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26. Aug. 2014

Kleine Schritte statt großer Wurf

Wie sich der Klimaschutz auch ohne globales Abkommen vorantreiben lässt

Die Verhandlungen über einen weltweiten Vertrag zur Einhaltung der Zwei-Grad-Grenze kommen nicht weiter. Dafür aber gewinnen pragmatische Ansätze an Popularität. Ihr Grundgedanke: Wäre es nicht sinnvoll, den Wettbewerb um kohlenstoffarme, effiziente und günstige Energielösungen mit Armutsbekämpfung und Stadtplanung zu verknüpfen?

20 Jahre nach  Inkrafttreten des UN-Rahmen­übereinkommens zum Klimawandel (UNFCCC) im Jahr 1994 wartet die Welt noch immer auf einen globalen Vertrag zur raschen Verringung des CO2-Ausstoßes.

Dabei treten die Verhinderer eines globalen Vertrags immer selbstbewusster auf: Autoren des UN-Klimarats (IPCC) berichteten, sie hätten Teile der Zusammenfassung für Politiker, die sie für den dritten Teil des Klimaberichts angefertigt hatten, auf politischen Druck hin zusammenstreichen müssen. Das ist keine Petitesse, sondern könnte ein Indiz dafür sein, dass sich eine Wende in der Diskus­sion über die Klimapolitik anbahnt.

In diesem dritten Teil des UN-Klimaberichts geht es im Wesentlichen um Strategien für den Klimaschutz. Der Streit um die Zusammenfassung entbrannte an der Frage, wie der Ausstoß von Treibhausgasen nach Ländergruppen unterschiedlicher Wirtschaftskraft aufzuschlüsseln sei. Aus einer solchen Bilanzierung im Klimabericht von 2007 waren damals politische Klimaziele abgeleitet worden – insbesondere für europäische Länder.

Informative Grafiken zu den Emissionen je nach Wirtschaftskraft finden sich auch im neuen Bericht: Sie zeigen, dass die größten Mengen an Treibhausgasen – historisch betrachtet – in den Industrieländern emittiert wurden, dass die höchsten Wachstumsraten an Emissionen heute aber in aufstrebenden Ländern zu verzeichnen sind.

All dies wurde in der Zusammenfassung gestrichen, da es die Klimaverhandlungen in einer Weise hätte beeinflussen können, die manchen der Beteiligten nicht recht gewesen wäre. Zu den intervenierenden Ländervertretern zählten die aus Brasilien und China. Fehlen die Informa­tionen aber in der von den Regierungen ab­gesegneten Zusammenfassung, können sie kaum Wirkung erzielen.

Der Vorfall zeigt einmal mehr, dass die Wissenschaft gegenüber der Po­litik einen schweren Stand hat. Ei­nen Verbesserungsvorschlag machten kürzlich David Victor, Experte für Umweltpolitik an der University of California in San Diego, und zwei weitere Autoren des UN-Klimarats: In Zukunft solle mehr Wert auf Klima­berichte gelegt werden, die in den Einzelstaaten angefertigt werden. Nationale Berichte würden den jeweiligen Umständen besser gerecht; außerdem sei es dadurch möglich, die sehr verschiedenen wissenschaftlichen Standpunkte vollständiger abzubilden, schrieben sie Anfang Juli im Magazin Science.

Kleinere Brötchen werden nicht nur in der Beratung der Klimapolitik gebacken, sondern auch in der Klimapolitik selbst. In der Öffentlichkeit wird diese zumeist mit den internationalen Verhandlungen über die Zwei-Grad-Grenze verbunden – und mit den Folgerungen, die daraus gezogen werden. Vieles deutet aber darauf hin, dass sich die Ausrichtung der Klimapolitik gerade ändert.

Je mehr Länder dabei mitwirken sollen, den Ausstoß an Treibhaus­gasen zu senken, desto unwahrscheinlicher werde es, dass ein einzelnes Programm mit bindenden Zielen und Zeitplänen funktioniere, schreiben Victor und seine Mitautoren. „Um zu verhindern, dass der politische Prozess durch das wiederholte Scheitern großer Klimagipfel endgültig seine Legitimation verliert, hat die Klima­diplomatie faktisch Abstand davon genommen, sich an der ganz großen Lösung abzuarbeiten“, konstatierte Oliver Geden, Experte der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin (SWP), in einem Beitrag am 4. Juni in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.

Entziehen sich die beteiligten Akteure bindenden Verpflichtungen zur Emissionsverringerung immer wieder, dann lässt der Anreiz nach, die Diskussion weiterzuführen. Klima­politische Ansätze, die darauf ausgerichtet sind, konkrete Fortschritte zu erreichen, ohne ein globales Verhandlungsziel vor Augen zu haben, werden daher immer beliebter. Statt für eine globale Deckelung des Treibhausgasausstoßes einzutreten, empfehlen „Klimapragmatiker“ wie Victor, vorrangig die Entwicklung von kohlenstoffarmen Energiequellen so­wie von Techniken effizienter Energienutzung zu fördern, damit diese sich später auf dem Markt durchsetzen können.

