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01. Sep 2021

Die NATO nimmt China in den Blick

China gerät stärker in den Fokus des Nordatlantischen Bündnisses. Tatsächlich wirft Peking für die NATO neue, aber auch sehr alte Fragen auf.

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Bild: Lichtinstallation beim NATO-Gipfel in Brüsse, 2021
Unter den Verbündeten gibt es Gemeinsamkeiten, aber auch ausgeprägte Unterschiede in der Einschätzung Chinas: die Staats- und Regierungschefs der NATO beim Brüsseler Gipfel im Juni 2021.
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Brussels, we have a problem“: Der Aufstieg Chinas zur Weltmacht beunruhigt auch die NATO. Erstmals schlug sich dies im Kommuniqué des NATO-Gipfeltreffens 2019 nieder, damals nicht zuletzt auf Drängen des NATO-Generalsekretärs Jens Stoltenberg: Der hatte wiederholt auf Chinas massive militärische Aufrüstung hingewiesen. Allerdings wollten sich die Gipfelteilnehmer vor zwei Jahren nur auf eine recht ambivalente Aussage zu China verständigen: „Wir stellen fest, dass Chinas wachsender Einfluss und seine internationale Politik sowohl Chancen als auch Herausforderungen beinhalten, denen wir als Allianz gemeinsam begegnen müssen.“ Zur gleichen Zeit vollzog die Europäische Union eine kritische Wende. In ihrem Strategieausblick zu den Beziehungen zwischen der EU und China definierte Brüssel die Volksrepublik zugleich als Partner, als Wettbewerber und als systemischen Rivalen.



Nun hat die NATO auf ihrem Gipfeltreffen in Brüssel im Juni 2021 einen weiteren Schritt getan, sich den Problemen zu stellen, die der Aufstieg Chinas für den Westen mit sich bringt. Auf der Grundlage des Berichts einer hochrangigen Reflexionsgruppe, die der ehemalige deutsche Innen- und Verteidigungsminister Thomas de Maizière und der US-Diplomat Wess Mitchell anführten, stellten die Teilnehmer fest: „Chinas wachsender Einfluss und seine internationale Politik können Herausforderungen aufwerfen, auf die wir als Bündnis gemeinsam antworten müssen. Wir werden uns auf China einstellen (im Original: ‚engage China‘), um die Sicherheitsinteressen des Bündnisses zu verteidigen.“



Risiko statt Chance

Von den Chancen, von denen die NATO noch 2019 im Zusammenhang mit Chinas Aufstieg gesprochen hatte, war also 2021 nicht mehr die Rede; der Schwerpunkt der Bewertung Chinas durch die NATO liegt nun auf der systemischen Rivalität. Gemeint ist damit, dass die Volksrepublik mit ihrer Politik die Grundlagen der internationalen Ordnung wie auch der inneren Ordnung liberaler Demokratien infrage stellt und mit ihren alternativen Ordnungsvorstellungen herausfordert.



Im Einzelnen werden in der Abschluss­erklärung des NATO-Gipfels Chinas Menschenrechtsverletzungen, seine rasante Aufrüstung bei atomaren Sprengköpfen und mit neuen Trägersystemen, die fehlende Transparenz seiner militärischen Modernisierungsmaßnahmen und die Umsetzung der „zivil-militärischen Fusion“ kritisiert, durch die Peking Wirtschaft und Militär noch enger miteinander verzahnen will. Des Weiteren wird im Kommuniqué auf Chinas militärische Zusammenarbeit mit Russland sowie seine Desinformations-Aktivitäten im Cyberraum hingewiesen. Zu diesem letzten Kritikpunkt lieferte die NATO kürzlich noch eine Coda, als sie sich der amerikanischen Verurteilung von Cyberangriffen auf Microsoft anschloss, für die China verantwortlich gemacht wurde.



