Stunde der Entscheidung
Wie „Merkozy“ die Grundlagen eines neuen Europas schufen
Die Länder der Euro-Zone haben die dramatischsten Monate seit der Gründung der Gemeinschaftswährung durchlebt. Deutschland als größte Volkswirtschaft spielte bei der Stabilisierung eine Schlüsselrolle – und war zusammen mit Frankreich treibende Kraft einer völlig neuen Architektur der EU. Eine Rekonstruktion.
Mit seiner Europa-Rede am 28. November 2011 in Berlin traf der polnische Außenminister Radosław Sikorski einen empfindlichen Nerv. Seit Wochen hatte halb Europa über Sinn und Unsinn einer deutschen Führungsrolle in der EU und bei der Lösung der Schuldenkrise diskutiert. Längst geisterte der Begriff eines „Vierten Reichs“ durch die britische Boulevardpresse, kurz nach dem Sikorski-Auftritt warf ein französischer Sozialist Bundeskanzlerin Angela Merkel in Anspielung auf den Eisernen Kanzler eine „Bismarck-ähnliche Politik“ vor. Seit Wochen schrieben die Medien angesichts einer engen deutsch-französischen Abstimmung nur noch vom Duo „Merkozy“. Und dann sprach ausgerechnet der polnische Außenminister den Satz: „Deutsche Macht fürchte ich heute weniger als deutsche Untätigkeit.“
Nichts hätte die dramatische Änderung der Stimmung deutlicher machen können. Noch ein Jahr zuvor war die deutsch-französische Abstimmung in Deauville von den Partnern verdammt worden. Doch je angeschlagener die südlichen Euro-Staaten waren, desto mehr rückte die 2011 ökonomisch immer noch boomende Bundesrepublik ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Mit steigenden Risikoaufschlägen für Staatsanleihen von Italien bis Frankreich veränderte sich der Blick auf Deutschland und dessen Finanzkraft. Doch es änderte sich auch der Blick der Deutschen auf Europa. Bundeskanzlerin Merkel korrigierte ihre Haltung entscheidend.
In der aufgeregten Debatte um Hilfsmaßnahmen und immer größere Garantiesummen in Milliarden-, dann Billionenhöhe ging unter, dass im Sommer und Herbst 2011 auf deutsches Betreiben eine weitreichende Weichenstellung für die Zukunft Europas vorgenommen wurde, die die EU in den kommenden Jahren prägen wird. Gleich, welche Form dies am Ende annehmen wird: Die Euro-Zone marschiert in der EU voran und schafft sich eigene Strukturen. Die Debatte um eine „Avantgarde“, um ein „Kerneuropa“ oder ein Europa der „konzentrischen Kreise“ ist seither keine theoretische mehr. Die gesamte Tektonik der EU ändert sich, die Kluft zwischen Randstaaten wie Großbritannien und einem immer enger zusammenarbeitenden Nukleus der 17 Euro-Staaten (und einiger Nicht-Euro-Länder) wächst dramatisch.
Drei entscheidende Schritte wurden in dieser Zeit gegangen: Erstens erhielt die Euro-Zone eine eigene feste Struktur auf Ebene der Staats- und Regierungschefs. Zweitens fiel die Vorentscheidung, die intergouvernementale Abstimmung weiter auszubauen, auch wenn EU-Institutionen wie die Kommission und der Europäische Gerichtshof eine Rolle in dem neuen Gefüge spielen. Und drittens wurde mit dem Angebot eines Austritts Griechenlands aus der Euro-Zone erstmals die Option einer Desintegration aus der Kerngruppe des Alten Kontinents klar angesprochen.
Zwei Gipfel bilden die Grenzsteine für diese Wende in der deutschen Europa-Politik, der EU-Gipfel am 21. Juli und der Euro-Zone-Sondergipfel am 26./27. Oktober – der als dramatisch beschriebene EU-Gipfel vom 8./9. Dezember vollzog letztlich nur noch die Umsetzung des zuvor entschiedenen Kurses. In dieser Zeit wurden die entscheidenden Weichen für Deutschland und die EU gestellt, die im Folgenden auf Grundlage von Gesprächen mit Vertretern der Bundesregierung, deutschen Politikern sowie europäischen Diplomaten nachgezeichnet werden.
