Die heikle Frage der Enteignung
Auf Konten im Westen lagern große Guthaben der russischen Zentralbank. Dürfen und sollen sie konfisziert werden, um Kriegsschäden in der Ukraine zu bezahlen?
Die Geldknappheit des Westens beflügelt die Kreativität seiner Juristen. Rechtsexperten in Amerika und Europa suchen dringend nach einem legalen Weg, einen großen Schatz zu heben: die auf westlichen Konten eingefrorenen Reserven der russischen Zentralbank. Auf sagenhafte 300 Milliarden US-Dollar belaufen sich diese Guthaben – reichlich Geld, um den Finanzbedarf der Ukraine auf Jahre hinaus zu befriedigen und den Wiederaufbau des Landes voranzubringen. Begehrlichkeiten wecken zudem die im Westen eingefrorenen Vermögenswerte russischer Oligarchen, die sich laut US-Finanzministerium auf über 58 Milliarden Dollar belaufen.
Zur Größenordnung: 110 Milliarden Dollar haben die USA als größter Geldgeber bisher für die Ukraine aufgebracht; Präsident Joe Biden plant weitere 61 Milliarden an Ausgaben. Je mehr Erfolge aber sein Widersacher Donald Trump im Wahlkampf erringt, desto schlechter stehen die Chancen, das Paket zu verabschieden. Ebenso könnten Wahlerfolge von Rechtspopulisten in Europa die Unterstützung für die Ukraine bröckeln lassen. Welche Macht schon ein einzelnes Land hat, die von der EU geplanten Finanzhilfen von 50 Milliarden Euro über drei Jahre monatelang zu blockieren, hatte Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán demonstriert.
In wachsender Verzweiflung fordert die Ukraine deswegen immer dringender, die im März 2022 eingefrorenen russischen Zentralbankreserven zu ihren Gunsten zu enteignen. „Russland muss den vollen Preis für seine Aggression spüren“, sagt Präsident Wolodymyr Selenskyj. Zumindest aus moralischer Sicht spricht alles dafür, den Aggressoren zur Kasse zu bitten, um die schon im ersten Kriegsjahr auf über 400 Milliarden Dollar geschätzten Schäden wenigstens teilweise auszugleichen. Aus dieser Perspektive ist es ein großes Glück, dass Russland nicht mit einer Beschlagnahmung seiner Vermögenswerte gerechnet hatte. Nur deswegen lagen die Zentralbankgelder noch im Westen.
Moralisch richtig – aber juristisch, politisch und wirtschaftlich enorm heikel. Zwar ist im Völkerrecht festgeschrieben, dass ein Angreifer seinem Opfer Reparationen schuldet. Wie schwierig es trotzdem ist, eine belastbare Begründung für die Konfiszierung der russischen Reserven zu finden, zeigt allein die Tatsache, dass dies noch nicht geschehen ist. Hochwillkommen wäre das Geld bereits im ersten Kriegsjahr gewesen. Polen, die baltischen Staaten und Tschechien unterstützen eine Enteignung. Nach anfänglichen Zweifeln – und angesichts der näher rückenden Präsidentschaftswahlen – freundet sich auch die Biden-Administration mit der Idee an. Führende US-Senatoren beider Parteien bereiten bereits ein Gesetz vor.
Am skeptischsten sind Frankreich, Italien und Deutschland, wobei sich die deutsche Regierung auch in dieser Frage uneinig ist. Außenministerin Annalena Baerbock ist dafür; Finanzminister Christian Lindner dringt auf Vorsicht. Schaffe man mit Russland einen Präzedenzfall, so warnen Juristen, öffne man den Weg für andere Länder, durch die Enteignung deutschen Eigentums Reparationsleistungen für den Zweiten Weltkrieg zu erzwingen.
Wie weit reicht staatliche Immunität?
Über zwei juristische Konstruktionen debattieren die Fachleute: Enteignung durch einen Akt der Exekutive oder mittels einer Gegenmaßnahme.
