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01. Sep 2020

Die Gewaltbereitschaft nimmt zu

Die Corona-Krise zeigt, wie sehr Militarisierung und Radikalisierung der US-Gesellschaft voranschreiten. Die Sorgen um eine friedliche November-Wahl sind massiv.

Steve Bannon müsste ein glücklicher Mann sein in diesem Wahlkampfherbst. Für den ehemaligen Chefberater von Donald Trump laufen die Dinge geradezu „perfekt“, erklärt er in seiner neuen Radio-Show „War Room 2020“. Das Land, von dem er sagt, es müsse im Chaos versinken und dann wieder neu auferstehen, als „weißes Amerika“, scheint seine finsteren Prophezeiungen zu erfüllen. Zumindest, was den ersten Teil angeht. Selten waren die USA so erschüttert von gesellschaftlichen Unruhen und politischen Verwerfungen wie in diesem Wahljahr. Und der rechtsnationale Propagandist, dessen wirre Theorien selbst dem Präsidenten irgendwann zu viel wurden, tweetet seinen Bürgerkrieg herbei: „Wir sind im Krieg & @POTUS @realDonaldTrump ist ein Kriegspräsident.“



Nun könnte man Steve Bannon als abgehalfterten Strategen abtun, ein weiterer Verschwörungstheoretiker in einem Land, das krudesten Apologeten aus allen ideologischen Himmelsrichtungen immer schon bereitwillig Heimat geboten hat. Nur – die USA „haben ihren ersten Staatsstreich erlebt. Zwar floss kein Blut dabei, und die Panzer umstellten auch nicht das Weiße Haus, doch ist ‚Staatsstreich‘ kaum eine Übertreibung. In diesem Land, das sich selbst als Leuchtfeuer der Demokratie erklärt, fand eine korrupte Machtergreifung statt“, resümiert der Essayist Eliot Weinberger in seinem kürzlich erschienenen Essayband „Neulich in Amerika“.



Die Fakten: Noch nie in der letzten Zeit wurden so viele Einheiten nationaler Sicherheitskräfte bei Demonstrationen eingesetzt. Noch nie kamen – proportional zum Anteil an der Bevölkerung – mehr schwarze Menschen durch Polizeieinsätze ums Leben als in diesem Jahr. Noch nie wurden in einem Juni mehr Waffen verkauft als 2020: drei Millionen nach dem gewaltsamen Tod von George Floyd. Und: Selten haben bewaffnete Milizen oder Gruppierungen einen solchen Zustrom erhalten wie in diesem Wahljahr. „Die Gewaltbereitschaft nimmt zu“, analysiert der Politikwissenschaftler Michael Werz vom liberalen Think Tank Center for American Progress, und das in einer Gesellschaft, die Gewalt „in ihr System eingeschrieben hat“. Vor allem die „martialische Präsenz“ der Sicherheitskräfte habe zur Eskalation der Gewalt beigetragen.



Während der gewaltsamen Ausschreitungen in Washington Anfang Juni waren 16 Sicherheitsbehörden aktiv, gegen den erklärten Willen von Bürgermeisterin Muriel Bowser, darunter Einheiten des Heimatschutz- und Justizministeriums. Viele der mit automatischen Waffen ausgerüsteten Sicherheitskräfte trugen keine Abzeichen. Ihre Herkunft konnte nicht identifiziert werden. Neben der D.C. National Guard beorderte Präsident Trump als oberster Befehlshaber des Militärs 1600 Soldaten der „Active Army“ in die Hauptstadt, hauptsächlich von Infanterieeinheiten und Militärpolizei.