Armutsbekämpfung vor Klimaschutz

Besonders konsequent vertritt diesen Klimapragmatismus das „Break-through Institute“ in Kalifornien. Im April gab die Denkfabrik – zusammen mit dem Consortium for Science, Policy, and Outcomes der Arizona State University – eine Stellungnahme heraus. Darin versuchen 13 Umwelt- und Energieexperten die Notwendigkeit klimapolitischer Maßnahmen mit dem globalen Wirtschaftswachstum zu versöhnen.

Zu den Autoren zählen bekannte Wissenschaftler wie Ted Nordhaus, Roger Pielke jr., Daniel Sarewitz und Michael Shellenberger. „Our High-Energy Planet“ (Unser Hochenergie-planet) lautet der Titel ihres Dokuments. Der Name ist Programm. Die Pointe der Breakthrough-Strategie besteht darin, die Entwicklungskurve, die alle industrialisierten Länder durchgemacht haben, begleitend im Sinne des Klimaschutzes zu nutzen, anstatt sie mehr oder weniger zu bekämpfen, wie dies in anderen Konzepten mitunter der Fall ist. Erst der rasante Ausbau der Energiesys­teme, so die Breakthrough-Experten, ermöglichte den Wohlstand, in dem Umweltschutz zu einer Priorität wurde und der Ausstoß an Treibhausgasen dank technischem Fortschritt wieder zu sinken begann. Diese Entwicklungstendenz wird also als unumstößlich akzeptiert.

In der Tat machen die aufstrebenden Staaten Asiens derzeit keine Anstalten, von der vorgezeichneten Entwicklungskurve wesentlich abzuweichen. „Wenn wir nicht die Armut bekämpfen und beseitigen, können wir kaum den Klimawandel angehen“, erklärte kürzlich der indische Umweltminister Prakash Javadekar. Wachstum sei notwendig; die Emissionen würden voraussichtlich noch steigen. Ein verpflichtendes Limit für die Emissionen lehnt Indien ebenso ab wie Brasilien und China.

Die Breakthrough-Experten gehen von der weithin geteilten Prämisse aus, dass eine gerechte, prosperierende und ökologisch nachhaltig ausgerichtete Gesellschaft erreicht werden soll. Wer sich dieses Ziel setze, der müsse vorrangig einen gleichberechtigten Zugang zu Energie anstreben. Noch habe mehr als eine Milliarde Menschen keinerlei Zugang zu Elektrizität. Die Entwicklungs- und Schwellenländer verstädterten derart rasch, dass ihre Energiesysteme stark ausgebaut werden müssten. Auch viele andere Entwicklungsrückstände seien aufzuholen: Fast drei Milliarden Menschen würden noch über offenem Feuer mit Holz, Kohle oder getrocknetem Dung kochen. Atemwegserkrankungen, die auf Luftverschmutzung in Innenräumen zurückzuführen seien, kosteten jährlich zwei Millionen Menschen das Leben.

Den Breakthrough-Autoren zufolge gibt es für die Umwandlung der Energieversorgung in Ländern wie Indien keine Musterlösung. Die Bedingungen seien dafür zu unterschiedlich. Die deutsche Energiewende gilt in der kalifornischen Denkfabrik daher keineswegs als Blaupause für die Entwicklung in anderen Ländern; das Konzept, das auf die Nutzung erneuerbarer Energiequellen zugeschnitten ist, sieht man eher skeptisch. Die Autoren empfehlen vielmehr technologischen Pluralismus: Man müsse bei allen Energiequellen Fortschritte erzielen – in der Kernenergie ebenso wie bei den fossilen Energiequellen, bei der Wasserkraft ebenso wie bei der Sonnen- und der Windenergie.

Gefährliches Wunschdenken?

Mit dem pragmatischen Ansatz liegt das Breakthrough Institute im Trend. Nach konkreten Lösungen für den Klimaschutz, die in ein ganzheitliches Entwicklungskonzept eingebettet sind, hat zuletzt auch die Weltbank gesucht. In der Studie „Climate-Smart Development“ stellen Fachleute anhand von Fallstudien Maßnahmen vor, die gleich in mehrfacher Hinsicht einen Nutzen versprechen – sowohl für das Klima als auch für die wirtschaftliche Entwicklung und die Gesundheit der Menschen. Der Ausbau der öffentlichen Verkehrsmittel sei ein Beispiel dafür: Er spare Treibstoff und Zeit, die Produktivität der Wirtschaft steige, und der Smog gehe ­zurück – das wiederum nütze der ­Lebensqualität und dem Tourismus. Durch Maßnahmen dieser Art könnten bis zum Jahr 2030 fast 100 000 smogbedingte vorzeitige Todesfälle vermieden und der Ausstoß an Treibhausgasen beträchtlich reduziert werden, heißt es in der Studie.

