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01. März 2020

Die Poesie des Würfels

Aller politischen Umbrüche zum Trotz haben sich viele Kulturexportschlager aus Tschechien, Polen, Ungarn und der Slowakei über die Jahrzehnte erstaunlich gut gehalten.

Gottland“ hieß einst ein Karel-Gott-Museum in der Nähe von Prag, das 2009 aus Finanznot schließen musste. Dessen ungeachtet blieb der Schlagersänger wechselnden politischen Systemen zum Trotz über einen Zeitraum von fünf Jahrzehnten der Exportschlager Tschechiens.

Nach Karel Gotts Tod im Oktober 2019 herrschte im Land Staatstrauer. Bald danach kursierten erste Ideen, welche Orte fortan seinen Namen tragen sollten – von Moldau-Inseln bis zu Flughäfen war einiges dabei. „Warum nicht einfach Zlín wieder in „Gottwaldow“ umbenennen?“, witzelte das Feuilleton auf Kosten einer Stadt, die so gar nichts mit Karel Gott zu tun hat.

Vier Jahrzehnte trug sie den Namen des kommunistischen Staatspräsidenten Klement Gottwald. Als sie nach der Samtenen Revolution wieder Zlín heißen durfte, kehrte die Erinnerung an ihre eigentliche Schlüsselfigur zurück: an den „Schuhkönig“ Tomáš Báťa, nach dem heute die Universität benannt ist. Vor 125 Jahren hatte Báťa mit zwei Geschwistern ein kleines Schuhunternehmen gegründet, das sich in wenigen Jahrzehnten zum weltgrößten Schuhexporteur entwickelte. Aus dem kleinen Habsburger Marktflecken Zlín entstand eine tschechische Industriemetropole. Heute operiert der Konzern mit 40 000 Beschäftigten auf fünf Kontinenten zwischen Lausanne und Singapur.

Die Báťa-Erfolgsgeschichte beginnt mit den „Báťovky“ – dem ersten Schuh-Hit des 20.Jahrhunderts: modischen Segeltuchschuhen auf Ledersohle, die aufgrund niedriger Material- und Produktionskosten für jedermann erschwinglich waren. Bestellungen kamen sogar aus dem Orient. 1927 umfasste die Fließbandproduktion bereits 15 Millionen Paar Schuhe jährlich. Tomáš Báťa, innovationsfreudiger Unternehmer nach amerikanischem Vorbild und mittlerweile auch Bürgermeister von Zlín, gründete Schulen und Krankenhäuser. Er ließ moderne Fabrikgelände, Hochhäuser und Arbeiterwohnsiedlungen bauen, die heute als Perlen des Zwischenkriegsfunktionalismus gelten. Zlín wurde „Báťaland“ – eine ganze Stadt als Museum früher Industrie- und Architekturgeschichte.

Weder die Nazi-Okkupation noch die Verstaatlichung des Konzerns nach dem kommunistischen Putsch 1948 konnten das Schuhimperium aufhalten. Die Erben schrieben die Firmengeschichte im Exil fort. Als Tomáš Báťa jr. 1990 in das befreite Land zurückkehrte, bereitete ihm Zlín einen triumphalen Empfang.

Heute beherbergt die Stadt wieder den Hauptsitz der Báťa-Kette. Eine der größten von weltweit 4600 Báťa-Filialen residiert am Prager Wenzelsplatz. „Kein Schritt ohne Báťa“ – der Werbeslogan aus den frühen 1930er Jahren mag nicht mehr so exklusiv gelten wie damals. Millionen von Menschen weltweit hält Báťa dennoch unvermindert am Laufen.



Weltliteratur aus dem Dorf

Im niederschlesischen Krajanów, einen Katzensprung vom mährischen Zlín entfernt, lebt die Literaturnobelpreisträgerin Olga Tokarczuk. Die polnisch-tschechische Grenzregion, in der verschiedene Ethnien, Sprachen und Kulturen jahrhundertelang aufeinandertrafen, hat Tokarczuks Werk inspiriert. Ihr Roman „Taghaus, Nachthaus“ spielt in einem kleinen Dorf in Niederschlesien, das einst von Deutschen bevölkert war. Mit deren Vertreibung sind auch Erinnerungs- und Erfahrungsräume verschwunden. Die Leerstellen werden mit alten und neuen Geschichten gefüllt, mit realen Schicksalen, aber auch mit der Welt des Unterbewussten und des Traumes.