In der ersten Variante geht es um die Frage, wie weit die staatliche Immunität reicht. Im Völkergewohnheitsrecht gilt der Grundsatz, dass kein Staat über einen anderen souveränen Staat zu Gericht sitzen darf. Bekräftigt wurde dieses Prinzip im „Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Immunität der Staaten und ihres Vermögens von der Gerichtsbarkeit“ von 2004, das zwar nicht in Kraft getreten ist, aber zum Völkergewohnheitsrecht gezählt wird. Es schützt im Ausland befindliches Staatseigentum vor dem Zugriff der dortigen Gerichte. Nicht eindeutig festgelegt ist, ob dieser Schutz auch für Exekutivbeschlüsse der jeweiligen Regierung gilt. Genau hier setzen die Befürworter der Enteignung an: Sie argumentieren, es sei zulässig, die Zentralbankreserven per Regierungsakt zu konfiszieren. Der Immunitätsschutz komme nicht zum Tragen, weil die Gerichtsbarkeit nicht beteiligt sei. Schließlich würden auch Sanktionen üblicherweise per Exekutivakt verhängt. Ebenso sei die Entscheidung vom März 2022, die russischen Reserven überhaupt erst einzufrieren, von den Regierungen getroffen worden. Doch was passiert, wenn Russland Einspruch vor Gericht einlegt? Und dieses dann ein Urteil spricht? Fällt das unter Gerichtsbarkeit? In der UN-Konvention von 2004 ist ein solcher Fall nicht abschließend geregelt, wie Christian Tietje von der Universität Halle-Wittenberg im Verfassungsblog schreibt. Anlass zur Vorsicht gibt die UN-Völkerrechtskommission, eine Versammlung herausragender Rechtsgelehrter, die von der Generalversammlung mit der Kodifizierung und Weiterentwicklung des Völkerrechts beauftragt ist. Sie hat deutlich gemacht, dass ein weites Verständnis von Gerichtsbarkeit anzulegen ist.
Die Juristen erkunden daher noch einen zweiten Weg: die Enteignung der russischen Zentralbankreserven mittels Gegenmaßnahmen. Solche Gegenmaßnahmen – früher sprach man von Repressalien – sind ein besonderes Instrument des Völkergewohnheitsrechts: Sie bezeichnen an sich völkerrechtswidrige Handlungen, die ausnahmsweise erlaubt sind, um einen anderen Staat, der zuvor das Völkerrecht gebrochen hat, zur Einkehr zu bewegen. Gerade wenn man zu dem Schluss kommt, dass die russischen Reserven durch staatliche Immunität geschützt sind, könnten sich Gegenmaßnahmen anbieten.
Moralisch wäre eine Beschlagnahmung richtig, aber juristisch, politisch, wirtschaftlich ist es heikel
Mit diesem Weg hat sich offenbar auch die US-Regierung angefreundet. Ende Dezember 2023 berichtete die Financial Times von einem Diskussionspapier, das US-Beamte für die G7-Staaten verfasst hätten. Eine Konfiszierung könne Russland „dazu bewegen, seine Aggression zu beenden“, zitiert die FT. Eine solche Gegenmaßnahme wäre eine legitime Reaktion auf die Invasion, wenn sie von Staaten durchgeführt würde, die von der Aggression „besonders betroffen“ seien. Dazu könnten auch Verbündete der Ukraine zählen. Die konfiszierten Gelder wären eine Art Vorschuss auf die Reparationsleistungen, die Russland der Ukraine schuldet.
„Da Gegenmaßnahmen ein Vorgehen erlauben, das normalerweise unzulässig ist, unterliegen sie strikten Einschränkungen“, warnte dagegen Juliane Kokott, Generalanwältin am Europäischen Gerichtshof, schon im Januar 2023 in der Zeitschrift für europarechtliche Studien. Beschrieben sind diese Einschränkungen in einem Artikelentwurf der Völkerrechtskommission, der 2001 von der UN-Generalversammlung verabschiedet wurde. Gegenmaßnahmen müssen proportional sein, sie müssen zeitlich befristet und reversibel sein, und sie dürfen nur dazu dienen, den das Völkerrecht verletzenden Staat dazu zu bringen, seine Völkerrechtsverletzung abzustellen. Ein weiteres Problem besteht darin, dass nicht klar ist, ob nur ein direkt vom Rechtsbruch betroffenes Land oder auch Drittstaaten – in diesem Fall die G7-Länder – Gegenmaßnahmen ergreifen dürfen.