Dieser beunruhigte Blick der NATO auf China reflektiert eine veränderte Wahrnehmung Chinas im Westen. In der Tat ist Pekings Außenpolitik unter Staats- und Parteichef Xi Jinping in ihrer Rhetorik harscher und in ihrem Verhalten aggressiver geworden. Die Modernisierung der chinesischen Streitkräfte wurde in beispiellosem Tempo vorangetrieben. So orderte die chinesische Marine kürzlich an einem Tag drei neue Kriegsschiffe mit einer Tonnage von insgesamt rund 60 000 Tonnen – mehr als die gesamten Seestreitkräfte der Philippinen. Auch das Atomwaffenarsenal, die Luftwaffe und vor allem die Raketensysteme Chinas werden kontinuierlich modernisiert und aufgestockt; inzwischen ­können die chinesischen Trägersysteme auch Europa erreichen. Hinzu kommen Chinas militärische Aktivitäten im Weltraum und im Cyberspace.



Peking holt auf

Die Rüstungsausgaben der Volksrepublik beliefen sich nach Schätzungen von SIPRI 2020 auf 252 Milliarden Dollar, etwa 13 Prozent der weltweiten Aufwendungen. Der US-Militärhaushalt war mit 778 Milliarden Dollar (39 Prozent) zwar dreimal so groß, aber der Abstand Chinas zu den USA schrumpft rasch: 2009 gaben die USA noch fast siebenmal so viel für ihr Militär aus wie China. Zudem konzentriert sich Peking bei seiner Aufrüstung auf Ostasien, während Washington die weltweite Militärpräsenz Amerikas finanziert.



Bei dieser Modernisierung und Aufrüstung seiner Streitkräfte profitierte China auch von seiner immer engeren militärischen Zusammenarbeit mit Russland. Die Seestreitkräfte der beiden Länder führten inzwischen gemeinsame Manöver auch im Mittelmeer und in der Ostsee durch, also vor Europas Haustür. Zudem hat die Volksrepublik in den vergangenen Jahren ihre wachsende Militärmacht auch eingesetzt, um Nachbarstaaten politisch unter Druck zu setzen. Vor allem bekam und bekommt dies Taiwan zu spüren, aber ebenfalls Japan, die Philippinen, Vietnam und Indien.



Auch als Wirtschaftspartner wird China im Westen inzwischen deutlich kritischer gesehen als noch vor zehn Jahren. Das gilt selbst für jene Unternehmen, die in China engagiert sind und dort auch nicht selten gute Geschäfte machen. Die chinesische Wirtschaftspolitik verfolgt vor allem ein Ziel: die machtpolitische Aufwertung des Landes mit allen verfügbaren Mitteln. Dazu zählen die Kontrolle der Zukunftstechnologien, eine marktbeherrschende Stellung für chinesische Unternehmen daheim wie möglichst auch weltweit und die enge Verkoppelung von zivilen und militärischen Wirtschaftsaktivitäten (Stichwort: „zivil-militärische Fusion“). Dennoch bleibt die Präsenz im riesigen und nach wie vor wachstums­trächtigen chinesischen Markt für sehr viele Unternehmen unverzichtbar.



Der neue, deutlich kritischere Blick der NATO auf China kam also kaum überraschend. Dennoch fielen die offiziellen Reaktionen der Volksrepublik ausgesprochen harsch aus. Die chinesische Botschaft in Brüssel warf der NATO vor, die Konfrontation zu suchen und geopolitische Auseinandersetzungen zu schüren. Allerdings lässt sich an den Reaktionen auch ablesen, dass Peking darauf hofft, dass sich die Europäer dem Schulterschluss mit Washington entziehen, um ihre Wirtschaftsbeziehungen nicht zu gefährden. So versuchte Zhao Lijian, der Sprecher des chinesischen Außenministeriums, die USA und die Europäer auseinanderzudividieren, indem er ihnen unterschiedliche Interessenlagen attestierte und die EU ermutigte, ihre „strategische Autonomie“ zu stärken.



