Die Kanzlerin der Krisen – eine Bilanz
Angela Merkel hat die deutsche Außenpolitik stärker verändert als viele vermuten. Ein Rückblick auf 16 Jahre – mit überraschendem Befund.
Die 16-jährige Kanzlerschaft von Angela Merkel wird eher mit Krisen und Einschnitten wie dem Ausstieg aus der Atomenergie sowie der Finanz-, Flüchtlings- und Corona-Krise verbunden als mit der Außenpolitik. Aber der Eindruck trügt. Seit Merkels Amtsantritt 2005 hat sich die Rolle Deutschlands in der Welt erheblich verändert. Vom reinen Mitläufer amerikanischer und westlicher Außenpolitik hat die Bundesrepublik ein eigenständigeres Profil entwickelt – was schon angesichts der angestrebten europäischen und transatlantischen Einbindung nie ohne Widerspruch war. Überwölbende Linie für die Kanzlerschaft Merkels ist dabei, dass Deutschland auf der diplomatischen Bühne von einer passiven zu einer aktiveren Rolle übergegangen ist – oft notgedrungen, weil sich die Welt um Deutschland und die EU herum dramatisch verändert hat.
Man kann die Bilanz der Kanzlerin an Einladungen und großen Reden messen, die sie etwa in der Knesset und im US-Kongress halten durfte. Dies sind Symbole für das Maß an internationaler Anerkennung, die sich Merkel erarbeitete und die Spekulationen über eine mögliche Wahl zur UN-Generalsekretärin auslösten. Man kann die Bilanz ihrer Amtszeit aber auch an ihrer Haltung in den großen außenpolitischen Krisen ihrer Amtszeit messen.
Die außenpolitischen Achsen
Als Merkel ihr Amt antrat, war sie bereits mit außenpolitischem Denken vertraut. Als stellvertretende Regierungssprecherin der DDR sammelte sie frühzeitig Einblicke etwa in die Zwei-plus-Vier-Verhandlungen mit den Alliierten und war bei der Unterzeichnung des Vertrags am 12. September 1990 in Moskau anwesend. Als Umweltministerin hatte sie Erfahrungen mit amerikanischen und chinesischen Diplomaten in der Klimapolitik gesammelt. Und im Kabinett von Helmut Kohl hatte sie hautnah dessen Umgang mit außenpolitischen Themen und Verbündeten miterlebt – was sie vor europapolitischen Irrwegen wie Gerhard Schröders Versuch bewahrte, in der Europapolitik statt mit Paris eine engere Absprache mit London zu suchen.
Merkel hat immer wieder sehr deutlich gemacht, was ihre festen Grundachsen in der Außenpolitik waren: eine klare transatlantische Orientierung, die stabile Einbindung in eine immer tiefer integrierte EU sowie das für sie unverrückbare Bekenntnis zur Verantwortung Deutschlands für Israel. Daneben prägt sie die Überzeugung, dass eigentlich fast alle grundlegenden Probleme in dieser Welt nur in multilateraler Zusammenarbeit gelöst werden können – und nur die allerwenigsten militärisch. Merkel war zudem von Anfang an von einer fortschreitenden Globalisierung überzeugt, die auch im Interesse der Exportnation Deutschland ist. Sie sieht Außenpolitik in engem Zusammenhang mit Entwicklungshilfe und wirtschaftlicher Zusammenarbeit; Diplomatie hat sich auch mit dem Kampf etwa gegen Klimawandel, Fluchtursachen und für Rechtsstaatlichkeit zu beschäftigen. Feste Bestandteile ihrer Auslandsreisen waren deshalb Treffen mit Frauengruppen und der Zivilgesellschaft – neben der Türöffner-Funktion für die deutsche Wirtschaft.
Zudem machte sich Merkel nie Illusionen, dass eine regionale Mittelmacht wie Deutschland bei allem Ansehen letztlich nur im Geleitzug der westlichen und vor allem europäischen Politik fahren und deren Kurs nur punktuell beeinflussen kann. „Die Welt zu verstehen ... und zu wissen, wo die Politik eingreifen und mit wem sie zusammenarbeiten kann und muss, um etwas zu erreichen – das ist eine Aufgabe, an der ich immer weiterarbeite“, beschrieb sie deshalb ihre außenpolitische Einstellung.