1. Auf dem Weg zum Juli-Gipfel: das Prinzip „Leistung – Gegenleistung“
Jede Geschichte hat eine Vorgeschichte. Aber deren Beginn genau zu bestimmen, ist nicht einfach. Erstens wurden im Herbst 2011 Grundfehler der 1992 beschlossenen Euro-Konstruktion schmerzhaft sichtbar. Zweitens gingen die internationale Finanzkrise ab 2008 und die Schuldenkrise in der Euro-Zone nahtlos ineinander über. Bundeskanzlerin Merkel hatte schon auf dem Höhepunkt der Finanzkrise davor gewarnt, dass die immense Neuverschuldung durch die Rettungs- und Konjunkturprogramme in den westlichen Volkswirtschaften sehr schnell wieder zurückgefahren werden müsste, weil sonst neue Instabilitäten drohten – was in Griechenland, Irland und Portugal dann aus unterschiedlichen Gründen auch der Fall war. Drittens gab es schon in der Debatte um die gescheiterte europäische Verfassung und dann um den Vertrag von Lissabon klare Anzeichen dafür, dass die Strukturen und Arbeitsweisen der EU noch viel gründlicher überholt werden müssten. Eine Währungsunion ohne Politische Union blieb ein Konstruktionsfehler.
Aber den Beginn des dann tatsächlich erfolgenden Umbaus der EU kann man aus deutscher Sicht auf den 12. März 2010 datieren. An diesem Tag spricht sich Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble in einem Gastbeitrag für die Financial Times unter anderem für einen Europäischen Währungsfonds (EWF) sowie eine viel engere Koordinierung in der Euro-Zone aus. Er erwähnt die Notwendigkeit, dass Euro-Staaten die Währungsunion auch verlassen können müssten. Der angeregte Verlust von Stimmrechten für Defizitsünder, wenig später von der Kanzlerin wiederholt, würde automatisch Vertragsänderungen bedeuten. Entsetzt winken die EU-Partner nicht nur wegen des drohenden Stimmrechtsentzugs ab, sondern weil Verhandlungen und Ratifizierungen des Lissabon-Vertrags, der erst am 1. Dezember 2009 in Kraft getreten war, viel Kraft gekostet hatten. Im Oktober 2010 setzt die Bundesregierung deshalb nur noch eine sehr begrenzte Änderung durch, die den dauerhaften Rettungsschirm ESM im Lissabonner Vertrag verankern soll.
In dieser Vorgeschichte liegt der Schwerpunkt des deutschen Denkens aber auf etwas ganz anderem als auf den Ideen Schäubles. Angesichts der Milliardenhilfen für die ersten Euro-Staaten pocht die Bundesregierung zunächst darauf, dass bei den Rettungsmaßnahmen auf strenge Konditionalität geachtet wird – Leistung und Gegenleistung, nicht der Umbau der EU, lautet die Aufgabe. Dies bestimmt die Gespräche über das erste Griechenland-Hilfspaket, die Einrichtung des Euro-Rettungsschirms EFSF und die Programme für Portugal und Irland. Das gilt selbst für den dauerhaften Rettungsschirm ESM, bei dem Schäubles Ideen eines EWF zunächst keine Rolle spielen.
Die Phase des Aufspannens von immer neuen Schirmen nähert sich ihrem Ende, als die Euro-Finanzminister im Juli 2011 trotz des Drucks ihrer Regierungschefs keine Einigung mehr über ihr weiteres Vorgehen erzielen können. Die Euro-Rettung wird dadurch wider Willen endgültig zur Chefsache. Denn eigentlich will Merkel ohne Voreinigung der Finanzminister gar nicht zum regulären EU-Gipfel am 21. Juli reisen: Es sei nicht Aufgabe der Chefs, verschiedene Optionen, etwa zu einer Entlastung Griechenlands, zu prüfen; ein gescheiterter EU-Gipfel sei schlimmer als ein verschobener. Ausdrücklich wehrt sich Merkel zu diesem Zeitpunkt noch gegen Forderungen beispielsweise des niederländischen Finanzministers Jan Kees de Jager, dass Deutschland endlich führen müsse. Ohne die Einbindung Frankreichs gehe gar nichts, erklärt sie.
