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21. Apr. 2025

Die EU muss zur Behauptungsmacht werden

Angesichts der brachialen Durchsetzungspolitik von US-Präsident Donald Trump bedarf es einer neuen europäischen Realpolitik, die auf Pragmatismus und Flexibilität statt auf Verlässlichkeit und Bündnistreue setzt. Dabei geht es nicht darum, die Welt beherrschen zu wollen, sondern sich in ihr behaupten zu können.

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Bild: Der chinesische Präsident Xi Jinping schüttelt die Hand der Präsidentin der Europäischen Kommission Ursula von der Leyen in Paris, Frankreich, 6. Mai 2024.
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Die Trump-Administration ist dabei, die Idee des Westens als normative Gemeinschaft aufzulösen. Mehr noch: Sie geht offensichtlich davon aus, dass es weder eine transatlantische Interessengemeinschaft gibt, noch dass Europa ein wichtiger Partner zur Durchsetzung amerikanischer Interessen sein könnte. Die europäischen Entscheidungsträger zeigen sich geschockt und empört. Einzig eine straffe Abfolge von Gipfeltreffen, bei denen die Atommächte Frankreich und Großbritannien den Ton angeben, scheint zu signalisieren, dass die europäischen Staaten zumindest auf diplomatischer Ebene wieder relevant werden wollen. 

Darüber hinaus ist jedoch wenig Neues zu vernehmen. Die Einsicht und das Bekenntnis dazu, dass man nun wirklich eigenständig werden müsse, sind richtig, aber was das bedeuten kann, ist unklar und muss noch ausbuchstabiert werden. Dass es mehr Unterstützung für die Ukraine braucht, dass Europa mehr internationale Verantwortung übernehmen muss, dass höhere Verteidigungsausgaben und der Aufbau einer europäischen Verteidigungsindustrie jetzt wirklich Priorität haben – das alles ist unerlässlich, aber auch altbekannt. Ein vehementes „more of the same“ wird nicht ausreichen, um Europa sicherer und durchsetzungsfähiger zu machen. 

Die Europäer müssen das Risiko eingehen, wirklich eigenständig und ohne amerikanische Rückendeckung auf der internationalen Bühne zu handeln. Sie sollten die Samthandschuhe der normativen Zurückhaltung abstreifen, die Ärmel hochkrempeln und mit breiter Brust das Spielfeld der internationalen Auseinandersetzungen betreten. Hierbei geht es nicht darum, europäische Großmachtambitionen oder weltweite Dominanzfantasien zu verfolgen. Weder die Europäische Union noch ein weiter verstandenes „Europa“ – also in Kooperation mit Großbritannien, den EFTA-Ländern und anderen Nicht-EU-Staaten auf dem Kontinent – werden als Großmacht oder gar Weltmacht globale öffentliche Güter wie Sicherheit und Stabilität, finanzielle Ordnungssysteme, ein nachhaltiges Klima und eine saubere Umwelt im Alleingang zur Verfügung stellen oder neue Regelsysteme etablieren können. Gerade bei der Sicherheit wird Europa – trotz erster Versuche, die „Sprache der Macht“ zu lernen – kaum in der Lage sein, die Lücken zu schließen, die durch die Umorientierung oder den Rückzug der USA entstehen. 

Vielmehr muss die EU beziehungsweise Europa politische, ökonomische und militärische Fähigkeiten entwickeln, die es ermöglichen, europäische Wirtschafts- und Gesellschaftsmodelle, so verschieden sie im Einzelnen auch sein mögen, zu bewahren und zu festigen. Fähigkeiten, die Europa sicherer machen und gleichzeitig dazu beitragen, dass es seine vitalen Interessen – auch über den Kontinent hinaus – effektiv verfolgen kann. Europa soll nicht die Welt beherrschen wollen, sondern sich in dieser behaupten können.   

