Die globale Volksbefreiungsarmee
Chinas Militär wird im Ausland aktiver – Europa muss sich darauf einstellen
Noch gibt es erhebliche Diskrepanzen zwischen Pekings globalen Ambitionen und den Kapazitäten seines Militärs. Aber es führt kein Weg daran vorbei: China wird zu einem wichtigen sicherheitspolitischen und militärischen Akteur in der erweiterten europäischen Nachbarschaft. Welche Folgen hat das für die EU-Staaten?
Die chinesische Volksbefreiungsarmee zieht es hinaus in die Welt. Im August erklärte Konteradmiral Guan Youfei bei einem Besuch in Damaskus, die Armee werde ihre militärischen Ausbildungsangebote für die regierungstreuen Truppen des syrischen Präsidenten Assad ausbauen. Nur einige Tage später gab Verteidigungsminister Chang Wanquan zu Protokoll, China werde seine militärischen Beziehungen zu Saudi-Arabien weiter stärken. Bereits Anfang 2016 hatte Peking die Errichtung des ersten chinesischen Übersee-Militärstützpunkts, in Dschibuti, angekündigt.
In Zeiten neuer militärischer Integrationsbemühungen auf europäischer Ebene und der sich wandelnden transatlantischen Partnerschaft unter einem US-Präsidenten Donald Trump sollten die EU-Staaten die globalen Aktivitäten der Volksbefreiungsarmee besonders aufmerksam verfolgen. Syrien, Saudi-Arabien, Dschibuti – diese Länder liegen nicht weit von Europa entfernt und sind von strategischer Bedeutung für etliche EU-Mitglieder. Das wachsende militärische Engagement Chinas im Nahen Osten und Nordafrika, aber auch in Zentralasien im Rahmen von Einsätzen zur Friedenssicherung und künftig womöglich auch Terrorismusbekämpfung erfordert von Europas Regierungen eine informierte Analyse potenzieller Risiken als auch eine zeitnahe Anpassung nationaler und europäischer Strategien zur militärischen Zusammenarbeit mit China.
Eine globale Positionierung der Volksbefreiungsarmee spiegelt zwei wesentliche Entwicklungen: Peking hat unter Staats- und Parteichef Xi Jinping die nationale Sicherheitspolitik angepasst. Das liegt auch in gestiegenen innenpolitischen Erwartungen begründet. Die Internationalisierung der wirtschaftlichen und politischen Aktivitäten hat ungekannte Bedrohungen für chinesische Bürger mit sich gebracht. Chinesen im Ausland werden potenziell zum Ziel von transnationalem Terrorismus, inneren Unruhen und antichinesischen Stimmungen. Peking soll seine Bürgerinnen und Bürger auch im Ausland schützen können – und das notfalls durch militärisches Eingreifen.
Darüber hinaus verfolgt China hartnäckig die Ausweitung des eigenen (sicherheits-)politischen Einflusses auf internationaler Bühne. Die Führung ist entschlossen, die Weltpolitik aktiver und sichtbarer zu prägen. Das zwingt sie aber auch, sich von der bislang geltenden Doktrin der Nichteinmischung abzuwenden und global militärisch handlungsfähig zu werden.
Wachsendes Auslandsengagement
Ein deutliches Zeichen der Neuausrichtung der Volksbefreiungsarmee ist die jüngste Erweiterung des Verteidigungsministeriums um eine Abteilung für internationale militärische Zusammenarbeit; diese ist allein in den vergangenen Wochen um mehr als 70 Mitarbeiter erweitert worden. China entsendet heute größere Truppenkontingente zu UN-Friedenssicherungseinsätzen als je zuvor: Mehr als 2600 chinesische Soldaten, Polizisten und Militärexperten sind derzeit für UN-Missionen abgeordnet. Damit stellt China heute fast halb so viel Personal wie alle EU-Staaten zusammen mit ihren knapp 5600 Blauhelmen. Im August kündigte Peking zudem an, Ende des Jahres eine erste ständige UN-Friedenstruppe in Dienst zu stellen. Das Engagement für UN-Friedenssicherungseinsätze sowie eine in Aussicht gestellte Beteiligung der Volksbefreiungsarmee an der Bekämpfung der Piraterie im Golf von Guinea zeigen, dass es China derzeit vor allem um ein multilaterales militärisches Engagement geht.
Jedoch fehlen (öffentlich kommunizierte) Festlegungen dazu, ob sich das Auslandsengagement der Volksbefreiungsarmee auch künftig auf multilaterale Einsätze konzentrieren wird. Ein neues Gesetz ermöglicht bereits eine direkte Beteiligung der Armee an Anti-Terror-Operationen im Ausland. Solche Einsätze könnten in Zukunft ein weiterer Pfeiler von Chinas globaler Militärpräsenz werden, besonders in Zentral- und Südasien, aber auch im Nahen Osten. Die Terrorgefahr in diesen instabilen Regionen gefährdet die Sicherheit der im Rahmen der ehrgeizigen Seidenstraßen-Initiative entworfenen Handelswege über Land. China will hier Stabilität garantieren.