Die Proportionalität ist das kleinste Problem: Schon nach einem Jahr Krieg beliefen sich die Schäden in der Ukraine laut einer gemeinsamen Schätzung der Ukraine, der UN, der Weltbank und der EU-Kommission auf 411 Milliarden Dollar. 300 Milliarden einzubehalten, dürfte daher in jedem Fall verhältnismäßig sein. Anders sieht es bei der zeitlichen Befristung und der Umkehrbarkeit aus: Sind die Zentralbankreserven erst eingezogen und ausgegeben worden, lässt sich die Maßnahme nicht mehr rückgängig machen. Befürworter argumentieren, Russland müsse ohnehin Reparationen bezahlen, wenn der Krieg zu Ende sei. Tue es dies in vollem Umfang, könne man die Reserven erstatten. Insofern könne deren Konfiszierung als befristet und reversibel gelten.
Noch problematischer ist die Situation, wenn es um den Zweck der Maßnahmen geht. Gegenmaßnahmen, sagt Ingrid Brunk, Juraprofessorin an der Vanderbilt Law School, seien keine Entschädigungsmethode, sondern hätten das Ziel, eine Verhaltensänderung zu bewirken. „Es ist ihr Zweck, den im Unrecht befindlichen Staat dazu zu bringen, seine Verpflichtungen zu erfüllen.“
Frust über juristische Sackgassen
Kann die Ukraine zumindest in den Genuss der eingefroren Oligarchen-Vermögen kommen? Auch hier raten die meisten Juristen ab. Die EU darf laut Grundrechte-Charta Eigentumswerte nur „gegen eine rechtzeitige angemessene Entschädigung“ enteignen. Nur wenn es hinreichende Belege für eine Straftat – normalerweise durch ein Gerichtsurteil gegen den Täter – gibt, darf sein Eigentum ohne Kompensation eingezogen werden. Das ist bei den meisten russischen Oligarchen kaum vorstellbar. Welches Verbrechen sollte ihnen ein europäisches Gericht nachweisen?
Belgien hat einen ersten Weg gefunden: Es besteuert russische Gewinne und schickt das Geld nach Kiew
So groß ist die Frustration über die juristischen Sackgassen, dass die EU kleinere Lösungen in Angriff nimmt. In einem ersten Schritt hat sie die europäischen Clearinghäuser verpflichtet, separate Konten für alle Anlage- und Zinsgewinne einzurichten, die die russischen Reserven generieren. In der Folge soll geprüft werden, ob diese Erträge der Ukraine übereignet werden können. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen schlug sogar vor, die russischen Assets zu investieren, um höhere Erträge zu erzielen (wobei Experten darauf hinweisen, dass Anlagen auch Verluste zeitigen können, die die EU am Ende ausgleichen müsste). „Kreative und löbliche europäische Vorschläge“ seien das, schreibt Ingrid Brunk. Machbar allerdings nicht: „Wenn das Geld Russland gehört und nur eingefroren ist, ist es schwierig zu erkennen, wie andere Länder Eigentumsrechte an den durch die Investitionen erzielten Gewinnen haben sollten.“
Rechtlich einwandfrei ist nur die Minimalmaßnahme, die Belgien in die Wege geleitet hat: die Gewinne aus den russischen Vermögenswerten besteuern und diese Steuereinnahmen an die Ukraine überweisen. Belgien hat eine Vorreiterrolle, weil der mit über 190 Milliarden Euro größte Teil der im Ausland eingefrorenen Notenbankreserven bei dem belgischen Zentralverwahrer Euroclear liegt. 2023 bekam Kiew 600 Millionen Euro an Steuern überwiesen; im laufenden Jahr sollen es 1,7 Milliarden Euro werden. An sich eine stolze Summe – die aber verblasst im Vergleich zu den 300 Milliarden Dollar. Immerhin prüft die EU die Erhebung von Zusatzsteuern auf die Gewinne.
