Essay

27. Okt. 2025

Die neue Staatskunst

Für die Analyse staatlichen Verhaltens hilft der Blick auf „hybride Aktionen“ nicht länger weiter. Vielmehr offenbart die Linse der Selbstaufwertung eine tiefere Logik: Staaten wollen sich den Zugang zu Kapital, Zwangsfähigkeit und Legitimität sichern. Sie sind weniger daran interessiert, die internationale Ordnung zu zerstören oder den Westen zu besiegen; sie wollen sich selbst neu erfinden und ihre Existenz sichern.

Bild
Bild: Zeichnug eines Politikers vor einem Apothekerschrank mit enthaltenen Mitteln der Staatskunst
Lizenz
Alle Rechte vorbehalten

In Laos dient eine staatlich geförderte Sonderwirtschaftszone als Drehkreuz der Cyberkriminalität, von der aus entführte Arbeiter Liebes- und Kryptobetrug in anderen Ländern begehen. In den Vereinigten Arabischen Emiraten entsendet ein staatlich unterstütztes Privatunternehmen kolumbianische Söldner in den Sudan. Und in Israel stützt der Ministerpräsident seine Argumentation auf ein längst widerlegtes Video, das angeblich zeigt, wie ein syrischer Soldat das Herz eines drusischen Bürgers verzehrt. Vorgänge, die früher nicht nur eine Fachwelt aufgeschreckt hätten, stoßen heute kaum noch auf Resonanz.

Ein Grund dafür ist eine Sammel­kategorie namens „hybrid“. Sie steht inzwischen für nahezu jeden verdeckten Einsatz staatlicher Mittel unterhalb der Kriegsschwelle – von Desinformation und Cyberkriminalität bis zu Zwangsmaßnahmen und Stellvertreterkriegen. Das Etikett „hybride Kriegsführung“ half einst, schwer zuzuordnenden Aktivitäten ein Gesicht zu geben – etwa Attentaten, Sabotage oder dem Einsatz von Söldnern. Heute verschleiert das Etikett „hybrid“ häufig mehr, als es klärt, und es bietet nur noch wenig Orientierung. Damit ­allerdings entgeht uns eine neue Dynamik.

Seit jeher hat Krieg den Staat geformt. Er ordnete Armeen, Finanzen und Verwaltung und verschaffte ihm das Monopol auf Zwang, Kapital und Legitimität – das Fundament klassischer Staatskunst. Hybride Mittel, bis hin zur Kooperation mit Kriminellen oder Söldnern, begleiteten diese Staatsbildung als Mutationen und Abweichungen, als experimentelle Nebenpfade. Mit der Zeit wurden diese Mutationen zu einem Hauptstrang staatlicher Praxis. Heute setzen Staaten hybride Mittel vor allem ein, um diese veränderte Staatslogik zu erhalten und auszubauen – weniger zur Demontage der internationalen Ordnung als zum Neuaufbau des Nationalen. Dies ist eine Selbstaufwertung – verdeckt, indirekt und abstreitbar. Es ist entscheidend, diese Verschiebung zu erkennen. Nur so lassen sich Ziele, Risiken und Gegenmaßnahmen kalibrieren, sowohl Eskalation als auch falsche Selbstberuhigung vermeiden und Ressourcen, Regeln und Institutionen auf die eigentliche, neue Logik ausrichten.

Wenn es um die Erfassung „hybrider Bedrohungen“ geht, wollen wir uns zunächst fünf Probleme ansehen.

In den 2010er Jahren war der Begriff „hybride Bedrohungen“ noch nützlich, um damals unbekannte Taktiken zu erklären. In einer Zeit aber, in der diese Taktiken zum Mainstream geworden sind, verschleiert er, was wirklich vor sich geht. Das Konzept war nützlich, um das Vorgehen zu beschreiben, mit dem Akteure einst die regelbasierte Ordnung zerstören wollten. Jetzt aber handeln vor allem Staaten, die sich für eine Welt ohne internationale Zusammenarbeit neu aufstellen wollen. 