Auch die Seeroute der Seidenstraßen-Initiative soll künftig von der Volksbefreiungsarmee geschützt werden. Das Militär dürfte deshalb seine Präsenz im Indischen Ozean und Einsätze gegen Piraterie verstärken. China wird hierfür zusätzliche Versorgungspunkte in der Region aufbauen oder erwerben müssen und bestehende Anlagen in Colombo (Sri Lanka) oder Gwadar (Pakistan) ausweiten. Derzeit finanziert China den Bau eines Hafenprojekts im Wert von 1,4 Milliarden Dollar in Colombo, und die staatliche China Overseas Ports Holding Company betreibt den neu erweiterten Tiefseehafen in Gwadar.
Noch besteht eine erhebliche Diskrepanz zwischen Pekings globalen sicherheitspolitischen Ambitionen und den konkreten militärischen Kapazitäten der Volksbefreiungsarmee. Dies wird sich in Zukunft jedoch ändern: Derzeit laufen verschiedene Initiativen, die chinesische Armee zu modernisieren. Durch den Bau eines Flugzeugträgers und die Entwicklung leistungsfähiger Langstreckenbomber versucht die Armee, ihre militärische Reichweite für Auslandseinsätze auszudehnen. China nutzt zudem systematisch die UN-Einsätze, um operative Erfahrungen und Fähigkeiten seines Militärs zu stärken.
Herausforderung für Europa
Mit den sich abzeichnenden geografischen Verschiebungen chinesischer Militärpräsenz ergeben sich neue Herausforderungen für Europas Diplomaten und Militärplaner. Schon jetzt wird es für Europa immer schwieriger, die militärische Unterstützung Pekings für das Assad-Regime zu ignorieren. So ist unwägbar, welchen Einfluss Chinas Bereitstellung von Training und Unterstützung der syrischen Armee auf die Lösung des Konflikts und somit die regionale Stabilität haben werden. Klar ist jedoch, dass sich daraus ergebende negative Entwicklungen in erster Linie auf Europa auswirken würden – zum Beispiel durch wieder ansteigende Flüchtlingszahlen.
Ebenso könnten sich Einsätze der Volksbefreiungsarmee zur Bekämpfung von Terrorismus im Nahen Osten oder Zentralasien nachteilig auf die politischen und wirtschaftlichen Interessen Europas auswirken. In mancherlei Hinsicht decken sich die europäischen und chinesischen Ziele zwar – allerdings sind die Ansätze nach wie vor sehr unterschiedlich: Europa legt den Schwerpunkt auf Prävention und Deradikalisierung, während China auf konsequente Verfolgung setzt. Die bislang sehr begrenzte Interaktion der Volksbefreiungsarmee mit den Streitkräften der EU-Staaten und der sich daraus ergebende Mangel an Interoperabilität erschweren zusätzlich eine militärische Koordination oder gar Zusammenarbeit im Kampf gegen den Terror. Das birgt enorme Risiken: Ein fehlgeschlagener, unilateraler chinesischer Einsatz zur Terrorismusbekämpfung könnte Konflikte in instabilen Regionen weiter eskalieren lassen und Europa zwingen, in einer besonders volatilen Situation einzugreifen.
Europa sollte auch die politische Annäherung zwischen Peking und Moskau im Blick haben, wenn es die Aktivitäten der Volksbefreiungsarmee analysiert. China und Russland haben bei den UN mehrfach demonstriert, dass sich ihre Sicherheitsinteressen in der erweiterten europäischen Nachbarschaft überschneiden: Peking unterstützte das Veto Moskaus gegen vier Syrien-Resolutionen; bei zwei Entschließungen zur Annexion der Krim durch Russland enthielt sich China der Stimme. Die jährlichen Militärmanöver der russischen und chinesischen Marine verlagerten sich zuletzt ebenfalls in die europäische Nachbarschaft; 2015 fanden sie im Mittelmeer statt. Gerade in mittel- und osteuropäischen EU-Ländern dürfte die enge chinesisch-russische Militärkooperation Vorbehalte gegenüber der Volksbefreiungsarmee und ihren globalen Aktivitäten schüren.
Raum für Kooperation?
Wie die Volksbefreiungsarmee befindet sich auch Europas militärische Landschaft im Umbruch. Der „Implementation Plan on Security and Defence“ soll auf eine signifikante Stärkung der europäischen Verteidigungszusammenarbeit zielen. Die Wahl Donald Trumps und die noch nicht absehbaren Konsequenzen für die transatlantische Sicherheits- und Verteidigungskooperation im Rahmen der NATO dürften jene Kräfte stärken, die sich für eine größere europäische Autonomie aussprechen.
