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01. Jan. 2017

Die große Kluft beim Klima

Mehr Redlichkeit täte der Umweltdebatte gut

Ambition und Realität klaffen beim Klimaschutz weit auseinander. Zu unterschiedlich sind die Interessen und Logiken einiger der Beteiligten, zu groß der stillschweigende Opportunismus anderer. Schon lange verweisen Fachleute auf etliche Widersprüche in der Klimapolitik. Doch nur ganz allmählich dringen sie damit zu den Entscheidern durch.

Am Ende der jüngsten Klimakonferenz der Vereinten Nationen feierten die Teilnehmer mit viel Pathos ihre Beschlüsse, die den Weg in eine klimafreundliche Zukunft weisen sollen. Nicht zum ersten Mal: Das Treffen im vergangenen November in Marrakesch war bereits die 22. Auflage eines Formats, das man 1995 in Berlin aus der Taufe gehoben hatte.

Mit den Jahren ist die Kluft zwischen den bekundeten Ambitionen und den tatsächlichen Maßnahmen in der globalen Klimapolitik allerdings nicht kleiner geworden – im Gegenteil. Auch die Ergebnisse von Marrakesch werden diese aus Sicht von Fachleuten problematische Entwicklung nicht umkehren. Das offensichtlichste Beispiel dafür lieferte die vorletzte UN-Klimakonferenz: Mit der Übereinkunft von Paris im Dezember 2015 einigten sich die Konferenzteilnehmer, die so genannte Zwei-Grad-Marke nicht überschreiten zu wollen: Die globale Mitteltemperatur soll nicht mehr als zwei Grad Celsius über das vorindustrielle Niveau steigen. Angestrebt wird sogar eine Begrenzung der Erwärmung auf maximal 1,5 Grad.

Die jüngsten klimapolitischen Entscheidungen widersprechen dieser Willensbekundung allerdings: In Paris haben die Staaten freiwillige Selbstverpflichtungen zum Klimaschutz eingereicht, die so genannten „Nationally Determined Con­tributions“. Diese laufen gemäß Berechnungen auf eine Erwärmung um mehr als drei Grad Celsius hinaus. Demnach würde das selbstgesteckte Klimalimit um mindestens ein Grad überschritten werden.

Das nationale Klimaziel Deutschlands ist ein weiteres Beispiel für die mangelnde Übereinstimmung zwischen Ambition und Realität. Eigentlich hat sich die Regierung zum Ziel gesetzt, den Ausstoß von Treibhausgasen bis zum Jahr 2020 um 40 Prozent zu senken (gegenüber 1990). Das bedeutet, dass die Emissionen von 2016 bis 2020 um mehr als 17 Prozent fallen müssten, um das Ziel noch einhalten zu können. Danach sieht es derzeit aber nicht aus. In jüngster Zeit wurden die Emissionen viel zu langsam verringert: Laut Umweltbundesamt hat Deutschland seinen Treibhausgasausstoß im vergangenen Jahrzehnt nur um rund 10 Prozent reduziert. Das bedeutet, dass man von 2016 bis 2020 die Emissionen mehr als dreimal so schnell reduzieren müsste wie im Zeitraum 2006–2015. Das ist realistisch betrachtet so gut wie unmöglich. Auch mit dem unter Ach und Krach beschlossenen „Klimaschutzplan 2050“ würde man das Ziel verfehlen.

Wort versus Wirklichkeit

National wie global hat sich also ein deutlicher Kontrast zwischen Politikerwort und Wirklichkeit entwickelt. Oliver Geden von der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin überrascht das nicht. Er verweist zur Erklärung auf die Zwänge und Gewohnheiten des politischen Geschäfts. „Politische Organisationen wie die Vereinten Nationen, die EU, nationale Regierungen und politische Parteien müssen sich ständig externe Unterstützung sichern, sind aber mit inkonsistenten Forderungen verschiedener Stakeholder konfrontiert“, schreibt er in einem Kommentar für das Fachmagazin WIREs Climate Change (Frühjahr 2016). Politische Entscheidungsträger sähen Reden, Beschlüsse und Maßnahmen als voneinander unabhängige organisatorische Produkte an.