Erstens: Der Begriff „hybrid“ umfasst zu viel. Prominent wurde der Begriff anlässlich der „grünen Männchen“ beim russischen Einmarsch in die Ukraine auf der Krim – flankiert von Desinformation, Attentaten und Abstreiten. Seit 2014 hat „hybrid“ sich zu einer schier endlosen Liste von Taktiken aufgebläht. Selbst innerhalb der NATO herrscht bis heute Uneinigkeit, was „hybrid“ umfasst: Für einige bezeichnet es alles oberhalb wie unterhalb der Kriegsschwelle, für andere nur das, was darunter liegt; für eine dritte Gruppe steht es schlicht für Informationskrieg.

Zweites Problem: Es fehlt ein „Warum“. Ein derart gedehntes Konzept erklärt am Ende nichts mehr. Statt politische Zielsetzungen zu analysieren, unterstellen wir das Altbekannte: Vandalismus gegen die regelbasierte internationale Ordnung, Gebietsgewinne und Druck auf westliche Staaten ohne das Risiko offener Kriegsführung. Das Resultat ist reaktives Flickwerk: viele defensive Maßnahmen zum Schließen einzelner Lücken, aber ohne übergeordnete Linie. Ohne klare Zielanalyse bleibt allerdings jede Gegenstrategie unvollständig.

Drittens gibt es zu viel (vermutetes) „Wer“. Weil unsere Abwehrmechanismen weiter versagen und die unangenehmen Überraschungen anhalten, ersetzen wir mit ihm das fehlende Warum: Wir ­kon­struieren den Gegner, dessen einziger Zweck darin bestehe, uns zu schaden – historisch gekränkt, innenpolitisch ungebunden, unempfänglich für Einmischung von außen. Dieser Fehlschluss vom allmächtigen Gegenspieler überschätzt die Täter und verdeckt ihre Schwächen. Dabei sind hybride Mittel weit verbreitet: Sie werden auch von kleinen Staaten und schwachen Regierungen genutzt, die nicht offen agieren können.

Viertens: Zu wenig zeitliche Einordnung, zu wenig „wann“. Zehn Jahre nach der Popularisierung des Begriffs wird „hybrid“ noch immer als neu gehandelt. Tatsächlich sind solche Verfahren seit mindestens einem Jahrzehnt Praxis. Blickt man noch weiter zurück, zeigt sich: Staaten, auch westliche, haben regelmäßig unterhalb der Schwelle offener Kriegsführung agiert. Manchen gilt das sogar als Normalfall; die klare Trennung zwischen Krieg und Frieden nach 1945 war stets brüchig, wenn nicht Fiktion. Entscheidend ist daher die Frage, welche Auslöser, Schwellen und Gelegenheiten Staaten zu hybriden Mitteln greifen lassen.

Fünftens schließlich gibt es keine Kontrolle über das, „was als Nächstes kommt“. Weil wir hybride Handlungen reflexhaft als gegen uns gerichtet lesen, geraten Antworten leicht unnötig eskalatorisch. Zugleich verschwimmt die Grenze zwischen Krieg und Frieden. Angemessen reagieren können wir nur, wenn wir das Dahinter erkennen: Hybride Mittel sind eben nicht bloß Vandalismus gegen die regelbasierte Ordnung oder klassische Gebietspolitik, sondern häufig Teil von Staatskunst mit eigenen Zwecken. Dafür braucht es genau das, was in den vorangegangenen Punkten aufgelistet wurde: eine klare Zweckanalyse, die saubere Zuordnung von Akteuren und eine zeitliche Einordnung – damit wir entsprechend antworten können.

Der Hinweis des Soziologen und Historikers Charles Tilly schließt den Bogen: Krieg war immer das Labor der Staatsbildung. Wer heutige hybride Verfahren nur als Aggression zum Selbstzweck liest, verkennt ihre staatsbildende Funktion – und riskiert sowohl Fehlreaktionen bis hin zur Eskalation als auch die Gefahr trügerischer Selbstberuhigung.


