Die grüne Revolution
Ein Masterplan für die globale Energiewende
Jedes Haus ein Minikraftwerk? Warum nicht, meint der Washingtoner Ökonom Jeremy Rifkin. Der Abschied von fossilen Brennstoffen und Atomenergie sei machbar und notwendig. Ob Rifkins Vision einer „dritten industriellen Revolution“ in allen Details Realität wird, steht
dahin. Ein wichtiger Debattenbeitrag ist sein Werk allemal.
Jeremy Rifkin ist ein ausgesprochener Fan der deutschen Energiewende – jenem Plan, sich von nuklearen und fossilen Brennstoffen zu verabschieden und in den kommenden Jahrzehnten ganz auf erneuerbare Energien umzusteigen; wobei der Begriff „Energiewende“ oder die Bezeichnung, die ihre eigentlichen Erfinder, die Grünen, verwenden („Green New Deal“), Rifkin nicht reicht: Bei ihm geht es um die „dritte industrielle Revolution“.
Rifkin, Gründer und Vorsitzender der Stiftung Economic Trends in Washington, ist als Querdenker bekannt. Seit fast 40 Jahren schreibt er Bücher, deren thematische Bandbreite von der Biotechnologie über Wirtschaft und Umweltverschmutzung bis hin zur postindustriellen Gesellschaft reicht. Seine Kritiker halten ihn für oberflächlich, seine Fürsprecher hingegen, darunter viele europäische Politiker wie Angela Merkel, loben sein mutiges, unkonventionelles Denken in einer Zeit, in der die Politik nur selten über den Tellerrand der nächsten Finanzkrise hinweg zu sehen vermag.
In seinem neuen Buch greift Rifkin viele seiner früheren Themen auf, geht aber einen gewaltigen Schritt weiter. Seiner Ansicht nach kommt unser Zeitalter der Verbrennungsmotoren samt Vorstadtidylle mit quietschenden Reifen zum Stehen. Die einzige Option, die verbleibe, sei eine Revolutionierung der Funktionsweisen unserer Gesellschaft. Die „dritte industrielle Revolution“ sieht eine Zukunft vor, die auf erneuerbaren und kohlenstofffreien Energiequellen und ihren Einsatz quer durch alle Wirtschafts- und Gesellschaftsbereiche basiert. Obwohl das skizzierte Szenario viel mit der deutschen Energiewende gemein hat, geht es doch viel weiter und läuft explizit auf eine Art Revolution hinaus.
Den Hintergrund bildet, wenig überraschend, der Niedergang des gegenwärtigen Zeitalters der „zweiten industriellen Revolution“. Seit dem Zweiten Weltkrieg wurde Wachstum, vor allem in den USA, mithilfe von durstigen Verbrennungsmotoren, Luftverkehr und Autobahnnetzen erzeugt, während in der Wirtschaft und darüber hinaus zentralisierte, hierarchische Strukturen vorherrschten. So viel Wohlstand und Fortschritt dieses System der Welt (zumindest der so genannten Ersten Welt) beschert haben mag, so schnell gelangt es nun an sein unweigerliches Ende. Versiegende Ölfelder, anhaltende Wirtschaftskrisen und die Ausbreitung des Internets läuten ein neues Zeitalter ein.
Netze mit Köpfchen
Der springende Punkt bei der „dritten industriellen Revolution“ ist der Umstieg von fossilen Brennstoffen auf ein „grünes“, erneuerbares Energiesystem, bestehend aus Solar- und Windenergie, Biomasse sowie Hydro- und Geothermal-Quellen. Ein zentraler Bestandteil einer solchen Energiewende wird die Schaffung eines intelligenten Stromnetzes sein. Dieses ermöglicht es vielen Kleinanbietern etwa von Wind- oder Solaranlagen, den Strom ins allgemeine Netz einzuspeisen. Solche Netze existieren bereits, auch in Deutschland. Hier legt der Staat den Preis fest, zu dem die Kleinanbieter ihren Strom abgeben können. Mit Hilfe von innovativen Kommunikationstechnologien könnte ein interaktives Energienetzwerk geschaffen werden, in dem das Kaufen und Verkaufen von Energie so einfach sein wird, wie man es heute schon von Musikstücken im Internet kennt.
Eine solch existenzielle Veränderung in der Erzeugung und Verteilung von Energie würde nicht etwa unseren Lebensstandard aufs Spiel setzen, sondern ihn absichern und möglicherweise sogar die Armut in der Dritten Welt verringern. Durch die innovationsträchtige „dritte industrielle Revolution“ würden in verschiedensten Branchen Hunderttausende, wenn nicht Millionen neuer Jobs geschaffen. Dies gelte nicht nur für die erneuerbaren Energien, sondern auch für den Bau- und Immobiliensektor. In der Technologiebranche werde die enorme Nachfrage an Wasserstoffspeicherungstechnologien oder an Wasserstoff- und Elektroantrieben für den Transport einen Boom erzeugen. Darüber hinaus, prophezeit Rifkin, würden sich Politik, internationale und soziale Beziehungen mindestens in dem Ausmaß verändern, wie die zweite industrielle Revolution die Nachkriegszeit geprägt hat.