Schnelle realpolitische Erkenntnis gefragt

Auf dem Weg zu einer solchen Behauptungsmacht muss Europa mindestens die folgenden Sachverhalte zur Kenntnis nehmen: Die transatlantische Schutzgemeinschaft mit den USA als ultimativer und glaubwürdiger Gewährsmacht für die Sicherheit Europas und die Einheit des Westens existiert nicht mehr, zumindest nicht mehr uneingeschränkt. Natürlich gibt es nach wie vor die NATO, weiterhin sind US-Truppen in Europa stationiert und immer noch stehen die USA zu ihren Verpflichtungen. Aber allein die Diskussion darüber, dass alles von einem Tag auf den anderen zur Disposition stehen kann, limitiert die nach außen demonstrierte Verteidigungsbereitschaft und Abschreckungswirkung substanziell. Ebenso angeschlagen ist der Multilateralismus als Idee eines weltumspannenden Netzwerks allgemein akzeptierter regelbasierter Ordnungssysteme. Zwar funktionieren multilaterale Zusammenschlüsse auf regionaler und globaler Ebene nach wie vor gut. Doch ihre Prägekraft wird dadurch untergraben, dass der ­vielleicht wichtigste Hüter internationaler Vereinbarungen und Prinzipien – die Vereinigten Staaten – diese verlässt (Klimaabkommen) oder mit ihrer Infragestellung kokettiert (territoriale Integrität). Und schließlich geht es darum, die Grundlage für eine Machtpolitik zu schaffen, die sich durch schnelle Entscheidungsfindung, den Einsatz von Zwangsmaßnahmen, eine interessengebundene und häufig auch merkantile Außenpolitik sowie durch flexible Allianzen mit wechselnden Partnern auszeichnet. 

Das ist an sich nichts Neues. Durch die brachiale Durchsetzungspolitik der USA kommen jedoch neue Herausforderungen mit erhöhter Intensität auf Europa zu. Insbesondere, weil Europa von seiner alten Garantiemacht nicht mehr als gelegentlich störrischer, aber letztlich doch ähnlich denkender Weggefährte betrachtet wird, sondern als Konkurrent. Die Wende von der engen transatlantischen Partnerschaft auf der Grundlage gemeinsamer Werte hin zu einer globalen Konkurrenz unter machtpolitischen und selbstsüchtigen Vorzeichen erfordert eine schnelle realpolitische Erkenntnis: Politische, ökonomische sowie militärische Macht und Unabhängigkeit sind wieder zu entscheidenden Kategorien der internationalen Politik geworden. Gefordert sind in diesem neuen internationalen Umfeld nicht mehr Bündnistreue und Verlässlichkeit, sondern Flexibilität und Anschlussfähigkeit für wechselnde Partner. 

Umdenken und anders handeln ­– aber wie?

Prinzipiell gibt es drei Ansätze, um mit der neuen Lage umzugehen. Denkbar wäre erstens ein Neuanlauf in den transatlantischen Beziehungen durch mehr europäische Rüstungs- und Verteidigungsanstrengungen. Die Antwort der Europäer könnte also lauten: Wir bekennen unsere Fehler und wir geloben Besserung. Die Europäer sollten in Washington versuchen, mit mehr Burden-Sharing die Amerikaner davon zu überzeugen, dass es gemeinsame Interessen und Werte zu verteidigen gibt. 

Zweitens: Die Europäer agieren zerstritten, wie so oft. Einige Staaten versuchen, kurzfristig ein Sonderverhältnis mit den USA aufzubauen und zu pflegen, weil sie die amerikanischen Sicherheitsgarantien um jeden Preis benötigen oder weil sie die nationalistische Politik der Trump-Regierung teilen. Dafür sind sie bereit, amerikanische Bedingungen mitzutragen und durchzusetzen – Sonderzölle gegen ihre europäischen Partner, eine Nibelungentreue im Hinblick auf China und einen innenpolitischen Restaurationskurs gegen offene Gesellschaften und Grenzen. 

Ein dritter Ansatz besteht darin, Europa zu einem eigenständigen Player auf der internationalen Bühne zu machen. In der Konsequenz bedeutet dieser Weg, eigene Kapazitäten aufzubauen und eine Gegenmacht zu den USA zu bilden, zumindest aber alternative Optionen zu entwickeln – mit verbliebenen Partnern wie Kanada und Australien, aber auch mit China, Indien, der Türkei und vielleicht sogar wieder (zumindest in wirtschaftlichen Fragen) mit Russland. In einer solchen multipolaren Welt erfordert der Aufbau neuer Optionen normative Flexibilität und Pragmatismus ohne wertegebundene Einschränkung; er bedeutet den Verzicht auf Blockbildung und die Offenheit in alle Richtungen. Europäische Interessen folgen den realpolitischen Notwendigkeiten, dem eigenen Nutzen und Gewinn und nicht mehr gemeinsamen Grundwerten. Dies setzt einen konsequenten Schwenk zur europäischen Souveränität und eine Abkehr von der transatlantischen Idee voraus. Für eine solche Politik der bündnispolitischen Flexibilität müssen die Europäer schnell ihre eigenen Ziele und Interessen definieren und konsequent verfolgen.