Wenn Krieg einst das Labor der Staatsbildung war, erleben wir heute eine lebendige Phase neuer Staatskunst jenseits klassischer Kriegsführung. Nach Jahrzehnten der Angleichung an ein Standardmodell experimentieren Staaten nun mit eigenen Formen – am ­deutlichsten wird dies bei den größten Akteuren.

Indien – das biometrisch vermittelte Katastrophenmodell: dauerhafte Grundunterkünfte bei Fluten und Zyklonen, großangelegte Flussverknüpfungen für Dürregebiete sowie Ausweissysteme, die den Zugang zu Nahrungsmitteln, Treibstoff und Hilfen steuern. Staatskunst wird zur Infrastruktur des Ausnahmezustands.

China – das algorithmisch-ökologische Modell: Im Leitbild der „ökologischen Zivilisation“ verschmelzen städtische Verhaltenssteuerung, KI-gestützte Verwaltungsversuche und vertikale Roboterfarmen. Wettermodifikationen sollen Niederschläge lenken, zum Nutzen im Inland, mit Risiken für Nachbarn.

Russland – das klimapuffernde Ressourcen-Modell: schwimmende Kernreaktoren, neue nördliche Schifffahrtsrouten und Außenposten im tauenden Perma­frost; dazu Experimente zur Streckung der Ressourcenbasis und Instrumente der Sanktionsresilienz. Ziel ist eine Abschirmung im Inneren bei erweiterten Spiel­räumen nach außen. 

USA – Donald Trump baut ein System privatisierter Resilienz auf. Es ersetzt den unter Vorgänger Joe Biden betriebenen, staatlich gesteuerten Ausbau von Biovorsorge und Wasserinfrastruktur. Vorsorgeaufgaben werden auf Finanz- und Kryptomärkte, privates Kapital, lokale Gemeinschaften und das Militär verlagert.

Heutige Staaten orientieren sich weniger daran, ob sie internationale Regeln bewahren oder brechen. Für sie ist der kreative Impuls zur Selbstaufwertung entscheidend – getrieben von äußerem Druck (Klimaänderung, brüchige Kooperation) und inneren Verlockungen (neue Technologien, ein gedehnter Normenrahmen). Das Ergebnis ist eine nach innen orientierte Staatskunst mit außenpolitischen Nebenwirkungen: der Versuch, Autonomie und Resilienz zu erhöhen und einen eigenständigen Regierungsstil zu entwickeln – ohne ­formelle internationale Abstimmung.


Staatsbildung beruht auch weiterhin auf dem Zugriff auf drei Ressourcen – Kapital, die Macht, Zwang auszuüben sowie Legitimität. Kapital meint Finanzmittel sowie Natur- und Humanressourcen; Zwangsfähigkeit die Macht, Gewalt zu bündeln und durchzusetzen; Legitimität die Autorität, Normen zu setzen und entsprechend zu handeln. Traditionell sicherten Staaten dies, indem sie innerhalb klarer Grenzen Monopole auf Gewalt, Besteuerung, Verwaltung und Repräsentation beanspruchten. Heute gilt eine andere Logik: Zugriff schlägt Besitz. Territorialbesitz wird in einer unwirtlicher werdenden Umwelt zur Last – schwerer zu halten, teurer zu verteidigen, infrastrukturell fragiler. Entsprechend rückt die Verstärkung kritischer Räume in den Vordergrund – Bevölkerungszentren, Energie- und Ernährungsbasen sowie Datenknoten; Kolonial- und Besitzlogiken verlieren an Attraktivität.

Um diesen Zugriff zu sichern, setzen Regierungen auf experimentelle, indirekte und abstreitbare Verfahren und kooperieren mit halbautonomen Dritten – staatlich gestützten Unternehmen, Milizen, Technologiekonzernen oder kriminellen Netzwerken. Diese Arbeitsteilung senkt Fixkosten, schafft Redundanzen und erhöht die Abstreitbarkeit; sie hat wenig mit der alten Logik permanenter Militärmacht zu tun, erweist sich aber als wirksam. Ein großer Teil dieses Repertoires entstand in der hybriden Kriegsführung; heute erfüllt er eine andere, konstitutive Funktion.