Der Einsatz aktiver Einheiten der US-Streitkräfte machte Schule, obwohl er bis heute unter Juristen umstritten ist. Der sogenannte „Insurrection Act“ aus dem Jahr 1807 erlaubt dem Präsidenten den Einsatz von Streitkräften, wenn ein Bundesstaat ihn beantragt oder mit der Situation überfordert ist. Zuletzt kam das Gesetz 1992 zur Anwendung, als es nach einem Freispruch für vier weiße Polizisten, die den Schwarzen Rodney King brutal zusammengeschlagen hatten, in Los Angeles zu schweren Unruhen kam. Der damalige Präsident George H. W. Bush handelte auf Anfrage des Gouverneurs von Kalifornien. Nicht so Präsident Trump. Auf dieser Linie ist auch seine Entscheidung zu werten, Bundespolizeieinheiten in Portland einzusetzen. Die demokratische Gouverneurin von Oregon, Kate Brown, erklärte dazu: „Sie haben als Besatzungsmacht gehandelt und Gewalt verursacht.“



Städte wie Kriegsgebiete

Die Polizei rüstet auf – seit Jahrzehnten und ungeachtet momentaner Reformdiskussionen. Der „Warrior Cop“, trainiert von ehemaligen militärischen Spezialeinheiten, bestimmt schon seit einiger Zeit das Bild vieler amerikanischer Städte. Polizeiorganisationen haben in den vergangenen drei Jahren militärische Ausrüstung in Höhe von 454 Millionen Dollar erhalten, darunter Sturmgewehre und sogenannte Mine-Resistant Ambush Protected Vehicles (MRAP). Rund 1100 dieser 18 Tonnen schweren gepanzerten Fahrzeuge sind im Besitz der Polizei – mehr als doppelt so viele wie 2014.



Grundlage dafür ist das 1995 aufgelegte „1033 Program“ des US-Verteidigungsministeriums, das ausgemusterte Kriegswaffen an Sicherheitsbehörden verteilt. Unter Präsident Obama wurde die Verteilung von Granatwerfern, Bajonetten und MRAPs verboten; Präsident Trump hob das Verbot 2017 wieder auf. Vor allem Bürgerrechtsorganisationen wie die American Civil Liberties Union oder die Anti Defamation League opponieren seit Jahren gegen die Militarisierung der Polizei und fordern vom Kongress angesichts der jüngsten Vorfälle von massiver Polizeigewalt die Abschaffung von „1033“. Der Investigativjournalist Nick Penzenstadler, der die Story für USA Today recherchiert hat, sagt zur Ausrüstung der Polizei: „In unserem Land herrscht eine Idealisierung des Militärischen; ich sehe nicht, dass sich das ändert, im Gegenteil.“



Die Waffenindustrie sieht einem blendenden Geschäftsjahr 2020 entgegen. Wenn Amerikaner besorgt sind, kaufen sie Waffen. Und sie sind besorgt in Zeiten einer Pandemie, die der Staat nicht in den Griff bekommt. „Die Menschen sind nervös und fürchten zivile Unruhen, wenn eine große Anzahl von Menschen krank ist und eine große Anzahl von Einrichtungen nicht normal funktioniert“, sagte Timothy Lytton, Waffenexperte und Professor an der Georgia State University, der New York Times. Auf 330 Millionen Amerikaner kommen 400 Millionen Gewehre und Pistolen in Privatbesitz. „Das Recht des Volkes, Waffen zu besitzen und zu tragen“ (zweiter Zusatzartikel der amerikanischen Verfassung), ist seit Gründerzeiten nicht angetastet worden. Alle Versuche, privaten Waffenbesitz stärker zu reglementieren, sind bislang gescheitert. Während der Privatbesitz in allen Bundesstaaten möglich ist – seit ein paar Jahren sogar im District of Columbia, der Hauptstadt Washington – hat jedes Bundesland sein eigenes Waffengesetz. In vielen Staaten darf man sein Gewehr auch ganz offen tragen.



„Lasst uns nicht vergessen, dass Gewehre in diesem Land in den Händen von Leuten konzentriert sind, die zu den glühendsten und am leichtesten anzustachelnden Anhängern des Präsidenten gehören“, schreibt Lawrence Douglas vom Amherst College in Massachusetts. In seinem Buch „Will He Go?“ beschreibt er Szenarien nach einer möglichen Wahlniederlage Trumps. Douglas hält es für möglich, dass Trump in einer Phase der Unsicherheit seine Anhänger mobilisieren wird: „Trumps Tweets werden gewalttätige Ausschreitungen auslösen.“