Dann lässt sie sich von EU-Ratspräsident Herman Van Rompuy doch überreden, zum Treffen nach Brüssel zu reisen, der als Italien-Krisengipfel angesehen wird. Denn Regierungschef Silvio Berlusconi hat schlagartig die Aufmerksamkeit der Finanzmärkte auf sein Land gelenkt, als er das Sparprogramm seines Finanzministers Giulio Tremonti in Frage stellt. Merkel ist entsetzt und besorgt, sie fürchtet die stärker werdenden Fliehkräfte in der EU. Im Süden liefern die Regierungen von Schuldenstaaten wie Griechenland oder Italien immer neue unangenehme Überraschungen. Und in den mit der Bonitäts-Bestnote AAA eingestuften Staaten wie Finnland, Niederlande und Österreich sind auch wegen der unpopulären Hilfen für die südlichen Partner rechtspopulistische Parteien auf dem Vormarsch. In Deutschland regt sich im Bundestag immer lauter Widerspruch gegen die Politik der Rettungsschirme, vor allem in der FDP. Dabei sei klar, dass am Ende nur mehr und nicht weniger Europa aus der Krise führen könne, betont die Regierung. Eine Antwort, wie dies zu bewerkstelligen sei, hat sie nicht.
2. Der Chaos-Gipfel und die Folgen, 21. Juli
Die Tage des 20. und 21. Juli 2011 markieren den Wendpunkt in der deutschen Euro-Politik, ohne dass dies den Akteuren zu diesem Zeitpunkt schon bewusst ist. Am 20. Juli trifft gegen 17 Uhr im Kanzleramt ein Gast ein, der sich kurzerhand selbst eingeladen hat. Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy steht unter Druck, denn die anhaltende Debatte um eine mögliche Herabstufung des AAA-Ratings Frankreichs zerrt an den Nerven des engsten deutschen Verbündeten. Am Folgetag muss der EU-Gipfel in Brüssel ein Ergebnis bringen – doch noch immer haben Deutschland und Frankreich keine gemeinsame Linie. Sarkozy lehnt einen von Deutschland mittlerweile als nötig angesehenen „weichen“ Schuldenschnitt für Griechenland wegen der befürchteten Folgen für die französischen Banken ab. Merkel wiederum hat sich festgelegt, dass der europäische Rettungsfonds EFSF nicht noch mehr Rechte erhalten soll. Auch sie ist nervös, weil ein Scheitern des Gipfels die Finanzmärkte völlig verstören würde.
Auf jeden Fall soll vermieden werden, dass erneut ein Gipfelergebnis zerredet wird. Deshalb erhält EZB-Präsident Jean-Claude Trichet mitten in der EZB-Ratssitzung in Frankfurt eine dringende Einladung ins Kanzleramt und macht sich auf den Weg nach Berlin. Noch in der Nacht übermitteln Merkel und Sarkozy an den EU-Ratspräsidenten Van Rompuy die Nachricht über die Einigung, dass es beides geben soll – eine weiche Umschuldung und einen effektiveren EFSF.
Das Wichtigste an diesem Gipfel ist aus deutscher Sicht aber, was nicht funktioniert. Denn in den Tagen und Wochen nach dem 21. Juli wächst in der Bundesregierung die feste Überzeugung, dass der ganze Ansatz der Krisenrettungen falsch ist. Die hektischen Notmaßnahmen beruhigen die Finanzmärkte nicht, zumal es bei der Umsetzung hakt. Wochenlang kommen keine Unterlagen zu dem EFSF-Vertrag aus der vom Generaldirektor des italienischen Schatzamtes, Vittorio Grilli, geleiteten Expertengruppe, der auch Finanzstaatssekretär Jörg Asmussen angehört.
Erschwerend kommt hinzu, dass sich die hektisch zusammengezimmerten Chefbeschlüsse des 21. Juli teilweise als unbrauchbar erweisen: Das Konzept für die „freiwillige“ Beteiligung der Banken mit einem 21-prozentigen Gläubigerverzicht lässt sich gar nicht umsetzen. Die entnervten und übermüdeten Staats- und Regierungschefs haben den Finnen zudem als Preis für die EFSF-Zustimmung einen kleinen Passus in der Abschlusserklärung zugestanden, der viel Zeit und Kraft kostet: Dass Finnland auf bilaterale Garantien für Hilfen an Griechenland pocht, verärgert die Partner und erzwingt ein wochenlanges Ausverhandeln eines Weges, der die Finnen zufrieden stellt, aber so unattraktiv sein muss, dass er andere Euro-Partner abschreckt, auch bilaterale Hilfen zu verlangen.