Bei orthodoxen Umweltschützern rufen derartige Strategien gelegentlich Widerstand hervor. Kritisch äußerte sich zum Beispiel der australische Ethikprofessor Clive Hamilton in einem Kommentar für das US-Magazin Scientific American (19. Juni): Er hielt den Pragmatikern à la Break­through Institute vor, die Gefahren der globalen Erwärmung zu unterschätzen und das Potenzial neuer Techniken zu überschätzen. Ihren Optimismus betrachtet Hamilton als gefährliches Wunschdenken.

Die Ernüchterung in der Klimapolitik ist allerdings inzwischen so groß, dass an pragmatischen Ansätzen kaum ein Weg vorbei zu führen scheint – ganz gleich, ob man sie nun als solche bezeichnet oder nicht. Es gibt da viele Spielarten. Die große Bandbreite an Lösungsoptionen sollte dabei helfen, mögliche Konflikte mit entschiedenen Umweltschützern zu entschärfen.

Neubelebung der US-Klimapolitik

Ein wichtiger Impuls könnte jetzt von der neu belebten Klimapolitik der USA ausgehen. Dort sollen die Emissionen von Kohlekraftwerken deutlich gesenkt werden. Anfang Juli schlossen die USA und China zudem mehrere Kooperationsabkommen ab, um moderne Techniken für Kohlekraftwerke nach Fernost zu trans­ferieren. Zu dem Paket zählen ausdrücklich auch Techniken zur Abscheidung und Speicherung von ­Kohlendioxid im Untergrund (CCS). Angesichts des mehrfachen Nutzens – Verringerung von Smog, Senkung der Kohlendioxid-Emissionen und Steigerung der Effizienz – ist diese Zusammenarbeit ein typisches Beispiel für einen pragmatischen ­Ansatz.

Kommunaler Klimaschutz

Konkrete Fortschritte im Klimaschutz werden auch von internationalen Netzwerken unterhalb der Regierungsebene erhofft. Ein Beispiel sind die „C40 Cities“: Dieser 2005 gegründete weltumspannende Städtebund hat sich zum Ziel gesetzt, den Treib­hausgasausstoß auf lokaler Ebene zu reduzieren. Dazu werden Best-Practice-Konzepte ausgetauscht und Preise verliehen. Typische Beispiele für Projekte von C40-Städten: In Oslo müssen bis 2015 alle städtischen Fahrzeuge elektrisch betrieben sein, wofür den Behörden zinslose Darlehen gewährt werden; in Wien sollen auf 240 Hektar Land in 8500 Hightech-Gebäuden klimaschonende Smart-City-Technologien getestet werden.

Inzwischen sind 69 Städte bei C40 mit dabei, darunter Megastädte wie Tokio, New York, Lagos und Mumbai, aber auch kleinere Städte wie die einzigen beiden deutschen Teilnehmer Heidelberg und Berlin. Heidelberg spielt auch auf europäischer Ebene eine Rolle. Bis 2015 hat die Stadt die Präsidentschaft von „Energycities“ inne, einem europäischen Zusammenschluss von Gemeinden, die sich einer lokalen „Energietransformation“ verschrieben haben.

Dabei geht es ebenfalls um den Austausch von Konzepten, gefördert durch Konferenzen, Studienreisen und Publikationen. Ob ein Bahnhof umweltschonend ausgebaut wird wie in Freiburg, Stadtviertel geplant werden wie in München oder die Wärmedämmung eines Gebäudebestands in Utrecht verbessert wird – die Initiative „Energycities“ dokumentiert Beispiele, wie sich die Aufgaben am günstigsten im Sinne des Klimaschutzes lösen und dabei möglichst viele Beteiligte einbeziehen lassen.

Pragmatische Ansätze zum Klimaschutz werden schon länger diskutiert, haben aber in letzter Zeit angesichts der stockenden globalen Klimaverhandlungen an Bedeutung gewonnen. Besonders relevant sind solche Ansätze vor allem bei der Energieversorgung in Entwicklungs- und Schwellenländern und bei der Stadtplanung. Derzeit gibt es schon einen regen Austausch von Best-Practice-Beispielen. Die Institutionalisierung der neuen Ansätze hat gerade erst begonnen.

Dr. Sven Titz arbeitet als freier Wissenschaftsjournalist in Berlin.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 5, September/Oktober 2014, S. 97-101

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