Tokarczuks jüngster 1200-Seiten-Roman „Die Jakobsbücher“ folgt einem Mystiker des 18. Jahrhunderts. Das Buch ist, Zitat, „eine Reise über sieben Grenzen, durch fünf Sprachen und drei große Religionen, die kleinen nicht mitgerechnet“: enzyklopädisch, vielstimmig und geschichtsbewusst – Weltliteratur in stolzer Tradition. Olga Tokarczuk, die Psychologin und Schriftstellerin mit Rastazöpfen und politischer Agenda, ist bereits die sechste Literaturnobelpreisträgerin aus Polen.

Angeführt wird die Reihe vom Schriftsteller Henryk Sienkiewicz, der den Preis als erster Pole 1905 erhielt. Sein Roman „Quo Vadis“ über die Christenverfolgung unter Kaiser Nero erreichte eine Weltöffentlichkeit – nicht zuletzt durch die gleichnamige Verfilmung mit Peter Ustinov.

Der vielübersetzte Dichter und Essayist Czesław Miłosz erhielt den Preis 1980 – ein Kosmopolit nicht erst seit der Emigration nach Frankreich und in die USA. Auch die Kindheit und Jugend im russischen Zarenreich, am Schnittpunkt litauischer, polnischer, weißrussischer und jüdischer Kultur, hat sein universelles Werk geprägt. Aber auch jenseits der Nobelpreisliste bevölkern bis heute viele Weltbürger die polnische Literatur: sei es die Niederschlesierin Joanna Bator, die seit vielen Jahren in Japan lebt oder der Chronist osteuropäischer Dorfperipherien Andrzej Stasiuk. Polen darf als literarische Großmacht gelten. Sie schöpft aus kultureller Vielfalt, aus einer bewegten Geschichte, Imagination und aus der Eleganz der polnischen Sprache.



43 Trillionen Möglichkeiten

Ob es eine Rolle gespielt hat, dass die Mutter des Zauberwürfel-Erfinders Ernö Rubik von Beruf Dichterin war? Fest steht: Es steckt unerschöpfliche Poesie im „Büvös Kocka“, wie der Würfel auf Ungarisch heißt. Allein schon die Zahl von mehr als 43 Trillionen möglichen Farbstellungen auf dem kleinen handlichen Ding macht demütig. Um dieses Wunderwerk zu knacken, braucht der eine viele Stunden, der andere genau 3,47 Sekunden. Den aktuellen Weltrekord von 2018 hält der chinesische Speedcuber Yusheng Du.

Aber nicht nur die Profis haben Spaß an dem Würfel. Generationen von Menschen aller Altersgruppen lassen sich von „Rubik’s Cube“ die Zeit rauben. Dabei wollte der Budapester Bauingenieur und Uniprofessor Ernö Rubik damals im Jahr 1974 – mitten im Kalten Krieg – nichts weiter, als den Studierenden mit seiner Würfel-Kreation räumliches Denkvermögen beizubringen. Doch dann gelangte das Spielzeug Anfang der Achtziger auf den westlichen Markt und überwand buchstäblich spielerisch den Eisernen Vorhang. Geschätzte 300 Millionen Exemplare sind seitdem verkauft worden.

Zuletzt erlebte der Würfel sogar eine Renaissance. Die Verkaufszahlen steigen analog zur Menge der Lobeshymnen. Zum 40. Geburtstag des Zauberwürfels 2014 strahlte das New Yorker Empire State Building in den Würfelfarben. In einer Zeitkapsel von Steve Jobs, die nach drei Jahrzehnten in Colorado ausgebuddelt wurde, fand sich neben der ersten Macintosh-Computermaus auch ein Zauberwürfel. Der Musiker Adam Green wünscht sich in seinem Song „I wanna die“, mit dem Zauberwürfel begraben zu werden. In Serien wie den „Simpsons“ sowie in Spielfilmen ist der Würfel Dauergast.