Von Anfang an reiste Merkel als Kanzlerin viel. Von Anfang an ärgerte es sie, wenn ihr aus parteipolitischen Motiven eine „Politik der roten Teppiche“ (SPD) oder eine Vernachlässigung der Innenpolitik vorgeworfen wurde. Ironische Überschriften wie „Blitzbesuch in Deutschland“ wurmten sie schon im Jahr 2007. Eigentlich hat Merkel immer das Gefühl, als Kanzlerin eines stärker international geforderten Deutschlands nicht genug im Ausland präsent sein zu können – sie telefoniert sehr intensiv mit ausländischen Kollegen, oft ohne dass dies in der Öffentlichkeit bekannt wird. Vor allem in der Finanz- und Euro-Krise hatte sie die Erfahrung gemacht, welche hohen Erwartungen internationale Akteure mit dem wirtschaftlich stärksten EU-Land und ihr als Kanzlerin verbanden.
Korrektur und Kontinuität (2005 – 2012)
Merkels erste außenpolitische Kanzlerinnenjahre waren geprägt davon, eine neue Balance zu finden: Die CDU-Chefin wollte sich von ihrem SPD-Vorgänger Schröder absetzen, aber gleichzeitig entscheidende Linien der deutschen Außenpolitik seit Helmut Kohl fortsetzen. Bestes Beispiel dafür sind die Beziehungen zu Russland. Merkel bekannte sich nach der Bundestagswahl 2005 sehr schnell zur Gaspipeline Nord Stream 1, die noch unter Schröder verabredet worden war. Zugleich beendete Merkel jedoch Schröders „Buddy“-Politik mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin. Gegenüber dem kommunistischen China markierte sie eine deutliche Position, indem sie den Dalai Lama 2007 im Kanzleramt empfing – was Merkel aber nicht davon abhielt, später wegen der wachsenden Bedeutung des Landes fast jährlich nach China zu reisen.
Als der damalige deutsche UN-Botschafter Peter Wittig im Sicherheitsrat am 17. März 2011 seine Hand hob, um die Enthaltung Deutschlands zum militärischen Einsatz in Libyen anzuzeigen, war dies der erste markante Einschnitt im außenpolitischen Handeln der Bundeskanzlerin. 2003 hatte sich die damalige Oppositionsführerin im Irak-Krieg noch auf die Seite der US-Regierung und gegen Bundeskanzler Schröder gestellt. Aber nun verweigerte Deutschland nicht nur den USA, sondern auch den europäischen Partnern Frankreich und Großbritannien die Gefolgschaft. Ein Aufschrei der außenpolitischen und transatlantischen Community war die Folge, die Warnungen vor einem neuen deutschen Sonderweg häuften sich.
Aber die Warnungen vor einer deutschen Isolation erwiesen sich als falsch. Zum einen hatte Merkel in Gesprächen etwa mit dem britischen Premierminister David Cameron und US-Präsident Barack Obama zuvor klar gemacht, dass sich Deutschland keineswegs aus der westlichen Gemeinschaft verabschieden würde. Zum anderen zeigte die Entwicklung der Folgejahre aus Sicht der Kanzlerin, dass ihre Einwände gegen die Militärintervention nicht abwegig waren. Denn diese Intervention des Westens beschleunigte zwar das Ende des Machthabers Gaddafi, stürzte Libyen aber in ein Dauerchaos.
Libyen gilt seither als Failed State, vom Zusammenbruch jeder staatlichen Ordnung profitierten Schleuser und islamistische Terrorgruppen. Der Waffenschmuggel aus dem einst reichen Land nach Süden befeuerte die Instabilität in der Sahel-Zone. Merkels Lehre aus dem Jahr 2011 war, dass man nicht unbedingt auf die engsten Verbündeten und deren sicherheitspolitische Rezepte vertrauen kann, wenn man Stabilität in der unmittelbaren Nachbarschaft der EU anstrebt.
Neue Außenpolitik (2013 – 2016)
Die Folgewirkungen des Libyen-Debakels trieben Merkel in eine aktivere Außenpolitik etwa in Afrika. Sie willigte ein, Frankreich bei der Stabilisierung der ehemaligen Kolonie Mali auch mit der Bundeswehr zu helfen – aber um den Preis, dass die UN-Vetomacht Frankreich ihrerseits ihre Afrika-Politik europäisierte.