Die EU-Staaten sollten diesen Umbruch nutzen, um gemeinsame Mechanismen zu schaffen, die dabei helfen, die globalen Aktivitäten der Volksbefreiungsarmee zu erfassen. Deren Auswirkungen auf Europa und dessen Partner werden erst allmählich sichtbar. Um die Analyse voranzubringen, könnte der Europäische Auswärtige Dienst den Informationsaustausch unter den Mitgliedern unterstützen, u.a. durch die Beteiligung des EU Intelligence Analysis Centre und des EU Military Staff. Neben der Abwägung von Risiken sollte es auch darum gehen, Bereiche zu identifizieren, in denen eine stärkere Zusammenarbeit mit Chinas Militär sinnvoll und gewinnbringend sein könnte.
Bereits heute haben China und Europa gemeinsame Interessen: Beide wollen die Stabilität in der erweiterten europäischen Nachbarschaft aufrechterhalten. Auf europäischer Seite haben die anhaltende Flüchtlingskrise und die Terroranschläge in Brüssel, Paris und Nizza die Erkenntnis bestärkt, dass man sich noch stärker in der Region einbringen sollte. Treibende Faktoren für Pekings sicherheitspolitisches Engagement in der Region sind Wirtschaftsinteressen und Infrastrukturprojekte im Rahmen der Seidenstraßen-Initiative. Auch Berichte etwa darüber, dass in Syrien ansässige uigurische Kämpfer für ein Selbstmordattentat auf die chinesische Botschaft in Kirgistan im August verantwortlich waren, haben in China den Willen zum Handeln verstärkt.
Chinas gewachsene Bedeutung in UN-Friedenssicherungseinsätzen könnte ein guter Ausgangspunkt für eine vertiefte europäisch-chinesische militärische Zusammenarbeit sein. Auch bei humanitären Krisen könnte eine Kooperation mit der Volksbefreiungsarmee vertrauensbildend wirken. Was den Kampf gegen den internationalen Terrorismus angeht, wäre jedoch zunächst ein eingehender diplomatischer und militärischer Dialog unverzichtbar. Europa kann sich hier auf einen reichen Erfahrungsschatz in der Verfolgung eines ganzheitlichen Ansatzes stützen, in dem militärische Mittel eng mit dem Einsatz von zivilen Mitteln verwoben sind. Die Volksbefreiungsarmee wird sich eigene Erfahrungen in der Zukunft erst noch erarbeiten müssen. Im Rahmen der EU-Mission „Atalanta“ am Horn von Afrika ist die EU ebenfalls gut positioniert, gezielt auf China zuzugehen und Angebote für eine strukturierte militärische Kooperation zur Bekämpfung von Piraterie anzubieten.
Bislang ist es Europa und China gelungen, sicherheitspolitische Spannungen weitgehend zu vermeiden; zu weit lagen ihre Einflussbereiche geografisch auseinander. Dies wird sich jedoch ändern, wenn die Volksbefreiungsarmee ihr Einsatzgebiet in Richtung Europa ausweitet. Zentraler Spannungspunkt könnten hierbei in Zukunft die (sicherheits-)politische Annäherung Chinas und Russlands und die militärische Zusammenarbeit beider Länder sein.
Europäische Verteidigungsministerien sollten dieser Entwicklung auf zweifache Weise begegnen: Die politischen Beziehungen zur Volksbefreiungsarmee sollten durch bilaterale Militärdiplomatie gestärkt werden; gemeinsame Übungen, wie zuletzt zwischen Deutschland und China zur medizinischen Versorgung im Kampfeinsatz, können einen geeigneten Rahmen bieten. Der chinesischen Militärführung muss auf diplomatischem Weg klar und auf europäischer Ebene koordiniert vermittelt werden, dass Russland in den Weißbüchern fast aller europäischen Verteidigungsministerien als zentrale Bedrohung geführt wird und dass eine noch sichtbarere militärische Zusammenarbeit mit Russland die Beziehungen zwischen China und der EU negativ beeinflussen könnte.
Die Entwicklung Chinas zu einem globalen sicherheitspolitischen Akteur wird nicht über Nacht abgeschlossen sein. Vieles wird vom politischen Willen im Land und der internationalen Reaktion auf die steigende Bedeutung der Volksbefreiungsarmee abhängen. Doch die europäischen Staaten müssen das Szenario, in dem China zu einem wichtigen sicherheitspolitischen und militärischen Akteur in der erweiterten europäischen Nachbarschaft wird, fest in den Blick nehmen. Daran führt kein Weg vorbei.
Jan Gaspers leitet bei MERICS (Mercator Institut für China-Studien) die European China Policy Unit.
Helena Legarda ist wissenschaftliche Mitarbeiterin bei MERICS.
Internationale Politik 1, Januar/Februar 2017, S. 106-110