3. Abfahrt Richtung Euro-Zone, August
Ende Juli fährt Angela Merkel zu den Wagner-Festspielen nach Bayreuth und beginnt danach ihren Urlaub in Südtirol. Doch die Ruhe wird schnell gestört. Denn EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso spricht am 4. August über eine nötige erneute Aufstockung des EFSF, dessen Mittel nicht ausreichten. Neue Unruhe an den Märkten ist die Folge, die Kanzlerin ist zutiefst darüber verärgert, dass die Europäer die ausgehandelten Ergebnisse gleich wieder infrage stellen.
Mit etwas mehr Distanz zum Berliner Tagesgeschäft reift in enger Abstimmung unter anderem mit ihrem europapolitischen Berater im Kanzleramt, Nikolaus Meyer-Landrut, die Erkenntnis, dass es so nicht weiter gehen kann. Reparaturmaßnahmen sind nicht genug, um das Vertrauen in die Funktionsweise der Euro-Zone wieder herzustellen. Auch aus der Union kommen verstärkt Forderungen nach einem nötigen „Überbau“ – einer Richtungsentscheidung, mit der die Politiker dem Bürger sagen können, wohin die Reise geht.
In diesen Wochen, so berichten viele, reift bei Merkel die Idee, dass die deutsche und die europäische Politik aus der reinen Defensive und dem Nachdenken über Abwehrmaßnahmen in die Offensive kommen müssen. Meyer-Landrut organisiert aus dem Urlaub in Frankreich heraus das nächste Treffen mit Sarkozy und fährt nach Paris.
Die Ideen sind zwar noch unausgegoren, aber die Hauptrichtung der Entwicklung wird sehr schnell klar: Merkel hatte sie schon im Februar 2010 angelegt, als sie dem französischen Drängen nachgegeben hatte und erstmals die bis dahin verpönte Formel von der „Wirtschaftsregierung“ gebrauchte. Nun werden alte Ideen und Anregungen zur Weiterentwicklung der Euro-Zone wieder hervorgeholt und neu bewertet. Die politische Bombe lassen Merkel und Sarkozy am 16. August in Paris platzen. Frankreichs Präsident verkündet, dass die Chefs der Euro-Zone zweimal jährlich zusammenkommen und einen eigenen Präsidenten dafür erhalten. „Frau Merkel und ich schlagen vor, dass dieser Vorsitz von Herman Van Rompuy wahrgenommen wird.“ Die Elemente der angestrebten größeren Verbindlichkeit listet Merkel alle auf, etwa nationale Schuldenbremsen in allen 17 Euro-Staaten und Selbstverpflichtungen der Parlamente, Kritik der EU-Kommission an nationalen Haushalten ernst zu nehmen. Grob gesagt lautet der Kompromiss: Frankreich gibt den Weg vor, Deutschland die Inhalte.
Von Vertragsveränderung ist ausdrücklich keine Rede – im Gegenteil. Als Merkel in der Pressekonferenz danach gefragt wird, betont sie: „Ich sehe heute keine weitere Vertragsänderung. Ich sehe sie nicht.“ Dennoch: Ausschließen wolle sie diese nicht, zumal sie nicht die Erschöpfung der EU-Partner teile, die nach dem Lissabon-Vertrag gesagt hätten: „Wir wollen zu unseren Lebzeiten keine Vertragsänderung mehr.“ Prompt legt Sarkozy nach und preist den Weg der 17 als bessere Alternative zu einer Vertragsänderung.
Die Basis für eine schnelle weitere europäische Integration ist gelegt. Plötzlich sind die deutschen Medien voll mit Bekenntnissen führender Regierungsmitglieder für „mehr Europa“ als Antwort auf die Krise. „Ich möchte die Vereinigten Staaten von Europa noch selbst erleben“, meint Außenminister Guido Westerwelle. Schäuble spricht von einem europäischen Finanzminister. Und der neue FDP-Chef, Wirtschaftsminister Philipp Rösler, prägt den Ausdruck einer „Stabilitätsunion“, der einen Stabilitätsrat erhalten soll. Gemeinsam haben die schwarz-gelben Spitzen beschlossen, in die Offensive zu gehen.
Wie bitter nötig dies ist, zeigt die Stimmung in den Bundestagsfraktionen, die dem EFSF bald zustimmen sollen. Der CDU-Abgeordnete Wolfgang Bosbach wendet sich am 21. August offen gegen den EFSF. Um den Unmut zu kanalisieren, lässt die CDU-Vorsitzende eine Kommission einsetzen, die bis zum Bundesparteitag im November ein Papier über den europapolitischen Kurs schreiben soll. In einer Emnid-Umfrage geben nur 34 Prozent der Befragten an, dass Merkels Regierung den richtigen Kurs fahre. Auch Altkanzler Helmut Kohl spricht in der IP von einem „fehlenden Kompass“. Fast täglich hämmern Merkel und andere Regierungsmitglieder deshalb nun die Botschaft in die Welt, nur entschiedene neue Integrationsschritte im Rahmen der Euro-Zone brächten die Lösung.