Die Bundesregierung verstärkte in der Migrationskrise ihr diplomatisches und entwicklungspolitisches Engagement in Niger und anderen afrikanischen Staaten. Dabei machte sie die Erfahrung, dass Deutschland mit seiner fehlenden kolonialen Vergangenheit in der Region als Partner besonders begrüßt wurde.
Noch deutlicher wurde Deutschlands neue, aktivere Rolle im russisch-ukrainischen Konflikt nach dem EU-Assoziierungsvertrag mit der Ukraine 2013. Die militärische Unterstützung Moskaus für die ostukrainischen Separatisten sowie die russische Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim sah Merkel als Tabubruch in der europäischen Nachkriegsgeschichte, weil in Europa erstmals nach 1945 wieder Grenzen mit militärischer Gewalt verschoben wurden. Zusammen mit dem französischen Präsidenten François Hollande und den Außenministern beider Länder versuchte sie, einen großflächigen Krieg an der Ostgrenze der EU zu verhindern. Und sie bat US-Präsident Obama ausdrücklich um Zurückhaltung bei den Vermittlungsversuchen. Mit dem Abschluss des Minsker Friedensabkommens 2014 übernahm die Bundesregierung erstmals selbständig die Verantwortung für eine Konfliktlösung.
Seit 2014 sieht Merkel Putin noch kritischer und war zur Verblüffung gerade amerikanischer Beobachter bereit zu EU-Sanktionen gegen Russland, die auch die deutsche Wirtschaft trafen. „Wir sagen, das ist Fortschritt, dass wir im 21. Jahrhundert in Europa Konflikte nicht militärisch lösen. Nur muss man sich fragen, was tut man dann? Einfach Schwamm drüber? Was haben wir an Mitteln? Man kann nicht einfach zur Tagesordnung übergehen“, begründete sie dies mit Blick auf die Annexion der Krim.
Ganz neu war diese Bereitschaft zu einer Sanktionspolitik nicht. Schon 2010 erklärte sie in Bezug auf das iranische Atomprogramm: „Die Frage ist immer: Was kostet uns das Nichthandeln?“ Dieser doppelte Ansatz – zunächst eine Verständigung und internationale Abkommen zu suchen, im Notfall aber auch zu Sanktionen im EU-Rahmen bereit zu sein – prägt ihre Amtszeit bis heute. Sie warnte Firmen, nicht zu kurzfristig zu denken: „Gerade den Stimmen in der deutschen Wirtschaft, die zweifeln, ob es richtig ist, Sanktionen zu verhängen, kann ich immer wieder nur sagen, dass auch wirtschaftlicher Erfolg abhängig ist von verlässlichen politischen Rahmenbedingungen.“ Wenn Merkel allerdings davon überzeugt ist, dass ein Projekt wie die Nord Stream 2-Gaspipeline zentrale deutsche Interessen berührt, sorgt sie dafür, dass diese nicht unter EU-Sanktionen fallen.
2015 demonstrierte Merkel erneut die Bereitschaft, angesichts einer Großkrise in der unmittelbaren Nachbarschaft der EU aktiv zu werden: Mit wachsender Frustration beobachtete die Kanzlerin von Berlin aus, dass die EU-Partner und die Kommission zunächst die Größe des Flüchtlingsstroms nach Europa unterschätzten. Innenpolitisch getrieben, wurde Merkel immer stärker zur zentralen Figur in der Flüchtlingskrise. Sie versuchte, einen humanitären Anspruch mit dem Ziel zu kombinieren, den Flüchtlingsstrom gen Deutschland und Nordeuropa zu stoppen. Die CDU-Chefin wurde deshalb treibende Kraft hinter dem Flüchtlingsabkommen zwischen der EU und der Türkei, für dessen Erhalt und Weiterentwicklung sie bis heute arbeitet. Das Abkommen ist mit der finanziellen Hilfe für die Versorgung der syrischen Flüchtlinge in der Türkei ein Paradebeispiel für Merkels außenpolitischen Ansatz: Sie strebt Win-win-Situationen an. Anders als beim Ukraine-Konflikt mit deutsch-französischem Verhandlungsansatz setzt Merkel in der Migrationspolitik bis heute darauf, dass möglichst die EU die zentrale Rolle spielt.