Aber den denkbar spektakulärsten Auftritt hat Edward Snowdon dem Zauberwürfel verschafft. Mit ihm konnte der US-amerikanische Whistleblower sensibles Material des NSA aus dem Geheimdienstgebäude schmuggeln. Die kopierten Daten waren auf winzigen Micro- und Mini-SD-Karten gespeichert und unter die bunten Aufkleber des Würfels geklebt. So simpel, so genial. Wie Snowdon in seiner Autobiografie „Permanent Record“ von 2019 schreibt, habe er den Würfel nicht nur ständig öffentlich bei sich getragen. Er habe zur Vorbereitung auch allen Kollegen und dem Wachschutz einen Zauberwürfel geschenkt. So sei er schnell als der Zauberwürfel-Typ bekannt gewesen. Die Geschichte enthält besondere Poesie. Ein bisschen klingt sie wie die von David gegen Goliath – ein analoges Jahrhundertspiel triumphiert über das Epizentrum virtueller Überwachung.



Slowakische Sopranistinnen

Jahrhundertstimmen scheinen wiederum eine Spezialität der Slowakei. Das kleine Land im Herzen Europas hat gerade mal 5,5 Millionen Einwohner, verblüfft jedoch durch eine überproportional hohe Zahl an weltberühmten Sopranistinnen. Sie begeistern mit ihrer Kunst quer durch die Generationen – wenn auch nicht alle über einen so langen Zeitraum wie die „slowakische Nachtigall“ Edita Gruberová. An der Wiener Staatsoper gab sie 1970 ihr internationales Debüt als Königin der Nacht in Mozarts Zauberflöte und nahm erst 2019 den Abschied von der Opernbühne.

Ziemlich am Anfang ihrer Karriere steht dagegen die slowakische Starsopranistin Slávka Zámečníková. Noch keine 30 Jahre alt, wird die preisgekrönte Solistin der Staatsoper Unter den Linden u.a. bei den Olympischen Spielen im Beethoven-Jahr 2020 in Tokio in dessen 9. Symphonie zu hören sein, gemeinsam mit den Berliner Philharmonikern.

Neben der exzellenten Technik – Kraft, Fülle, Beweglichkeit – zeichnen sich diese slowakischen Opernsängerinnen durch große Musikalität und Empfindsamkeit aus. Und dennoch: Warum reüssieren sie weltweit in so großer Zahl? Die slowakische Sopranistin Magdaléna Hajóssyová, jahrzehntelang Solistin an der Berliner Staatsoper und Gesangsdozentin an der Prager Musikakademie, nennt zwei Gründe. Da sei zum einen die besondere Gesangsausbildung an der Musikhochschule Bratislava, von der auch Nichtslowakinnen wie die tschechische Mezzosopranistin (und Gattin von Sir Simon Rattle) Magdalena Kožená profitiert hätten.

Daneben spiele bei der Fülle an „Naturbegabungen“ die geografische Lage der Slowakei eine wesentliche Rolle. Mittendrin im Herzen der Doppelmonarchie Österreich-Ungarn gelegen, profitierte das Land jahrhundertelang von einem multikulturellen und stimulierenden Völkergemisch. Die weltberühmte Sopranistin Lucia Popp, als „Wundertier der Koloratur“ gefeiert, hatte nicht nur slowakische Wurzeln, sondern auch mährische, deutsche und rumänische Vorfahren. Edita Gruberovás Familie gehört einer ungarischsprachigen Minderheit in der Slowakei an. Die legendäre Dvořák- und Janáček-Interpretin Gabriela Beňačková, gebürtig aus Bratislava und viele Jahre ein Star der New Yorker Metropolitan Opera, wurde nachhaltig durch ihren rumänischen Gesangslehrer geprägt.