4. Der Weg zu einem neuen Vertrag, 22. August bis Ende September
Ein entscheidender Schritt findet bizarrerweise in Belgrad statt, wo Merkel am 22. August vergeblich für eine Kooperation der serbischen Regierung mit den Kosovo-Albanern wirbt. Am Vormittag hat die Kanzlerin im CDU-Präsidium die Idee getestet, ob nicht der Europäische Gerichtshof (EuGH) eine Zuständigkeit für Verstöße gegen den Stabilitätspakt erhalten sollte. Am Abend sitzt die Kanzlerin im Hotel Hyatt Regency noch lange mit ihren Beratern Christoph Heusgen (Außen), Lars-Hendrik Röller (Wirtschaft) und Nikolaus Meyer-Landrut zusammen. Die EuGH-Idee wird weiter entwickelt, so dass sie die Idee auch am Dienstag in der Sondersitzung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion zum EFSF vorträgt.
Davor hat sie in der Pressekonferenz mit Präsident Boris Tadic noch neue Entschlossenheit durchschimmern lassen. „Wir als Politiker sind ja dazu da, schwere Probleme zu lösen“, sagte sie. Später wird sie noch auf einer CDU-Veranstaltung im hessischen Alsfeld den Satz prägen: „Jetzt haben wir die wunderbare Aufgabe, den Euro zu stabilisieren.“ Als die Kanzlerin am 30. August das kleine Euro-Land Slowenien besucht, redet sie in Ljubljana davon, dass man „mehr politische Union“ brauche.
Nur einen Tag später spricht Finanzminister Schäuble hinter verschlossenen Türen in der CDU/CSU-Fraktionsvorstandsklausur im Reichstagsgebäude in Berlin aus, was all diese Ideen im Grunde bedeuten: Er plädiert für eine Änderung des EU-Vertrags. Merkels Sprecher bremst die Debatte zunächst offiziell. Denn die Kanzlerin will auf Sarkozy und die nahende französische Präsidentschaftswahl im Frühjahr 2012 sowie auf die europaskeptische CSU Rücksicht nehmen.
Ganz neu ist die Idee der Vertragsänderung in der Bundesregierung nicht. CDU-Europaparlamentarier wie Elmar Brok hatten bereits beim gescheiterten EU-Verfassungskonvent vorgeschlagen, dass der EuGH auch bei Verstößen gegen den Stabilitätspakt zuständig sein sollte. Im Auswärtigen Amt ist der Vorschlag spätestens seit einer außenpolitischen Lagerunde Anfang Juni wieder präsent. Ein entsprechender Hinweis für die Vollendung der Wirtschafts- und Währungsunion findet sich auch schon am 1. Juli in der Vorlage für das Ministerbüro. Aber nun schaltet sich eine andere treibende Kraft ein – das Parlament. So warnt der Unionsfraktionsvize Michael Meister, dass ohne einen neuen EU-Vertrag die Rechte der Parlamente ausgehebelt werden könnten. „Nur eine Vertragsänderung könnte deshalb eine demokratische Kontrolle der Parlamente festschreiben“, mahnt er angesichts des „Ausnahmezustands seit 2007“, in dem Regierungen mit intergouvernementalen Regelungen weitreichendste Entscheidungen träfen.
Und der Chor wird größer und überparteilicher. Neben Altkanzler Kohl melden sich auch dessen Nachfolger Gerhard Schröder sowie der ehemalige Außenminister Hans-Dietrich Genscher zu Wort. SPD und Grüne drängen schon länger auf eine Vertragsänderung. Alle fordern angesichts der sich verschärfenden Schuldenkrise und der innerdeutschen Kritik am Rettungsschirm EFSF entschiedene neue Integrationsschritte.
Noch zögert die Kanzlerin: Denn bis zum 7. September wartet die Berliner Politik gespannt auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts über die Griechenland-Hilfen. Eine drohende Ablehnung hängt wie ein Damoklesschwert über der deutschen Europa-Politik. Dann aber fällt das Urteil überraschend europafreundlich aus: Das Bundesverfassungsgericht billigt Deutschlands Beitrag zur Euro-Rettung.