So plump sich diese Versuche ausnehmen, die NATO zu spalten: Ganz ohne reale Grundlage sind sie nicht. Denn der im Abschlussdokument des NATO-Gipfels formulierte Konsens kaschiert die beträchtlichen Unterschiede in der Einschätzung und Bewertung Chinas unter den Mitgliedstaaten, die auch auf der abschließenden Pressekonferenz nach dem Gipfel deutlich wurden. Bundeskanzlerin Angela Merkel betonte – vor dem Hintergrund der engen chinesisch-deutschen Wirtschaftsbeziehungen, aber wohl auch mit Blick auf die Klimapolitik – die Partnerschaft mit China, während Frankreichs Präsident Emmanuel Macron auf die geografisch auf den Nordatlantik begrenzten Zuständigkeiten der NATO verwies, mit dem China nichts zu tun habe. Während die USA die Volksrepublik China auch und gerade unter Präsident Joe Biden vor allem durch die sicherheitspolitische Brille betrachten und sich in ihrer Rolle als Welt-Ordnungsmacht herausgefordert fühlen, sehen die europäischen NATO-Mitglieder China vor allem als attraktiven Wirtschaftspartner, mit dem man es sich nicht verderben will. Es gibt also keine gemeinsame Bedrohungswahrnehmung, sondern nur Gemeinsamkeiten, aber eben auch ausgeprägte Unterschiede in der Einschätzung Chinas und den Interessenlagen innerhalb der NATO.



Wendung nach Asien als Bündnisfrage

Diese Differenzen sind durchaus ein Problem beim Umgang der NATO mit der chinesischen Herausforderung. Noch gewichtiger ist freilich ein anderes Problem, das aber zugleich so heikel ist, dass es offiziell kaum angesprochen werden kann. Es betrifft das amerikanische Engagement für die europäische Sicherheit und Verteidigung. China fordert die USA als Ordnungsmacht vor allem in Ostasien heraus; Amerika wird gezwungen sein, seine militärischen und diplomatischen Ressourcen immer stärker auf diese Re­gion zu konzentrieren.



Das muss perspektivisch die US-Präsenz in Europa schwächen und die Glaubwürdigkeit und Verlässlichkeit der Sicherheitsgarantien für die europäischen Verbündeten aushöhlen – selbst wenn man die Möglichkeit einer weiteren Amtszeit von Donald Trump (oder eines ähnlich gesinnten Republikaners) ausblendet. Die amerikanischen Sicherheitsgarantien für die europäischen Verbündeten sind grundlegend für die NATO; bröckeln sie, so stellt das das Bündnis infrage. Neu ist dieses Problem nicht: Die Spannungen im Bündnis zwischen den USA als Weltmacht, die in globalen Zusammenhängen agiert, und ihren europäischen Verbündeten, die vor allem auf ihre eigenen Interessen fixiert sind und sich sicherheitspolitisch gerne auf Amerika verlassen, sind fast so alt wie das Bündnis selbst. Ebenso lange schon ist auch klar, wie sich diese Spannungen auflösen oder zumindest verringern ließen: Die Europäer müssten mehr für ihre eigene Sicherheit tun, um die USA zu entlasten.



Und auch ein weiteres, verwandtes Thema hat eine lange Geschichte: Was könnten, was sollten die europäischen NATO-Verbündeten zur Unterstützung der Weltmacht USA beitragen, wenn es um gemeinsame sicherheitspolitische Herausforderungen jenseits des Nordatlantikraums geht? Diese Frage beschäftigt die Europäer derzeit vor allem mit Blick auf den Indo-Pazifik: Frankreich, Deutschland und die Niederlande haben Strategiedokumente vorgelegt, die dort ein verstärktes Engagement ankündigen, und die EU-Kommission arbeitet an einer europäischen Indo-Pazifik-Strategie. Den Hintergrund für all diese Initiativen bildet einmal mehr der Aufstieg Chinas.