Wien und Budapest liegen direkt vor der Haustür der Slowaken. Auch Prag ist nicht weit. Neben den drei benachbarten Visegrád-Staaten Tschechien, Polen und Ungarn teilt die Slowakei ihre Landesgrenzen mit Österreich und der Ukraine. Die kulturelle Vielfalt ist groß und wirkt inspirierend. Vermutlich werden auch weiterhin bedeutende Sängerinnen aus dem kleinen Land kommen. Die große „slowakische Welle“ im Meer internationaler Gesangskunst ist genauer betrachtet eine Welle aus dem Vielvölkerherzen Mitteleuropas.



Kein Getränk, ein Lebensgefühl

Singen macht durstig! Und damit wären wir abschließend beim tschechischen Bier – einem Getränk, das weltweit getrunken wird, aber in keinem anderen Land soviel wie von den Tschechen selbst. Der Pro-Kopf-Verbrauch lag 2018 bei etwa 140 Litern pro Kopf und Jahr, im Jahr davor sogar bei 183 Litern pro Kopf, mit großem Abstand gefolgt von den Österreichern mit „nur“ 106 Litern pro Kopf und 100 Litern in Deutschland.

Bier ist in Tschechien mehr als ein Getränk. Es ist ein Lebensgefühl. Das bestätigt sich anschaulich bei jedem Wirtshausbesuch, ob in Prag oder in jedem noch so kleinen Kaff. Ist der erste Krug leer, wird ohne große Worte gleich der nächste serviert. Wer nicht in der Kneipe bleiben will, stillt seinen Bedarf mit einem mitgebrachten Glasgefäß direkt vom Fass.

Bier wird in Tschechien zu allen Tageszeiten getrunken, von Frauen wie Männern. Bier ist ebenso treuer Alltagsbegleiter wie die Krönung jeglicher Feierlichkeit. Zum Bier wird gestritten und gelacht, vor allem aber viel geredet. Und es wird darüber geschrieben. Das Werk bedeutender Literaten ist quasi vom Bier getränkt. Bohumil Hrabal setzte ihm in gleich mehreren literarischen Werken ein Denkmal. Als Sohn eines Brauereiverwalters mit Dienstwohnung auf dem Gelände wuchs er mit dem allgegenwärtigen Duft von Malz und Hopfen auf. Václav Havels Theaterstück „Audienz“ spielt in einer Brauerei. Der titelgebende Protagonist der Vaněk-Trilogie ist ein Dissident und Schriftsteller, der sich hier als Arbeiter verdingen muss und vom Brauereichef fortwährend zum Bierkonsum genötigt wird.

Die Tschechen sind Weltmeister in Sachen Bier. Rund 470 Sorten soll es geben. Auf ihre herausragende Qualität wurde selbst zu Zeiten größter wirtschaftlicher Stagnation geachtet. Vermutlich war das exzellente und immer billige Bier sogar eine Grundbedingung für die einlullenden Jahre der „Normalisierung“ in den 1970ern – als Trostspender angesichts zerplatzter Hoffnungen nach dem Prager Frühling.

Was so viele Qualitäten hat, spricht sich auch im Rest der Welt schnell herum. Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus ging es erst so richtig los mit dem tschechischen Kulturexportschlager Bier. Jeder noch so schwierige Name ging dank Lizenzen für die USA oder Südafrika bald überall locker über die Lippen. Budweiser, Krušovice, Gambrinus, Radegast oder Staropramen sind international klangvolle Namen.

Der Ahnherr des Pilsbiers, das Pilsner Urquell, ist derzeit in japanischem Besitz. 1842 begann der Siegeszug des untergärigen Lagerbiers, das einer ganzen Gattung den Namen gab. Noch länger, seit Ende des 13.Jahrhunderts, ist sein Herkunftsort Pilsen im Besitz des Braurechts. Ein prächtiges Brauereimuseum mitten in der Stadt erzählt von der stolzen Tradition. Übrigens ist Pilsen auch die Geburtsstadt von Karel Gott. Auf die Idee, hier nach seinem Ableben ein neues „Gottland“ zu etablieren, ist bisher aber noch keiner gekommen. Gott, nein, Pils sei Dank!

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik Wirtschaft 1, März - Juni 2020, S. 60-63

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