Alle Ansätze haben jedoch ihre Schwächen: Die Aussicht auf eine transatlantische Renaissance wirkt ebenso naiv wie der Versuch, im Schönheitswettbewerb mit Washington nationale Sonderbeziehungen aufzubauen. Und die Suche nach politischen Alternativen eröffnet zwar mehr Handlungsoptionen, kann aber leicht in einen ungehemmten Pragmatismus ohne jeglichen Wertekompass umschlagen, Europa überfordern und ihm die gemeinsame politische Basis entziehen.  

Eine neue europäische Realpolitik

Es braucht daher einen europäischen Ansatz, der mehrere Anforderungen erfüllt. Er muss die gesamteuropäischen Sicherheits- und Wirtschaftsinteressen berücksichtigen; gleichzeitig darf er den europaskeptischen Kräften in den USA keine weiteren Vorwände geben, die transatlantische Zusammenarbeit noch weiter einzuschränken. Zugleich sollte er die Vereinigten Staaten dazu motivieren, in strategisch wichtigen Bereichen sicherheits- und geopolitisch mit der EU im Geschäft zu bleiben. Nicht zuletzt muss er der EU auch neue strategische Möglichkeiten eröffnen ­­– unabhängig von oder auch gegen Washington. 

Kurzum: Es bedarf einer neuen europäischen Realpolitik, die anerkennt, dass die liberale Weltordnung in ihrer bisherigen Form ausgedient hat, und die von europäischen (und deutschen) Interessen ausgeht, ohne dabei Werte komplett auszublenden. Europa sollte daher Überkommenes aufgeben und neue Optionen prüfen. Gerade für die EU heißt das: Statt Schwerfälligkeit und Berechenbarkeit braucht es die Entschlossenheit, unkonventionell zu handeln, neue Wege zu gehen und dabei Gegner wie Partner zu überraschen. Europa muss seine Eigenständigkeit bewusst und schnell aufbauen. Aber nicht durch eine Kopie des destruktiven Irrlichterns der Trump-Regierung, sondern durch konstruktive und pragmatische Interessenpolitik.

Für eine solche europäische Strategie der Souveränität und Autonomie in der internationalen Politik müssen zunächst einige zentrale Fragen geklärt werden. Was sind die wirklich harten europäischen Interessen? Wo ist man auch weiterhin auf die transatlantische Partnerschaft angewiesen? Braucht es für eine neue Sicherheitsordnung in Europa eine Wertegrundlage oder genügt die Balancierung nationaler Interessen? In welchem Verhältnis müssten dann nationale und gesamteuropäische Interessen stehen und welche Folgen hätte diese Neugewichtung für die Weiterentwicklung des europäischen Integrationsprozesses? Welche Rolle kommt Nicht-EU-Staaten wie Großbritannien, Norwegen oder der Türkei zu, insbesondere beim Aufbau einer europäischen Sicherheitsordnung und ihrer militärischen Absicherung? Welche Ressourcen müssen die Europäer und die EU aufbringen, um die benötigten Fähigkeiten bereitstellen zu können, wer stellt diese Ressourcen zur Verfügung und wie werden die absehbaren Lasten verteilt? Und nicht zuletzt: Mit welchen sonstigen internationalen Partnern, die oft auch gleichzeitig Konkurrenten sind, kann eine Ordnung geschaffen werden, und welche Elemente und Institutionen benötigt diese Ordnung für eine dauerhafte Stabilität?

Um diese Fragen beantworten zu können, sollten neue Ideen und Wege diskutiert werden – ohne Denkverbote und Vorbehalte. Einige der folgenden Vorschläge werden bestehende Gewissheiten in Frage stellen, nur schwer umsetzbar und mit Ambivalenzen verbunden sein. Dennoch muss die EU jetzt handeln und darf nicht länger passiv bleiben. 