Die Programme unterscheiden sich. Manche setzen auf weitgehende Abschirmung und verdeckte Marktzugänge, andere auf technologische Aufrüstung oder die Auslagerung staatlicher Funktionen an private und halbstaatliche Akteure. Zugleich bleibt niemand allein: Fortschritte der einen werden von anderen als Bedrohung gelesen – ein Nährboden für Missverständnisse und Eskalationsrisiken.
 

Dass wir hybride Aktionen oft immer noch als „Bedrohung“ oder „Krieg“ bezeichnen, zeigt einerseits, dass die Selbstaufwertung zwangsweise an Grenzen stoßen muss. Denn Staaten können sich internationalen Verstrickungen und gegenseitigem Misstrauen nicht vollends entziehen. Andererseits spiegelt dies aber auch die Angst wider, die durch fehlendes Verständnis für die Hintergründe hybrider Aktionen entsteht. 

Um den Einsatz hybrider Mittel zur staatlichen Erneuerung besser zu verstehen, müssen wir sie deshalb anhand klarer Begrifflichkeiten definieren. Wenn Staaten hybride Mittel einsetzen, dann tun sie das vor allem, um territoriale, demografische, politische und ethische Beschränkungen zu umgehen, die den Zugang zu Kapital, Zwangsfähigkeit und Legitimität blockieren. Die drei zu Beginn dieses Textes genannten Beispiele veranschaulichen diese Logik: 

Laos verschafft sich Zugang zu internationalen Kapitalströmen, indem es Kriminellen ermöglicht, Cyberbetrug zu begehen und dabei rechtliche und ethische Beschränkungen zu umgehen.

Die Vereinigten Arabischen Emirate verschaffen sich mehr militärischen Einfluss, indem sie private Militärunternehmen (PMCs) beauftragen – und umgehen so nicht nur politische, sondern auch demografische Zwänge.

Israel versucht sein Ansehen zu verbessern, indem es Dritte dabei unterstützt, Desinformation jenseits ethischer Grenzen zu verbreiten.


Jedes dieser Beispiele steht für Trends, die sich im Zusammenhang mit der Erosion der globalen Governance nach der Finanzkrise immer weiter ausbreiten – die zunehmende transnationale Kriminalität mit geopolitischer Wirkung („Geokriminalität“), die Verbreitung von PMCs und Stellvertreterkonflikten sowie der Aufstieg von Informationskampagnen zum festen Bestandteil der Staatskunst.

Abseits von schwammigen Definitionen weisen hybride Mittel vor allem drei Merkmale auf – und keines dieser Merkmale hat in erster Linie mit Krieg oder der Vermeidung von Krieg zu tun. Konflikte sind lediglich ein Nebenprodukt beziehungsweise etwas, das die tieferliegenden Ziele oder die Selbstaufwertung eines Staates voranbringen – oder ­zurückwerfen – kann.

Erstens: Lastenteilung. Staaten arbeiten mit halbautonomen Partnern zusammen, staatlich unterstützten Unternehmen, privaten Militärunternehmen, Technologiekonzernen und Kriminellen, weil sie so Fixkosten und Verbindlichkeiten vermeiden können. Diese Partner decken oft ihre eigenen Kosten und agieren unabhängig, wenn sie vom Staat nicht benötigt werden. Trotzdem bauen sie Kapazitäten auf, die vom Staat bei Bedarf in Anspruch genommen werden können. Bekannte Beispiele sind die Gruppe Wagner (PMC, Russland) oder die Lazarus-Gruppe (Cyberkriminalität, Nordkorea). Andere Beispiele: Die transnationale kriminelle Organisation Zhao Wei (Laos), Global Security Services Group und Black Shield (PMCs, Vereinigte Arabische Emirate) oder Netzwerke von Online-Influencern (Israel).