Eine Ahnung davon konnte man am Unabhängigkeitstag in Gettysburg bekommen. In sozialen Medien hatten rechtsextreme, militante Gruppen zum Protest gegen die angebliche Schändung von Bürgerkriegsdenkmälern aufgerufen. In Gettysburg fand eine der entscheidenden Schlachten im Amerikanischen Bürgerkrieg statt. Zum Teil schwer bewaffnet, patrouillierten Hunderte selbsternannte „Retter der Freiheit“ durch die Stadt. Ähnliche Szenen spielten sich in diesem Sommer in vielen Städten der USA ab – mit Gruppen wie die „Three Percenters“, die „Proud Boys“ oder die „Patriot Prayers“, die das Southern Poverty Law Center (SPLC) als rechtsextrem, rassistisch oder „white supremacists“ einstuft und unter „hate groups“ aufführt. Die Liste ist lang: Mittlerweile schätzt das SPLC, dass rund 30 000 Personen zum sogenannten harten Kern des „Militia Movement“ gehören.



Das Drängen auf einen Umsturz

Diesen Bodensatz an militanten Gruppen hat es in den USA schon immer gegeben. Was sie auszeichnet, war jedoch meist eine extreme Staatsferne. Sie opponieren gegen jegliche Einmischung des Staates; und ihre jeweilige ideologische Ausrichtung umfasst sowohl explizit nationalsozialistisches bis rechtspatriotisches Gedankengut. Ihre Mitglieder sind in der überwiegenden Mehrzahl weiß und männlich, viele von ihnen sind Veteranen. Bislang operierten sie im Hintergrund. Unter dem Label „Boogaloo“-Bewegung jedoch werden sie seit ein paar Jahren sichtbar. Der Begriff basiert auf Insider-Witzen, vor allem auf der Plattform 4chan, wo „Boogaloo“ als Synonym für einen zweiten Bürgerkrieg verwendet wird, also für einen gewaltsamen Umsturz der herrschenden Ordnung.



Auf vielen Demonstrationen waren zuletzt schwer bewaffnete Männer in Hawaiihemden zu sehen, ein Verweis auf „Big Luau“, was auf Hawaiianisch „Fest“ bedeutet. „Was wir jetzt sehen, ist der Versuch, die Präsenz von paramilitärischen Gruppen auf den Straßen zu normalisieren“, erklärt Devin Burghart, Präsident des Institute for Research and Education on Human Rights.



Mit Trump hätten Teile des „Militia Movements“ eine politisch akzeptable Figur gefunden. Und sie sehen sich von Trump unterstützt, wenn er nach Ausschreitungen tweetet, dass die Protestierer „domestic terrorists“ seien und dass man „die Straßen von ihnen reinigen“ müsse. Ein weiterer Faktor liegt in der Corona-Pandemie und den damit verbundenen Einschränkungen, die als unzulässige Einmischung des Staates empfunden werden. Devin Burghart listet auf seiner Website über 500 neue Gruppen mit rund zwei Millionen Mitgliedern auf, die er dem Umfeld der „Boogaloo“-Bewegung zuschreibt. Ihre Absichten: „Über die sozialen Medien, den Amateurfunk und auf persönlicher Ebene verbreitet die Miliz geschäftig rassistische und antisemitische Verschwörungen über die Entstehung des Virus, propagiert das Horten von Waffen, verbreitet die Furcht vor Kriegsrecht und Truppeneinsätzen, zählt die Tage bis zum Ausbruch des ‚boogaloo‘, einen zweiten Bürgerkrieg, und diskutiert offen den Mord an ‚Verrätern‘.“



Jura-Professor Lawrence Douglas hält gewalttätige Szenen nach einem unklaren oder knappen Wahlausgang für wahrscheinlich: „Wir haben bei den Protesten gegen die Corona-Pandemie gesehen, wie Trump seine Anhänger aufgefordert hat, ihre Bundesstaaten zu ‚befreien‘, und daraufhin sind eine Menge Schwerbewaffneter in Parlamente eingedrungen. Solche Szenen sind das Mindeste, womit man rechnen müsste.“

 

Nana Brink ist freie Autorin und Moderatorin u.a. für Deutschlandfunk und Deutschlandfunk Kultur mit den Schwerpunkten transatlantische Beziehungen und Sicherheitspolitik.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 5, September/Oktober 2020, S. 54-57

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