Wie ließen sich diese Spannungen im Bündnis mit Blick auf eine gemeinsame ­China-Politik überbrücken? Im De-Maizière-­Mitchell-Bericht ist zu ­lesen: „Die NATO muss viel mehr Zeit, politische Ressourcen und Maßnahmen auf die durch China gestellten ­Sicherheitsherausforderungen verwenden.“ Das Abschlusskommuniqué des NATO-Gipfeltreffens enthält eine lange Liste von Absichtserklärungen. Dabei geht es zuvörderst um die Bedrohung durch Russland, aber etliche Empfehlungen zielen auch auf China. Im Mittelpunkt dieser Empfehlungen stehen die Stärkung der Verteidigungs- und Abschreckungsfähigkeit des Bündnisses sowie der Resilienz der Mitgliedsländer, die Verbesserung der (rüstungs-)technologischen Zusammenarbeit und die Intensivierung der Zusammenarbeit mit der EU und ihren Beitrittskandidaten, mit Partnern im asiatisch-pazifischen Raum (wie Japan und Australien), aber auch weltweit mit anderen Ländern.



Die Vorschläge einer transatlantischen Reflexionsgruppe, die die Münchner Sicherheitskonferenz organisierte, ergänzen diese Vorschläge noch um weitere Dimensionen wie Maßnahmen zur Verbesserung der wirtschaftlichen Sicherheit und trans­atlantische Programme zum Ausbau der Infrastruktur in Drittländern als Antwort auf die chinesische Belt and Road Initiative (BRI). Dieser Bericht geht allerdings – realistischerweise – davon aus, dass es in der transatlantischen Zusammenarbeit mit Blick auf China immer wieder auch darum gehen wird und gehen muss, Differenzen zu „managen“, also sie zu akzeptieren und konstruktiv zu wenden.



Es fehlt der NATO nicht an guten Vorsätzen. Aber in früheren Abschlusskommuniqués verpflichteten sich die Mitgliedstaaten auch schon mehrfach, mindestens 2 Prozent ihres BIP für die Verteidigung aufzuwenden – was aus dieser Selbstverpflichtung zum Beispiel in Deutschland wurde, ist bekannt (sie wurde übrigens in Brüssel im Abschlusskommuniqué erneut bekräftigt).

Die Frage ist demnach: Was wird diesmal aus den guten Vorsätzen, und welche Vorschläge werden wie umgesetzt? Die Antworten werden die Regierungen der 30 NATO-Länder liefern, denn jenseits seiner integrierten Militärstruktur in Europa ist das Bündnis auf die Umsetzung der gemeinsamen Absichtserklärungen durch die Mitglieder angewiesen. Und hier stoßen wir auf das dritte große Problem: Effektives gemeinsames Handeln bedarf des politischen Willens der Regierungen und der innenpolitischen Unterstützung in den Mitgliedsländern. Dass das im Umgang mit China nicht immer einfach sein dürfte, zeigen die Erfahrungen der EU.



Der Kern der geopolitischen und geo­ökonomischen Herausforderung durch China liegt in der defizitären Sicherheits- und Verteidigungspolitik der Europäer. Das heißt, bislang jedenfalls: im europäischen Pfeiler der NATO, nicht bei der EU. Die Europäer müssen sich um ihre Sicherheit und um die Stabilität ihrer Region selbst kümmern – gegenüber einem aggressiven Russland wie gegenüber den Risiken und Gefahren schwelender zwischenstaatlicher Konflikte und innerer Fragilität der Staaten in Europas Nachbarschaft.



In dem Maße, in dem dies gelingt, leisten die europäischen NATO-Verbündeten ihren wohl wichtigsten Beitrag zum Umgang des Westens mit der chinesischen Herausforderung: Sie entlasten damit die USA in ihrer weltpolitischen Auseinandersetzung mit China. Die europäischen Flaggen im Indo-Pazifik zu zeigen, gehört zur Kür – die Stärkung der Sicherheit und Stabilität in und um Europa dagegen ist die Pflichtübung.     





Prof. Dr. Hanns W. Maull ist Adjunct Professor am Bologna Center der Johns Hopkins University, Senior Distinguished Fellow der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) sowie Senior Associate Fellow des Mercator Institute for China Studies (Merics).

 

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 5, September/Oktober 2021, S. 58-62

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