilaterale Abkommen mit europäischen Unternehmen kann Moskau seine neu gewonnene Energiemacht dafür nutzen, den Wettbewerb europäischer Staaten und Energieunternehmen um den Zugang zu russischen Energieressourcen zu verschärfen und sie gegeneinander auszuspielen. Über Pipelinepläne wie das Blue-Stream-Projekt, die europäische Anstrengungen zur Diversifizierung (Nabucco) untergraben, wird im Kreml auch nach geopolitischen Kriterien entschieden.

Gleichwohl eröffnen Finanzkrise und die jüngsten Entwicklungen an den Energiemärkten auch Möglichkeiten der Zusammenarbeit. Russlands Selbstbewusstsein ist mit den sinkenden Energiepreisen wieder auf ein Maß reduziert worden, das Verhandlungen auf Augenhöhe ermöglicht. Nach Einschätzungen einiger Beobachter gefährden Rohölpreise unter 60 Dollar pro Fass die Finanzierung notwendiger Wirtschaftsreformen und möglicherweise – wenn die Petro-Dollars länger ausbleiben sollten – auch die wirtschaftliche Handlungsfähigkeit und politische Stabilität des Regimes. Die Finanzkrise tut ein Weiteres, um Russlands Interesse an ausländischen Investitionen und seine Kooperationsbereitschaft zu erhöhen.

Nukleares Nichtverbreitungsregime

Die Zusammenarbeit mit Russland ist auch wichtig, um das nukleare Nichtverbreitungsregime an veränderte technische und wirtschaftliche Umstände anzupassen. Mit zunehmender ziviler Nutzung von Kernenergie zur Stromerzeugung ist der Bedarf an Anreicherungs- und Wiederaufarbeitungsleistungen ebenso gestiegen wie die Nachfrage nach Natururan-Reaktoren, Reaktoren mit hoch angereichertem Uran oder Schnellen Brütern – Reaktortypen, die eines gemeinsam haben: Sie bergen die Gefahr einer Weiterverbreitung atomwaffenfähigen Materials.

Der Blick auf Nordkorea und den Iran zeigt die Schwachstellen der internationalen Nuklearordnung. Es bedarf einer Gruppe von Staaten, die bereit und in der Lage sind, das nukleare Nichtverbreitungsregime gegen Herausforderungen wie das nordkoreanische und das iranische Nuklearprogramm zu verteidigen. Selbst ohne Nuklearoption verfügt der Iran über massives Drohpotenzial: Die unweit der Straße von Hormus, einer strategisch wichtigen Meerenge, stationierten iranischen Truppen könnten die tägliche Lieferung von 17 Millionen Fässern Öl unterbinden, was nach Einschätzung amerikanischer Sicherheitsexperten etwa einem Fünftel des globalen Ölbedarfs entspricht. Der Einsatz der „iranischen Ölwaffe“ würde einen merklichen Anstieg des Ölpreises verursachen und damit westlichen und asiatischen Volkswirtschaften nachhaltig schaden.

Strategische Marktmacht der OPEC

Zudem gefährdet die zunehmende Macht der Organisation Erdöl exportierender Staaten (OPEC) die Energiesicherheit und Wirtschaftskraft erdölabhängiger Länder. Das Machtpotenzial der OPEC wird deutlich, wenn man die zehn Länder mit den größten nachgewiesenen Erdölreserven betrachtet: Mit Ausnahme von Kanada und Russland handelt es sich um OPEC-Mitglieder. Die OPEC kontrolliert über 70 Prozent der heute bekannten Erdölreserven. Obwohl mittelfristig der Anteil der OPEC an der Welterdölproduktion mit etwa 40 Prozent konstant bleiben wird, wächst die Macht des Kartells auf lange Sicht umso stärker, je mehr die Quellen der Nicht-OPEC-Länder zur Neige gehen. Zum Schutz gegen die strategische Marktmacht der OPEC könnten innovationsorientierte Regierungen antizyklische Steuern auf fossile Kraftstoffe erheben, die an den Marktpreis für Öl gekoppelt sind. Damit wären Investitionen in alternative Energien vor plötzlichen, eventuell von der OPEC initiierten Preiseinbrüchen geschützt. Die Steuereinnahmen könnten wiederum für Forschung und Entwicklung erneuerbarer Energien verwendet werden.