Rifkins Zukunftsvision sieht vor, dass jede Stadt oder Region ihren Strom aus unterschiedlichen Kombinationen erneuerbarer Quellen bezieht. Jedes Gebäude, ob Büro, Wohnhaus oder Einkaufszentrum, könnte ein potenzielles Minikraftwerk werden, das Strom produziert – je nach Gegebenheiten durch Wind- oder Sonnenenergie, Wasserkraft, gewonnen beim Abwasserabfluss, durch Erdwärme oder Kompostierung.
Schon jetzt hat sich die florierende Branche der Erneuerbaren darauf verlegt, winzige Photovoltaikteilchen direkt in Dachziegel, Wände, Glasflächen und Rolladen einzubauen. Selbst kompakte Windkraftanlagen können nun schon auf die Dächer von Wohnhäusern montiert werden. Zwar ist man oft noch auf staatliche Zuschüsse angewiesen, jedoch, argumentiert Rifkin, wurden auch schon die Energiequellen der zweiten industriellen Revolution stark subventioniert. Endlich, so Rifkin, müsse es keinen Kompromiss mehr geben zwischen wirtschaftlichem Erfolg und Nachhaltigkeit. Die Um- und Nachrüstung von Gebäuden mit dem Ziel, eine größere Energieeffizienz zu erreichen, werde einen enormen Bauboom zur Folge haben.
Alternative Antriebstechnologien
Bei Rifkin findet sich eine ganze Reihe von Beispielen, von Utrecht bis China, die zeigen, dass erneuerbare Energien und alternative Antriebstechnologien auf dem Vormarsch sind. So sind schon heute 4000 Elektroautos auf den Straßen von Oslo unterwegs. Rifkin hält auch weiterhin am Konzept des wasserstoffbetriebenen Autos fest, während viele seiner Kollegen diese Innovation abgeschrieben haben.
Ein größer werdendes Netzwerk, in das der Stromüberschuss von privaten Kleinerzeugern eingespeist wird, findet naturgemäß bei den Energiekonzernen nur wenig Anklang. Dabei könnten auch sie laut Rifkin zu den Gewinnern seiner Revolution gehören. Nach seinen Vorstellungen würden sie sich aus der eigentlichen Stromproduktion zurückziehen und sich stärker dem Vertrieb widmen, also dem Managen von Kauf und Verkauf des Stroms. Natürlich könnten sie trotzdem auch weiterhin selbst grüne Energie zum System beisteuern.
Kein Zweifel, die „dritte industrielle Revolution“ würde unser Leben revolutionieren. Hierarchien würden abgebaut, Macht würde dezentralisiert. Als einen Hauptfaktor sieht Rifkin die Entwicklung des Internets: „Die Demokratisierung der Informations- und Kommunikationswelt hat die Natur des globalen Handels und der sozialen Beziehungen gravierend verändert, in einem solchen Ausmaß, wie es die Erfindung des Buchdrucks getan hat. Stellen Sie sich vor, welche Auswirkungen eine Demokratisierung der Energieversorgung hätte, wenn diese online koordiniert werden kann.“ Wenn Energieproduktion und -politik eine lokale und gemeinschaftliche Angelegenheit werden, kann jede Stadt oder Gemeinde für sich selbst entscheiden, wie sie mit dem Energiebedarf, den Verkehrsnetzen und der Stadtplanung umgehen will.
Tatsächlich begeistert sich Rifkin etwas zu sehr für seine eigene Vision. Seine Argumente und Thesen werden immer weniger stichhaltig, je weiter er sich von seinen Kernthemen Energie und Volkswirtschaft entfernt. Nach seiner Überzeugung wird die „dritte industrielle Revolution“ wie das Zeitalter der Aufklärung jeden Aspekt unseres täglichen Lebens neu konfigurieren. Von Besitzrechten bis hin zum Grundschulwesen würde alles neu definiert und ausgerichtet auf das Grundethos der Revolution: Gemeinschaftlichkeit, Selbstversorgung, Umweltgerechtigkeit, Grenzenlosigkeit.
Wird es dazu kommen? Vielleicht, vielleicht auch nicht. Rifkins „dritte industrielle Revolution“ muss aber gar nicht alle Probleme unserer Welt lösen, um einen wichtigen Debattenbeitrag zu liefern.
PAUL HOCKENOS ist freier Autor in Berlin.
Jeremy Rifkin: Die dritte industrielle Revolution. Die Zukunft der Wirtschaft nach dem Atomzeitalter. Frankfurt am Main: Campus Verlag 2011, 304 Seiten, 24,99 €
Internationale Politik 2, März/ April 2012, S. 139-141