Mögen die Beschlüsse also noch so gut klingen – sie ziehen keine angemessenen Maßnahmen nach sich. Beim Klima ist manchmal sogar das Gegenteil der Fall. Dass man sich ehrgeizige Langzeitziele für den Klimawandel gesetzt habe, sei nicht eine Vorbedingung für angemessene Maßnahmen gewesen, so Geden, sondern ein Ersatz dafür.

Selbst innerhalb beschlossener Pläne, etwa dem deutschen Klimaschutzplan 2050, können starke Widersprüche auftreten. „Da passen manche Dinge einfach nicht zusammen, zum Beispiel die im Verkehrssektor angestrebten Ziele und die dafür vorgesehenen Maßnahmen“, meint Brigitte Knopf, Generalsekretärin des Mercator Research Institute on Global Commons and Climate Change in Berlin. Eine strategische Absicht, bewusst einen in sich inkonsistenten Klimaschutzplan zu erstellen, kann sie nicht erkennen. Die Widersprüche resultierten eher daraus, dass die beteiligten Akteure und Institutionen nach ihren jeweils eigenen Logiken handeln. Die Stakeholder hätten jeweils in sich konsistente, aber unterschiedliche Erwartungen.

Man kann unterschiedlich auf derartige Inkonsistenzen reagieren. In Debatten über Klimapolitik ist die Tendenz zu beobachten, Widersprüche zu ignorieren. Die Größe der klimapolitischen Herausforderung wird dazu bei Bedarf heruntergespielt. Das geschieht etwa, um Entscheidungsträgern einen Gesichtsverlust zu ersparen. Zudem haben wissenschaftliche Berater ein genuines Interesse daran, sich ein gutes Verhältnis zu ihren Auftraggebern zu bewahren. In solchen Fällen lautet die Botschaft oft, dass es wirklich fünf vor zwölf sei, dass aber geeignete Maßnahmen das Schlimmste abwenden könnten.

So ist oft zu hören, ein Unterschreiten der Zwei-Grad-Marke sei selbstverständlich noch möglich, obgleich das mit bisher angekündigten Maßnahmen kaum mehr erreicht werden kann. Als Belege für ihren Optimismus verweisen Fachleute auf entsprechende Szenarien, die mit Computermodellen erstellt wurden.

Kohlendioxid einfangen

Nun gibt es diese Berechnungen tatsächlich. Doch sie enthalten ziemlich problematische Annahmen. Viele der Szenarien setzen nicht nur eine ex­trem schnelle Verringerung der Emissionen voraus, sie sehen zudem eine technische Maßnahme zum Klimaschutz vor, deren Einsatzfähigkeit und Machbarkeit in hohem Maße fraglich sind: die Entfernung von Kohlendioxid aus der Atmosphäre (Carbon Dioxide Removal / CDR). Entscheidungsträgern sei es oft nicht bekannt, dass Klimaszenarien einen so gewaltigen Einsatz von CDR-Techniken voraussetzten, schreiben die Klimaforscher Kevin Anderson und Glen Peters im Wissenschaftsmagazin Science.

Zum Einfangen von Kohlendioxid sind verschiedene Methoden entwickelt worden. Die vielversprechendste heißt „Bio-Energy with Carbon Capture and Storage“, kurz BECCS. Das Konzept sieht vor, Energiepflanzen anzubauen, die der Atmosphäre via Fotosynthese Kohlendioxid entziehen. Bei der Verbrennung der Pflanzen wird anschließend Kohlendioxid frei, das man aus dem Abgas abtrennt und speichert. Es hat zwar eine ganze Reihe von Versuchen mit der Technik gegeben, doch derzeit existiert weltweit nur eine einzige großskalige ­Demonstrationsanlage (in Decatur, Illinois), mit der die Machbarkeit von BECCS nachgewiesen werden soll. In Deutschland hat sich schon die Erprobung der CCS-Technik als politisch nicht durchsetzbar erwiesen.