Wenn der Markt versagt

Die Steuerungswirkung der Energiepreise sollte konsequent genutzt werden. Wenn das Energiepreisniveau, insbesondere in den Industriestaaten, systematisch, schrittweise und kontinuierlich angehoben würde, dann ließen sich Anpassungsmaßnahmen auf der Energieangebots- und nachfrageseite verlässlicher planen. Märkte können die Herausforderungen durch die OPEC-Marktmacht, den Klimawandel und unzureichende Forschungsanstrengungen ebenso wenig ohne politische Flankierung lösen wie die mit hohen Ölpreisen verbundenen Verteilungsfragen. Energiesicherheit, Umweltschutz und Menschenrechte sind öffentliche Güter. Sie dürfen nicht den ohnehin unvollkommenen, durch Anbietermacht verzerrten (Energie-)Märkten überlassen werden. Marktunvollkommenheiten wie oligopolistische Strukturen und die Nichtberücksichtigung negativer (wie CO2-Belastung, nukleare Abfälle und Proliferation) oder positiver externer Effekte (Forschung und Entwicklung) rechtfertigen, ja sie erfordern staatliche Eingriffe.

Ein Beispiel für ein Marktversagen durch eine „negative Externalität“ sind die Auswirkungen der Verbrennung von Kohle, Gas und Öl auf das Weltklima. Der Marktpreis für Öl oder andere fossile Brennstoffe signalisiert dem Nutzer des Brennstoffs nicht die gesellschaftlichen Kosten, die durch den Schadstoffausstoß entstehen. Mit klimapolitischen Instrumenten wie Emissionssteuern oder dem Emissionsrechtehandel kann die Politik gegensteuern, indem sie diese externen Kosten in den Preismechanismus einbindet. Die EU-Staaten sollten auch in der aktuellen Finanz- und Wirtschaftskrise nicht von ihren Klimazielen abweichen, wollen sie nicht die Glaubwürdigkeit ihrer Vorreiterrolle für ein globales, völkerrechtlich verbindliches Post-Kyoto-Abkommen und die damit verbundenen Marktchancen für energiesparende Technologien und erneuerbare Energien preisgeben.

Ebenso wenig wie die negativen berücksichtigt der Markt die positiven externen Effekte von Forschung und Entwicklung. Technologische Innovationen kommen vielen Ölimporteuren zugute. Sie können von der Nutzung einer Innovation nicht ausgeschlossen werden – wie das etwa bei privaten Gütern der Fall wäre. Der Pionier selbst hätte demnach hohe Kosten zu tragen, aber geringe Aussichten auf Profit und dementsprechend niedrige Anreize, in Forschung zu investieren. Ohne politische Steuerung, etwa durch Patentschutz oder durch Forschungssubventionen, finden aus gesellschaftlicher Sicht zu wenig Forschung und Innovation statt. Um das Marktversagen zu beheben, gilt es, verstärkt die Erforschung und Entwicklung von energieeffizienzsteigernden Techniken und erneuerbaren Energien zu fördern. Dabei bestehen insbesondere bei alternativen Kraftstoffen und der Entwicklung marktfähiger Technologien Anreize für multilaterales Handeln. Ein weiterer Grund, solche Strukturen für kollektive Forschungsanstrengungen zu schaffen, ist das Problem des „Trittbrettfahrens“ Dritter, also der weltweiten Nutzung der Pionierleistungen von Forschern. Mit multilateraler Finanzierung könnte eine internationale Gruppe von Wissenschaftlern und Wirtschaftsexperten neue Technologien und Marktstrategien entwickeln.