Über Peking an den Ukraine-Verhandlungstisch kommen

Bisher hat Europa bei den amerikanischen Gesprächen mit Russland und der Ukraine zur Beendigung des Krieges keine aktive Rolle gespielt. Die Forderung an Washington, Europa müsse „mit am Tisch sitzen“, ist verpufft. Auch wenn Großbritannien oder Frankreich die US-Administration darauf hinweisen, dass die USA selbst davon ausgehen, dass ein möglicher Deal durch europäische Truppen abgesichert werden müsste, zeigt sich Washington kaum bereit, gemeinsam mit den EU-Staaten für einen „fairen Frieden“ einzutreten und diesen gegenüber Moskau zu vertreten. Europa könnte – in Abstimmung mit der Ukraine – versuchen, durch Gespräche mit Peking über eine mögliche Rolle Chinas bei der Friedenssicherung in der Ukraine die USA dazu zu bewegen, sich mit den europäischen Partnern abzustimmen. Denn Washington dürfte an einer sicherheitspolitischen Präsenz Chinas in Europa wenig gelegen sein. Das gilt auch für den Fall, dass die amerikanisch-russischen Gespräche ins Stocken geraten und die USA sich zurückziehen – und Europa die alleinige Verantwortung für die „Lösung“ des Konflikts überlassen. 

Schrittweise zum Ziel: EU-Rüstungsbinnenmarkt und nukleare Souveränität 

Um sicherheitspolitisch eigenständig zu werden, müssen die Europäer ihre konventionelle Rüstung massiv stärken. Kurzfristig werden die Produktionskapazitäten in Europa nicht ausreichen, um den Bedarf zu decken. Deshalb bleiben zunächst Einkäufe in den USA, aber auch bei anderen westlichen Anbietern wie Südkorea, Israel oder der Türkei wichtige Optionen.

Langfristig sollte das Ziel ein offener und transparenter EU-Rüstungsbinnenmarkt sein, der die Grundlage für eine innovative und wettbewerbsfähige EU-Rüstungswirtschaft wäre. Ein solcher gemeinsamer Markt für Rüstungsgüter und -dienstleistungen würde helfen, strukturelle Schwächen zu überwinden – etwa die Fragmentierung in nationale Kleinstmärkte, die geringe Wettbewerbsfähigkeit durch zu niedrige Stückzahlen und mangelnde Innovationskraft. Auch die Interoperabilität der europäischen Rüstungsgüter ließe sich dadurch verbessern. Opportunitätskosten könnten gesenkt, Doppelausgaben vermieden und höhere Skaleneffekte ermöglicht werden.

Erste Schritte in diese Richtung sind etwa die EU-Vorhaben zu „ReArm Europe Plan/Readiness 2030“ und neue Finanzierungsinstrumente. Doch auch unter günstigen Bedingungen werden diese Maßnahmen eine Weile brauchen, bis sie die gewünschte Wirkung erzielen. Kurzfristig könnte die EU aber bereits die Lagerhaltung für Rüstungsgüter und Munition übernehmen und diese aus dem gemeinsamen Haushalt finanzieren.

Ein von der EU unterstütztes Rüstungsforschungsprogramm – unter Einbeziehung der Ukraine – könnte dazu beitragen, die Erfahrungen aus dem Krieg in der Ukraine auszuwerten und daraus konkrete Rückschlüsse für die künftige Beschaffung zu ziehen. Zugleich sollte geprüft werden, ob Waffensysteme, die von Drittstaaten geliefert werden, Blockademöglichkeiten durch den Hersteller beim Einsatz beinhalten – und wie sich diese umgehen lassen. Dies könnte ein hartes Kriterium bei der Freigabe von EU-Mitteln für die Rüstungsbeschaffung werden. 

Die nukleare Abschreckung durch die USA sollte mittelfristig durch ein gemeinsames europäisches Programm zur atomaren Forschung und Aufrüstung ergänzt werden. Dieses sollte langfristig die Voraussetzungen dafür schaffen, dass die EU „nukleare Souveränität“ besitzt und für den Fall eines US-Rückzugs oder einer Relativierung des atomaren Schutzschilds gewappnet wäre. Teil des Programms sollte der Aufbau einer europäischen Nukleareinheit sein, die in der Lage sein muss, unabhängig von den USA den Schutz und die Wartung zu übernehmen und mittelfristig auch die Zielerfassungsfähigkeit künftiger EU-Atomwaffen herzustellen. In diesem Zusammenhang wäre in direkten Verhandlungen mit der Trump-Administration zu prüfen, ob ein Ankauf der US-Atomwaffen, die noch in Europa stationiert sind, durch die EU möglich wäre. Dies könnte die USA spürbar bei den Unterhaltskosten entlasten.  