Fast zeitgleich geht Merkel selbst plötzlich mit der Forderung nach einer Vertragsänderung in die Offensive. Um den Euro zu erhalten, brauche es mehr Integration und Verlässlichkeit, sagt sie. „Deshalb werden wir um weitere Vertragsänderungen nicht herumkommen“, betont sie am 9. September erstmals in aller Klarheit. Ein zweiter Grund dafür ist, dass die CDU-Chefin die Union auf proeuropäischem Kurs halten will, weil der Entwurf des CSU-Leitantrags Europa für den Parteitag mit der Forderung nach einem Ausschluss notorischer Defizitsünder in eine andere Richtung weist. Allerdings: In dieser Phase kreist das Denken um eine eher mittel- bis langfristige Vertragsänderung.
Zunächst wird Merkels neue Festlegung in der deutschen Debatte kaum beachtet. Erstens arbeiten sich die Medien an den immer schlechteren Zahlen aus Griechenland ab. Zweitens sorgt Bundeswirtschaftsminister Rösler mit einem Vorschlag einer „geordneten Insolvenz“ für Griechenland für Aufregung und fängt sich dafür zunächst einen Rüffel von Merkel und Schäuble ein – bis die Entwicklung tatsächlich in die von Rösler skizzierte Richtung geht. Drittens kämpft die Regierung in diesen Tagen vor allem darum, eine eigene Mehrheit bei der Abstimmung über den EFSF zu sichern.
Als der Bundestag am 29. September – mit einer eigenen schwarz-gelben Mehrheit – das deutsche Zustimmungsgesetz zum reformierten EFSF billigt, rettet dies nicht nur die Koalition, sondern stärkt auch Merkels Stellung in der EU deutlich. US-Präsident Barack Obama gratuliert persönlich, das amerikanische Magazin Forbes kürt sie zur mächtigsten Frau der Welt. Die Wirkung des Abstimmungserfolgs ist zunächst paradox: Die übergroße Geschlossenheit des deutschen Parlaments hat einerseits gezeigt, wie entschlossen Deutschland ist. Aber die sehr knappe Kanzlermehrheit macht den EU-Partnern auch klar, dass Merkels Bewegungsspielraum in vielen der Streitthemen wie Euro-Bonds und anderen Kriseninstrumenten sehr begrenzt ist. Die nötige Rücksicht auf den gestärkten Bundestag ersetzt nun in den Verhandlungen in Brüssel den früheren Hinweis auf die Blockade-Rolle des Verfassungsgerichts.
5. Auf dem Weg zu einem neuen Europa, Oktober
Als Weltbank-Chef Robert Zoellick der Kanzlerin am 8. Oktober in einem Interview „Durchwurschteln“ vorwirft, empfindet eine nun entschlossene Merkel den Vorwurf als veraltet – und ärgert sich mehr, dass Zoellick am Vortag beim Treffen der internationalen Organisationen im Kanzleramt seinen Mund nicht aufgemacht hat. Merkel selbst ist gedanklich zu diesem Zeitpunkt viel weiter. Bereits am 9. Oktober verkünden die Kanzlerin und Frankreichs Präsident, dass beide Regierungen bis zum Monatsende ein umfassendes Paket vorlegen wollen. Die Zielrichtung ist klar: Sarkozy macht bei den Vertragsänderungen mit, Deutschland akzeptiert die Verstärkung des EFSF, die viele „Hebelung“ nennen.
Wie entschlossen die Deutschen sind, zeigt sich beim Allgemeinen Rat am 22. Oktober in Brüssel. Außenminister Westerwelle meldet sich als erster und hat nur ein Thema, das er energisch vorbringt: Deutschland wolle die Vertragsänderung – und das schnell. In Berlin plane man nun eine Veränderung, die Ende 2012 stehen soll. Dazu müsse der Dezember-Rat Vorschläge machen, die dann im Frühjahr 2012 entschieden werden könnten. Die anderen Außenminister sind vorgewarnt worden, es entspannt sich eine intensive und kontroverse Diskussion. EU-Ratspräsident Van Rompuy ist verärgert. Er meldet sich zu Wort und betont, dass er nichts von einem schnelleren Zeitplan halte. Dann verlässt er den Raum.