Reform multilateraler Organisationen

Um den neuen Herausforderungen zu begegnen, müsste eine Vielzahl multilateraler Organisationen und transnationaler Strukturen an die neuen Gegebenheiten anpasst werden. Das betrifft zunächst die Internationale Energieagentur (IEA) und die Welthandelsorganisation (WTO). Insbesondere das Versorgungssicherheitssystem der IEA muss weiterentwickelt werden. Die Etablierung der IEA als autonome Einheit der OECD Mitte der siebziger Jahre war Ausdruck der Erkenntnis, dass die Sicherung der Ölversorgung nicht allein den Ölgesellschaften überlassen werden dürfe und dass langfristig angelegte, über den nationalen Rahmen hinausgehende energiepolitische Maßnahmen notwendig seien. Dieser OECD-Club muss nunmehr erweitert werden. Alle wichtigen Förder-, Transit- und Verbraucherländer auf regionaler bzw. globaler Ebene sollten eingebunden werden, gegebenenfalls auch im Rahmen neuer Strukturen. Mittel- und langfristig ist vor allem die Zusammenarbeit mit Ländern wie China und Indien unverzichtbar. Bislang verfolgen alle größeren Wirtschaftsmächte Asiens tendenziell einen neomerkantilistischen oder nationalistischen Ansatz zur Sicherung von Energieeinfuhren und Transportrouten, was die Entwicklung von kooperativen und marktorientierten Ansätzen erschwert.

In der Handelspolitik könnten Verhandlungen zwischen energiereichen Beitrittskandidaten und energieimportierenden Mitgliedern langfristig zu einer Weiterentwicklung des WTO-Regelwerks führen. Insbesondere müssen Regeln entwickelt werden, die Interessen der Öl- und Gasexporteure mit jenen der Produzenten erneuerbarer Energien in Einklang bringen. Im Zuge des wachsenden globalen Handels mit Biokraftstoffen ergeben sich zahlreiche Fragen für die internationale Handelspolitik, die weit über die bestehenden Kernkompetenzen der WTO hinausgehen, zumal sie auch Klimaschutz, Versorgungssicherung und Welternährung berühren.

Energiekoordinator gesucht

Um Energiesicherheit im erweiterten Sinn zu gewährleisten, sprich den teils komplementären, teils miteinander in Konflikt stehenden Zielen der Energiesicherheit, Wirtschaftlichkeit, Umweltverträglichkeit und Menschenrechte ein Stück näher zu kommen, ist zunächst auf einzelstaatlicher Ebene eine ressort- und parteiübergreifende Koordination nötig. Dafür sollte in Deutschland eine Art Bundessicherheitsrat oder ein anderes ressortübergreifendes Instrumentarium etabliert werden. Ein nächster Schritt wäre es, auch auf europäischer Ebene die Funktion eines „Energiekoordinators“ zu etablieren. Das wäre schon deshalb nötig, um anderen Ländern einen Ansprechpartner zu bieten, die, wie Amerika, ihrerseits ähnlich umfassende Strukturen etablieren und ihre globalen Ordnungsvorstellungen in die Tat umsetzen wollen. Globale Energieordnungspolitik könnte die Energieversorgungssicherheit verbessern, neue volkswirtschaftliche Wachstumsimpulse geben und den Treibhauseffekt eindämmen. Eine derartig umfassend gestaltende Politik könnte menschliches Leid lindern oder verhindern, indem sie die Machtverhältnisse in den Energiemärkten neu austariert und weiteren Ressourcenkriegen vorbeugt. Deutschland als energieabhängiges und exportorientiertes Land ist gefordert, hier eine Führungsrolle zu übernehmen.

Dr. JOSEF BRAML leitet die Redaktion des „Jahrbuch Internationale Politik“ bei der DGAP. Im aktuellen Band „Weltverträgliche Energiesicherheitspolitik“ werden die hier vorgestellten Ideen weiter ausgeführt.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 1, Januar 2009, S. 50 - 56.

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