Nachkriegs-Ukraine: Themenorientierte Kooperationen 

Die EU könnte gemeinsam mit der Ukraine und China über die Bildung trilateraler Konsortien nachdenken, etwa für den Wiederaufbau der Ukraine, die Zusammenarbeit bei Infrastruktur und Logistik oder die Rohstoffversorgung. Ähnliche themenorientierte Kooperationen könnten die EU und die Ukraine mit der Türkei und anderen interessierten Staaten etablieren. Die Betätigungsfelder solcher Kooperationen könnten durch einen Rohstoffdeal der USA mit der Ukraine deutlich limitiert werden; sie wären aber ein Signal dafür, dass die EU-Staaten die (aufgezwungenen) Konditionen der USA gegenüber der Ukraine und vor allem das Hinausdrängen Europas aus einem wichtigen wirtschaftlichen Feld der Nachkriegs-Ukraine nicht einfach hinnehmen. 

Klimatechnikpartnerschaft mit China

Die EU sollte in Fragen der internationalen Politik den Kontakt mit Peking suchen; so könnte die EU China eine Partnerschaft für eine internationale Klimapolitik vorschlagen. In diesem Rahmen könnten neue Strukturen der Zusammenarbeit zu klimapolitischen Themen entwickelt werden. Beispielsweise könnten die EU und China in einer Klimatechnikpartnerschaft gemeinsame Lösungen für die CO2-Entnahme aus der Atmosphäre, die CO2-Speicherung und innovative erneuerbare Energien suchen. 

Energie, Handel, Sicherheit: mehr Zusammenarbeit mit Kanada

Die EU sollte zur Sicherung ihrer Energieversorgung ein neues, ambitioniertes Abkommen mit Kanada abschließen; die LNG-Einkäufe in den USA könnten mittelfristig durch kanadische Lieferungen abgelöst werden. Angesichts des sich abzeichnenden politischen Tauwetters zwischen den USA und Russland könnten langfristig auch zusätzliche russische LNG-Importe die amerikanischen Importe ergänzen – abhängig vom Gaspreis. Im Zuge der Verhandlungen mit Kanada sollte die EU Ottawa eine Mitgliedschaft Kanadas im Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) anbieten. Ein solches Angebot ginge weit über ein normales Handelsabkommen und eine Freihandelszone hinaus. Brüssel könnte zusätzlich ein Sicherheitsabkommen mit Kanada abschließen, das das Land an die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) und die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) sowie an Rüstungsinitiativen der EU heranführt und Solidarklauseln enthält. 

Offensive europäische Handels- und KI-Politik

Die EU sollte außerdem neue Handelsabkommen mit Partnern in Asien und Afrika abschließen. Die Zeit der Unsicherheit durch eine unkalkulierbare US-Zollpolitik sollte genutzt werden, um aufstrebenden Handelsstaaten einen günstigen Zugang zum europäischen Binnenmarkt anzubieten – im Gegenzug für die Öffnung für europäische Industrieprodukte und, wo möglich, den Zugang zu Rohstoffen. Die EU hat bereits eine erste handelspolitische Initiative mit Indien aufgenommen; weitere Adressaten für eine solche offensive europäische Handelspolitik könnten afrikanische Länder wie Südafrika und Nigeria oder asiatische Partner wie Indonesien oder die Philippinen sein, mit denen schon Gespräche über entsprechende Abkommen initiiert wurden. 

Digitalisierung und die Entwicklung Künstlicher Intelligenz müssen in der EU weiter reguliert werden. Bei Verstößen und mangelnder Kooperationsbereitschaft kann der europäische Binnenmarkt für US-Anbieter gesperrt werden; der Europäische Gerichtshof muss das europäische Recht vorbehaltslos durchsetzen können. Die EU könnte gleichzeitig neue KI-Forschungs- und Entwicklungspartnerschaften mit Japan, Taiwan oder Südkorea auf den Weg bringen.  

Solche Vorschläge bergen zweifellos ein politisches, ökonomisches und sicherheitspolitisches Risiko für die EU und ihre Mitgliedstaaten. Langfristig wäre es aber auch ein Risiko, nicht über neue und unorthodoxe Lösungen nachzudenken, denn: In einem neuen Zeitalter imperialer Machtspiele führen Unentschlossenheit und Passivität zur Unterwerfung. Doch das Spiel ist noch nicht aus und die Europäer sind noch nicht am Ende. 

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik, Online-Veröffentlichung; 21. April 2025

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Mehr von den Autoren

Dr. Peter Becker ist Wissenschaftler in der Forschungsgruppe EU/Europa bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP).

Dr. Kai-Olaf Lang ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe EU/Europa bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP).

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