Multilateralismus gegen aufkommenden Nationalismus (seit 2016)
Der Ausgang der US-Wahl 2016 machte deutlich, dass eine Mittelmacht wie Deutschland trotz aller wirtschaftlichen Stärke nur in einem international von Großmächten gesetzten Rahmen agieren kann. Der Sieg Donald Trumps änderte die internationale Großwetterlage ebenso wie der zunehmend autoritäre Kurs von Putin in Russland und die immer härtere innen- und außenpolitische Politik des 2013 ins Amt gekommenen chinesischen Präsidenten Xi Jinping.
Plötzlich wurde Merkel in der New York Times als Anführerin der liberalen westlichen Welt beschrieben. Tatsächlich machte die Kanzlerin in der Amtszeit Trumps klar, dass sie ihre Ideale einer multilateralen Welt nicht kampflos aufgeben würde; aber sie geriet wie andere multilateral denkende Regierungschefs in die Defensive. Deutschland schmiedete durch Außenminister Heiko Maas an einer „Allianz für den Multilateralismus“ mit mehreren Dutzend anderen Staaten, die weder die überkommene Dominanz der Siegermächte des Zweiten Weltkriegs im UN-Sicherheitsrat akzeptieren noch zwischen der aufziehenden Konfrontation der Supermächte USA und China zerrieben werden wollen.
Zwei Beispiele aus den Jahren 2020 und 2021 zeigen, dass Merkel an ihrem Ansatz einer möglichst multilateralen Konfliktlösung festhält: Zum einen richtete die Bundesregierung die Libyen-Konferenz im Januar 2020 in Berlin aus, um die Kriegsparteien an einen Tisch zu bringen – zu denen nun auch Russland und die Türkei gehörten. Das barg das Risiko des Scheiterns, erleichterte aber nach Einschätzung der Bundesregierung, dass die libyschen Kriegsparteien 2021 den Weg der Bildung einer Einheitsregierung gingen (siehe auch den Kommentar auf S. 53 ff.). Ein Nebeneffekt: Die lange schwelende Konkurrenz zwischen Italien und Frankreich um Einfluss in Libyen wurde zumindest kanalisiert – damit eine gemeinsame europäische Position entstehen kann.
Zum anderen pochte Merkel Mitte 2020 in der Corona-Krise darauf, die Impfstoffbestellung in die Hände der EU zu geben. Denn auch wenn sich Deutschland möglicherweise schneller hätte bedienen können – die Kanzlerin sah die reale Gefahr eines Auseinanderfallens der EU. Die Emotionalität, mit der auch in Deutschland plötzlich ein „Germany and EU First“ bei der Impfstoffversorgung eingefordert wurde, zeigt die Sprengkraft des Themas. Zum Ende ihrer Amtszeit wirkte Merkel überzeugter als zu Beginn, dass die Einbettung in die EU im deutschen Interesse liegt.
Dauerbaustelle Bundeswehr
Allerdings macht gerade das Thema Libyen deutlich, wo die Achillesferse und die Grenzen der deutschen Außenpolitik nach 16 Jahren Merkel liegen. Denn nicht immer entsprang ihr Pochen auf den Einsatz von Soft Power nur reiner Überzeugung – es lag auch an der militärischen Machtlosigkeit Deutschlands und der EU sowie an dem Druck wechselnder Koalitionspartner, die Auslandseinsätze sehr kritisch sehen. Die fehlenden Fähigkeiten der Bundeswehr sind Merkels Ansicht nach ein ernsthaftes Problem; seit der Umwandlung von einer Wehrpflicht- in eine Berufsarmee und dem Wandel von einer Landesverteidigungs- in eine Interventionsarmee und wieder zurück gleicht sie einer Dauerbaustelle. Gegen Ende der Amtszeit Merkels haben sich dagegen Russland und die Türkei Militärstützpunkte auch vor der Südgrenze der EU gesichert.
Immerhin sind Deutschlands Verteidigungsausgaben auch auf Merkels Druck hin seit 2014 kontinuierlich gestiegen. Die Entsendung einer Fregatte nach Südostasien zeigt zusammen mit den Indo-Pazifik-Leitlinien der Bundesregierung zudem, dass sich die deutsche Politik im Geleitzug mit anderen westlichen Partnern langsam, aber sicher auf die neue Weltlage mit einem zunehmend auch militärisch offensiveren China einstellt.
Dr. Andreas Rinke ist Chefkorrespondent der Nachrichtenagentur Reuters in Berlin.
Internationale Politik 3, Mai-Juni 2021, S. 47-52