Auch Merkel drängt bei der Vorbereitung des anstehenden EU-Gipfels auf mehr Tempo. Wieder sind die Vorarbeiten nicht erledigt. So hat etwa die Europäische Bankenaufsicht (EBA) immer noch keine Zahlen für die nötige Rekapitalisierung der Banken geliefert. Erneut stellt sich die Frage, ob der EU-Gipfel stattfinden kann. Merkel hat den 21. Juli noch in schlechter Erinnerung und droht, nicht erneut zu einem Gipfel zu reisen, auf dem nichts beschlossen werden kann. Der Gipfel muss deshalb geteilt werden – am 26. Oktober wollen die Euro-Staaten separat tagen, um über den EFSF und Griechenland zu beraten. Das verärgert zwar Länder wie Großbritannien und die EU-Ratspräsidentschaft Polen, die beide als Nicht-Euro-Staaten fürchten, abgehängt zu werden. Aber viel tun können sie nicht. Sie reisen am 26. Oktober zur Gesichtswahrung zu einem kurzen Vortreffen aller 27 EU-Staats- und Regierungschefs, dann tagen die 17 Euro-Staaten alleine.
Merkel fühlt sich erneut bestätigt, dass eine harte Haltung trotz aller Warnungen keine Nachteile im Ringen um einen stabilen Euro bringt. Die Teilung hat an den Finanzmärkten keineswegs das vorhergesagte Chaos ausgelöst. Im Gegenteil: In der Nacht zum 27. Oktober gelingt den 17 Staats- und Regierungschefs dann ein größerer Wurf, der von „den Märkten“ zunächst goutiert wird: Der EFSF bekommt seine „Hebel“, Griechenland einen Schuldenschnitt – und die EU eine neue Konstruktion. Denn nun schreiben die 17 Staaten klar fest, dass sich die Euro-Zone zweimal jährlich gesondert treffen wird und sich einen eigenen Rahmen und einen Präsidenten geben will.
Aus deutscher Sicht aber ist der Clou an anderer Stelle versteckt: Im Abschlussdokument steht der Auftrag, dass bis zum Dezember-Gipfel ein Vorschlag für eine Vertragsänderung vorgelegt werden soll. Der größte EU-Staat hat damit sein strategisches Ziel auch gegen die anfänglichen Widerstände aus Frankreich erreicht: Vertragsänderungen stehen jetzt offiziell auf der europäischen Agenda. „Der Oktober-Gipfel ist damit das genau Gegenstück zum Juli-Gipfel“, meint ein Regierungsmitglied später. So wie mit wachsendem Abstand die Entscheidungen des Juli-Rates zerbröselt seien, so werde die wirkliche Bedeutung des Euro-Treffens am 27. Oktober erst mit wachsendem zeitlichen Abstand klar.
6. Nachspiel: die Umsetzung, November bis 9. Dezember
Zunächst aber stellt sich bei Merkel derselbe Frust ein wie schon im Sommer nach dem Verhalten von Barroso und Berlusconi. Denn am 31. Oktober kündigt ein innenpolitisch unter Druck stehender griechischer Ministerpräsident Giorgos Papandreou überraschend eine Volksabstimmung an. Die Finanzmärkte reagieren fast panisch, der positive Effekt des Euro-Zonen-Gipfels verpufft wieder. Bei Merkel wächst die Überzeugung immer weiter, dass nationalen Regierungen das Heft aus der Hand genommen werden muss.
Auf dem G-20-Gipfel in Cannes zeigt sich die neue Härte – und ein weiteres Element der neuen europäischen Konstruktion: Merkel und Sarkozy laden Papandreou vor und machen ihm den Ernst der Lage klar. Die Frage für das Referendum wird überarbeitet. Merkel und Sarkozy betonen erstmals offen: Wenn Griechenland die vereinbarten Reformen nicht mittragen wolle oder könne, könne es die Euro-Zone verlassen. In Griechenland wirkt diese Ankündigung disziplinierend. Aber auf den internationalen Finanzmärkten wachsen die Zweifel, ob die Euro-Zone nicht auseinanderbrechen könnte. Gerüchte über angebliche deutsch-französische Pläne einer Mini-Euro-Gruppe wabern durch Europa und um die Welt. Ausgerechnet in der Phase des starken Integrationsdrangs setzt sich der Gedanke an einen Zerfall der EU fest. Die Wirkung ist wiederum paradox. Denn je größer die Zweifel an der Zukunft der Euro-Zone werden, desto mehr besteht Merkel nun auf raschen Vertragsänderungen. Nur mit einem neuen verbindlichen Abkommen, betont sie in mehreren Reden, könne Investoren wieder die Gewissheit vermittelt werden, dass die Euro-Zone auf jeden Fall zusammenbleibe.