Anderson und Peters zufolge kommen nur sehr wenige jener Klimaszenarien, die mit der Zwei-Grad-Marke zu vereinbaren sind, ohne eine solche CO2-Entfernung aus. Bedenke man, wie wichtig CDR für Szenarien zum Klimaschutz sei, dann sei es bestürzend, wie wenig darüber in der klimapolitischen Debatte gesprochen werde, meinen Anderson und Peters. Wenn sich das nicht ändere, sei das Risiko hoch, dass die Techniken für die CO2-Entfernung nicht in dem Ausmaß bereitgestellt werden könnten, in dem sie benötigt würden.

Und die Herausforderung ist groß: Naomi Vaughan und Claire Gough vom britischen Tyndall Centre for Climate Change Research haben die benötigten Kapazitäten von BECCS kürzlich für die Environmental Research Letters unter die Lupe genommen. In den meisten Szenarien wird der Einsatz von BECCS ab dem Jahr 2020 veranschlagt. Mitte des 21. Jahrhunderts sollen pro Jahr zwischen zwei und zehn Milliarden Tonnen CO2 gespeichert werden; bis 2070 soll diese Rate auf 20 Milliarden Tonnen jährlich steigen.

Das Problem bei einer Installation von BECCS-Anlagen in dieser Größenordnung liegt laut Vaughan und Gough weniger in der Speicherung von CO2, sondern im Anbau der Energiepflanzen. Schätzungen zufolge müssten diesem Zweck Hunderte von Millionen Hektar Land gewidmet werden – ein Vielfaches der Fläche Deutschlands. Nicht nur die Autorinnen dieser Studie halten das für unrealistisch.

Es ist nicht ganz einfach, kon­struktiv mit den Inkonsistenzen zwischen Anspruch und Wirklichkeit der Klimapolitik umzugehen. Zunächst einmal muss außerhalb der Fachwelt ein Bewusstsein dafür geschaffen werden. Oliver Geden fordert, dass sich Wissenschaftler nicht länger vor den Karren der Politik spannen lassen. Diese Forderung könnte aber leicht als gut gemeinter, etwas akademischer Appell versanden.

Wahrscheinlich müssten sich auch die Anreizstrukturen für beratende Wissenschaftler ändern. Wer über unbequeme, aber nachweisbare Inkonsistenzen in der Klimapolitik berichtet, sollte dafür von Fachkollegen anerkannt, von den Medien wahrgenommen und von Politikern und Vertretern relevanter Organisationen unvoreingenommen angehört werden. Erst dann kann überhaupt die Diskussion darüber beginnen, wie sich Inkonsistenzen überbrücken lassen.

Brigitte Knopf sieht immerhin erste Anzeichen für eine Besserung: Seit das Abkommen von Paris verabschiedet worden sei, laufe die Debatte über konsequenten Klimaschutz offener, werde der Widerspruch zwischen ambitionierter Klimapolitik und den bisher unzureichenden Maßnahmen in der Öffentlichkeit stärker diskutiert.

Möglicherweise würde eine realistischere Debatte darauf hinauslaufen, dass man sich in der Klimapolitik weniger ambitionierte, aber dafür konkretere Ziele setzt, deren Einhaltung dann auch überprüft wird. Wer aus Angst vor vermeintlich demotivierenden Botschaften Widersprüche verschweigt, läuft Gefahr, Illusionen zu nähren.

Dr. Sven Titz arbeitet als freier Wissenschaftsjournalist mit den Schwerpunkten Klima und Geowissenschaften in Berlin.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 1, Januar/Februar 2017, S. 116-119

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