Gemeinsames Vorgehen der G7?
Die schlechte Nachricht ist also, dass es keinen juristisch unbedenklichen Weg gibt, die russischen Zentralbankreserven zugunsten der Ukraine zu enteignen. Die gute Nachricht ist, dass dieses Vermögen – knapp die Hälfte der Gesamtreserven der russischen Notenbank – bereits in der Verfügungsgewalt westlicher Regierungen ist. „Possession is nine tenth of the law“ ist ein Sprichwort, das auf die normative Kraft faktischen Besitzes abzielt. Und das Völkerrecht entwickelt sich weiter, oft aufgrund von Vorstößen einzelner Staaten.
Wenn Amerika, Europa und Japan den Zugriff auf die russischen Zentralbankreserven wagen – und das können die G7-Staaten nur gemeinsam tun –, müssen sie nicht nur ihre besten Juristen an die Begründung setzen, sondern auch ihre Ökonomen und Diplomaten. Denn eine Enteignung Russlands hätte für das internationale Finanzsystem ebenso wie für das politische Standing des Westens erhebliche Folgen.
Russland selbst würde die Enteignung als klare Eskalation betrachten. Regierungssprecher Dmitri Peskow kündigte an, gegen jeden Enteignungsversuch vor Gericht zu ziehen. Russland werde zudem prüfen, welche Vermögenswerte es im Gegenzug konfiszieren könnte. Dabei dürfte es vor allem um die „Typ-C“-Konten von im Ausland ansässigen Unternehmen gehen.
Eine Enteignung wäre auch für andere Länder ein Präzedenzfall. In einem Konflikt mit den USA und ihren Verbündeten könnten sie das vom Westen vorexerzierte Recht beanspruchen, dessen Vermögenswerte einzuziehen. Zwar werden auch die Notenbanken solcher Länder nur schwer auf Anlagen in den Leitwährungen Dollar oder Euro verzichten können. Aber sie können sie bei Finanzinstitutionen tätigen, die nicht dem Zugriff des Westens ausgesetzt sind. Aus diesem Grund warnt Agathe Demarais vom European Council on Foreign Relations in einem Beitrag für Foreign Policy vor einer Fragmentierung des internationalen Finanzsystems. Sollte der belgische Zentralverwahrer Euroclear die Enteignung russischer Reserven ermöglichen, würden nichtwestliche Alternativen wie Chinas Securities Depository and Clearing für viele Länder attraktiver werden. Die Folge wäre, dass westliche Sanktionen für die Zukunft stark erschwert würden.
Noch größerer Flurschaden droht in politischer Hinsicht. Viele Staaten des Globalen Südens misstrauen – auch dank erfolgreicher russischer Desinformationskampagnen – den Motiven des Westens im Ukraine-Krieg. Jeder Versuch der USA und Europas, sich das Völkerrecht nach Gutdünken zurechtzulegen, würde sehr genau vermerkt werden. Wie schwierig die Stimmungslage für den Westen ist, zeigte sich im November 2022, als die UN-Generalversammlung darüber abstimmte, in Vorbereitung späterer Reparationszahlungen ein Register der Kriegsschäden in der Ukraine einzurichten. Zwar wurde die Resolution mit 94 gegen 14 Stimmen angenommen, doch 73 Länder enthielten sich.
Die Regierungen des Westens stecken in einem Dilemma: Entweder müssen sie sich über gewichtige juristische Bedenken hinwegsetzen, um Russland für den Überfall auf die Ukraine zur Kasse zu bitten, oder sie gehen ein Risiko ein, dass die Ukraine mangels finanzieller Mittel womöglich den Krieg verliert. Sollte es dazu kommen, würde Russlands Präsident Wladimir Putin für seinen Angriffskrieg belohnt. Das wäre das denkbar schlechteste Ergebnis, auch für das Völkerrecht.
Internationale Politik 2, März/April 2024, S. 83-87
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