Im Kanzleramt geht es nun um die Endphase, die Umsetzung des Erreichten. Immer klarer bildet sich in enger Abstimmung mit den Franzosen heraus, dass man am besten das Protokoll 14 des EU-Vertrags ändern sollte. Weil es Skepsis bei den EU-Partnern gibt und die Ablehnung von EU-Ratspräsident Van Rompuy für die deutsch-französischen Pläne mehr als spürbar ist, beginnt Deutschland, die Idee mit der ganzen Wucht seiner Diplomatie zu propagieren. Die Botschafter in allen EU-Staaten werden bei den jeweiligen Regierungen vorstellig, die EU-Botschafter in Berlin werden informiert. Die Beamten im Kanzleramt telefonieren ohne Unterlass, um für ein neues Abkommen und eine EU-Vertragsänderung zu werben. Merkel selbst empfängt etliche Regierungschefs in Berlin und ruft eine Vielzahl der Partner an. Längst funktioniert der deutsche Regierungsapparat wie eine heimliche EU-Präsidentschaft.
Auch der britische Premierminister David Cameron sperrt sich bei einem Besuch in Berlin zunächst nicht mehr grundsätzlich gegen eine Vertragsänderung, zumal ihm die Kanzlerin versichert, dass Großbritannien nicht betroffen sein wird und sie die EU-Vertragsänderung auch will, um die EU-27 zusammenzuhalten. Allerdings besteht der Brite in einem Telefonat Ende November als Gegenleistung für eine EU-Vertragsänderung darauf, dass Großbritannien weitere „Opt-outs“ und ein Vetorecht bei künftigen Finanzmarktregulierungen erhält.
Die Antwort kommt umgehend: Die Kanzlerin warnt am 2. Dezember in der Regierungserklärung im Bundestag und dann noch deutlicher am 5. Dezember nach einem weiteren Treffen mit Sarkozy in Paris, dass man notfalls einen Vertrag neben dem Vertrag schließen werde. Die Entscheidung ist für die Bundesregierung zu diesem Zeitpunkt gefallen – notfalls heißt die Formel „Euro Plus“, bei der 17 Euro-Staaten, aber auch interessierte Nicht-Euro-Staaten voranmarschieren. Es sei mehr und nicht weniger Europa nötig, lautet die Begründung Richtung London.
Wieder prägt damit ein deutsch-französischer Kompromiss den letzten Baustein für die Neuordnung der EU: Sarkozy ordnet sich nun völlig dem Weg der Haushaltsdisziplin und dem offenen Konzept „Euro Plus“ unter. Merkel geht nicht nur den Weg einer „Avantgarde“ mit, sondern erklärt sich am Ende auch bereit, die stärkeren Eingriffsrechte der europäischen Ebene auf nationale Haushalte zu begrenzen. Der EuGH soll jetzt nicht direkt nationale Haushalte für illegal erklären können, sondern prüfen, ob die geforderten nationalen Schuldenbremsen so stark in den Verfassungen verankert sind, dass sie eine echte Haushaltsdisziplin der Euro-Staaten erzwingen. Der Integrationsweg entspricht damit stärker dem von französischer Seite bevorzugten intergouvernementalen Modell als dem von Berlin gewünschten Weg über die Gemeinschaftsmethode – aber er stößt auf weniger Vorbehalte bei den EU-Partnern.
Die Konsequenz bekommt vor allem der britische Premierminister auf dem EU-Gipfel am 8./9. Dezember in Brüssel zu spüren. David Cameron verhindert tatsächlich eine EU-Vertragsänderung, weil Deutschland und Frankreich die von ihm geforderten britischen Vetorechte ablehnen. Die Europäische Union muss den zweitbesten Weg gehen und die schärferen Regeln für die Euro-Zone zunächst außerhalb der EU-Verträge beschließen. Aber sofort wird deutlich, dass damit keinesfalls eine Spaltung der EU entlang der gemeinsamen Währung eingeleitet wird. Das neue Europa hat andere Grenzen. Alle anderen neun Nicht-Euro-Regierungen außer Großbritannien erklären auf dem Gipfel den Willen, sich dem neuen Abkommen zur Haushaltsdisziplin nach Möglichkeit anschließen zu wollen.
Dr. ANDREAS RINKE ist Publizist in Berlin.