Zweitens: eingebaute Redundanz. Da diese Partnerschaften aufgrund der Lastenteilung relativ kostengünstig unterhalten werden können, pflegen Staaten viele parallele Netzwerke, damit eine einzelne Unterbrechung keine größeren Störungen verursacht. Auch viele der Partner selbst arbeiten auf diese Art und Weise. Bekannte Beispiele sind hier Russlands Schattenflotte oder die „Achse des Widerstands“ (Iran). Andere Beispiele: kriminelle Netzwerke (Laos); staatlich verbundene PMCs mit vielfältigen Rekrutierungsnetzwerken, lokale sudanesische Rebellen (VAE); proisraelische Einflussnetzwerke – einige staatlich ver­bunden, andere nicht (Israel).

Drittens: (Un)plausible Abstreitbarkeit. Durch Outsourcing lassen sich Verantwortlichkeiten selten vollständig verbergen, aber sie werden ausreichend verschleiert. Das ermöglicht es Staaten, riskante Operationen durchzuführen, die sie bei Bedarf abstreiten können. Ein bekanntes Beispiel ist neben den „grünen Männchen“ auf der Krim (Russland) die kriminelle Hackergruppe „Wicked Panda“ (China).

Andere Beispiele sind regelmäßige begrenzte Razzien, um den Staat von organisierten kriminellen Gruppen zu distanzieren (Laos); die Behauptung, dass Lufttransporte nach Darfur über den Tschad humanitäre und keine militärische Hilfe darstellen (VAE) oder die unklare Zuordnung von Falsch­informationen im Zusammenhang mit Syrien (Israel).

Aus diesen drei Elementen ergibt sich eine Strategie, die wir als „effiziente Verschwendung“ bezeichnen – ein Konzept, das der traditionellen Erzählung vom schlanken Staat direkt zuwiderläuft. Statt sich zu verschlanken und gewohnten Mustern zu folgen, bevorzugen es Staaten, eine Vielzahl kostengünstiger, riskanter Experimente voranzutreiben und eine Art Trial-and-Error-Strategie zu verfolgen. Der Krieg rückt als politisches Mittel in den Hintergrund; neue, hinterhältige Mittel werden genutzt, um die gleichen Ziele zu erreichen.

Liegt die staatliche Selbstaufwertung tatsächlich voll im Trend, lohnt es sich zu überlegen, wie sie die Welt in naher Zukunft verändern könnte. Vier Entwicklungen zeichnen sich bereits heute ab.


Da die Großmächte nun ihre Muskeln spielen lassen, werden kleine Staaten immer größere Risiken eingehen, um ihre Position zu verbessern. Wir haben bereits gesehen, wie die Zen­tralafrikanische Republik – ein Land, in dem nur 10 Prozent der Bevölkerung über Internetzugang verfügen – sich dem volatilen, dezentralisierten Bitcoin zugewandt hat, um sich von den Abhängigkeiten des CFA-Franc zu lösen und den Zugang zu internationalem Kapital zu verbessern.

„Effiziente Verschwendung“ bedeutet vor allem, kostengünstige, iterative Strategien anzuwenden und Misserfolge in Kauf zu nehmen. Auch El Salvador hat sich mit Bitcoin beschäftigt und in Zusammenarbeit mit Fintech-Unternehmen eine staatlich unterstützte Krypto-Wallet eingeführt. Mit dieser Strategie wollte das Land seinen Zugang zu internationalem Kapital verbessern, manövrierte sich jedoch in eine Schuldenkrise. Aufgegeben hat man trotzdem nicht: Obwohl der Internationale Währungsfonds einen Kredit für El Salvador an die Auflage gebunden hat, das Bitcoin-Experiment zu beenden, treibt die Regierung bereits neue ­Krypto-Pläne voran.

Nicht nur kleine, schwache oder nichtwestliche Staaten werden dabei von der Selbstaufwertung in Versuchung geführt. Im Gegenteil: Die USA sind in diesem Bereich bereits führend. Sie verhandeln derzeit über einen 99-jährigen Pachtvertrag für eine wichtige Transitroute durch den Kaukasus, dessen Verwaltung an ein privates Konsortium ausgelagert werden soll (Kapital); sie lagern die Inhaftierung von Nichtstaatsangehörigen – und gelegentlich auch von Staatsangehörigen – an salvadorianische Gefängnisse aus, in denen Menschenrechtsverletzungen an der Tagesordnung sind (Zwangsfähigkeit); und sie schicken inoffizielle Gesandte nach Grönland, um für amerikanische Industriegeschäfte und Landnahme zu werben (Legitimität).

Wo sich verschiedene Akteure gegenseitig in die Quere kommen, ist mit Konflikten zu rechnen. Erste Anzeichen deuten allerdings darauf hin, dass diese Konflikte nur von kurzer Dauer sein werden, da alle Seiten Eskalationen vermeiden wollen. Jüngste Beispiele sind die begrenzten Luft- und Cyberangriffe des Iran und Israels sowie der eher kurzlebige Konflikt zwischen Indien und Pakistan, der durch einen Anschlag einer mit dem pakistanischen Staat verbundenen ­Terrororganisation ausgelöst wurde. 


Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich das Verhalten von Staaten durch die Linse der Selbstaufwertung besser analysieren lässt als durch die Linse hybrider Aktionen. Während letztere verschiedene Taktiken zu einem Sammelsurium von staatlichen Aktionen zusammenfasst, offenbart erstere eine tiefere Logik: Staaten wollen sich den Zugang zu Kapital, Zwangsfähigkeit, Legitimität sichern und nutzen dazu experimentelle und indirekte Operationen, die sie notfalls abstreiten können. Sie sind weniger daran interessiert, die internationale Ordnung zu zerstören oder den Westen zu besiegen, als daran, sich selbst neu zu erfinden und ihre Existenz zu sichern. 

Das Vorgehen von Laos, den Vereinigten Arabischen Emiraten und Israel ist dabei exemplarisch. Ähnliche Programme prägen auch die Großmächte: China koppelt städtische Verhaltenssteuerung, Agrartechnik und Wetterbeeinflussung; Russland nutzt die arktische Erwärmung für neue Routen und Rohstoffausbeute und baut Sanktionsresilienz auf; Indien verschaltet biometrische ID mit Katastrophen­hilfe und Wasserprojekten; die USA pendeln zwischen staatlich geführter Biovorsorge und privatisierter Resilienz. Ziel in allen Fällen: innenpolitische Selbstaufwertung – mit spürbaren Außenwirkungen.


Für europäische Entscheidungsträger besteht die Aufgabe nicht nur darin, taktische Lücken zu schließen, sondern auf strategischer Ebene zu reagieren. Das bedeutet, sich zu fragen, welche Art der Selbstaufwertung verschiedene Staaten anstreben werden und zu antizipieren, welche Effekte das haben könnte.

Welche Experimente werden andere Staaten eingehen, um ihre Ziele zu erreichen, und welche Institutionen können geschaffen werden, um den daraus entstehenden Herausforderungen zu begegnen? Wenn es im vergangenen Jahrzehnt darum ging, auf „hybride“ Taktiken zu reagieren, dann geht es in den nächsten zehn Jahren darum, die Linse der staat­lichen Selbstaufwertung anzulegen. Gelingt das nicht, läuft man Gefahr, sich auf die Konflikte von gestern vorzube­reiten, obwohl die von morgen schon vor der Tür stehen.


Aus dem Englischen von Kai Schnier

Für Vollzugriff bitte einloggen.
Bibliografische Angaben

Internationale Politik 6, November/Dezember 2025, S. 96-102

Teilen

Themen und Regionen

Mehr von den Autoren

Mark McQuay ist Doktorand an der Jagiellonian University in Krakau und Junior Associate Fellow am NATO Defense College in Rom. Der Text gibt die persönliche Ansicht des Autors wieder.


Dr. Roderick Parkes ist Researcher am NATO Defense College in Rom. Der Text gibt die persönliche Ansicht des Autors wieder.

0

Artikel können Sie noch kostenlos lesen.

Die Internationale Politik steht für sorgfältig recherchierte, fundierte Analysen und Artikel. Wir freuen uns, dass Sie sich für unser Angebot interessieren. Drei Texte können Sie kostenlos lesen. Danach empfehlen wir Ihnen ein Abo der IP, im Print, per App und/oder Online, denn unabhängigen Qualitätsjournalismus kann es nicht umsonst geben.