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01. Juli 2012

Die Erde als Stadt

Von einer neuen Erdepoche namens Anthropozän

In der Umweltdebatte wird der Horizont weiter: Grüne Städte könnten der Einstieg in ein „Anthropozän“ mit positiven Vorzeichen sein. Womöglich werden nicht nur Archäologen, sondern auch Geologen dereinst rekonstruieren können, wie „smart“ und „green“ die Entscheidungen waren, die zu Beginn der „Erdepoche des Menschen“ gefallen sind.

Das Berlin der Zukunft werde von der Elbe bis an die Oder und von der Ostsee bis in die Lausitz reichen, schrieb Alfred Döblin 1924 in seinem Zukunftsroman „Berge Meere und Giganten“. Damit lag der Schriftsteller zwar falsch, was die deutsche Hauptstadt betrifft, wo heute über die Nutzung großer Leerflächen debattiert wird. Doch mit seiner Ahnung, dass Städte in späteren Jahrhunderten gigantische Ausmaße annehmen könnten, sollte Döblin recht behalten.

Dem Stadtprogramm „Habitat“ der Vereinten Nationen zufolge werden in den kommenden Jahren weltweit Megaregionen entstehen, in denen Millionenstädte zusammenwachsen. Dazu zählen Hongkong-Shenhzen-Guangzhou mit rund 120 Millionen Einwohnern, die Region Rio de Janeiro-São Paulo mit 43 Millionen Einwohnern und ein 600 Kilometer langer Stadtstreifen an der westafrikanischen Küste, der Nigeria, Benin, Togo und Ghana verbindet.

Noch zu Döblins Zeiten waren Städte kleine, vom Menschen geformte Inseln inmitten einer halbwegs ­naturbelassenen Umwelt. Inzwischen wohnt die Hälfte der sieben Milliarden Menschen in Städten. Alle Siedlungen zusammen nehmen bereits eine Fläche ein, die halb so groß ist wie Australien. Die Vereinten Nationen prognostizieren, dass sich die Siedlungsfläche in den kommenden Jahrzehnten verdoppeln wird. Würde man alle Menschen in einer einzigen Stadt von der Einwohnerdichte Berlins zusammenbringen, würde diese Stadt von der polnischen Ostgrenze bis zum Atlantik reichen.

Strahlender Superorganismus

Städte sind heute Knotenpunkte in einem weltweiten Kontrollnetz, mit dem die menschliche Zivilisation die Landfläche der Erde umspannt. Nichts macht dies sichtbarer als die Filme von Nachtflügen, die Astronauten der Internationalen Raumstation zur Erde senden. Die Erdoberfläche erscheint in den Aufnahmen als Webmuster aus hellen Flecken, besonders entlang der Küsten. Ob im amerikanischen Osten, an der Küste von Java oder in China – wohin die Raumfahrer in den Nachtzonen blicken, strahlt ihnen menschengemachtes Licht entgegen. Es wirkt fast so, als würde sich ein leuchtendes Lebewesen auf der Landoberfläche ausbreiten. Von dort oben ist bestens zu sehen, warum der australische Zoologe Tim Flanery die Menschheit als „Säugetier-Superorganismus“ beschreibt. Nur die Wüsten, Hochgebirge und die letzten unberührten Regenwälder sind nachts noch dunkel.

Städte machen heute deutlich, warum eine wachsende Zahl von Naturwissenschaftlern davon spricht, dass eine neue geologische Epoche begonnen hat, das „Anthropozän“. Diese „Erdepoche des Menschen“ hat vor zehn Jahren der in Mainz lebende Chemie-Nobelpreisträger Paul J. Crutzen im Journal Nature ausgerufen.

Die Anthropozän-Idee bringt zum Ausdruck, dass sich Kultur und Natur, Stadt und Land, Mensch und Umwelt heute nicht mehr als Gegensatzpaare gegenüberstehen, sondern dass eine neue Welt entsteht, eine vom Menschen geprägte Welt, in der aus den Städten heraus das Erdsystem immer tiefgreifender umgestaltet wird.

In dieser neuen Zeit stehen wir Menschen als Erdbeweger im Mittelpunkt, weil wir zur dominanten Kraft einer Veränderung geworden sind, die nicht mehr nur auf regionaler, sondern – Beispiel Klimawandel – auf globaler Ebene stattfindet. Ein Großteil dieser Veränderungen geschieht, um die Nachfrage der Städte nach Energie, Rohstoffen und Nahrung zu befriedigen. Städte sind so etwas wie Treiber für das Anthropozän. Zu den greifbaren Veränderungen zählen die 50 Milliarden Tonnen Kohlendioxid, die Menschen inzwischen jährlich in der Atmosphäre freisetzen, vor allem um Städte mit Energie und Industrieprodukten zu versorgen; die 68 Milliarden Tonnen Rohstoffe, die allein im vergangenen Jahr aus Bergwerken gefördert und in Produkten weltweit verteilt wurden; eine Bodenerosion, die gegenüber der natürlichen Erosion um ein Vielfaches beschleunigt ist, hauptsächlich aufgrund von Bautätigkeit und Landwirtschaft; sowie das Aussterben von Tier- und Pflanzenarten, während Menschen in meist städtischen Laboratorien neue Lebensformen schaffen.

Wie sehr der frühere Kontrast von städtischer Kultur und ländlicher Natur verschwindet, zeigen Analysen des US-Geografen Erle Ellis. Demnach sind nur noch 23 Prozent der eisfreien Landfläche weitgehend vom Menschen unbeeinflusst. Der Großteil der Landfläche besteht bereits aus Siedlungen, Äckern, Weiden, Industriegebieten, also anthropogen gestalteten Landschaften, die Ellis „Anthrome“ nennt. Heute sind also echte Naturflächen das, was früher Städte waren: Inseln. „Es ist veraltet, die Erde als natürliches Ökosystem zu sehen, das von Menschen gestört wird“, sagt Ellis. Vielmehr sei die Erde bereits ein „Humansystem mit eingebetteten natürlichen Ökosystemen“ geworden.

Man könnte sogar noch weiter gehen und sagen: Im Anthropozän wird die ganze Welt zur Stadt. Was früher als reine, unberührte Natur galt, wird in die menschliche Einflusssphäre eingemeindet. Alle Natur wird direkt oder indirekt von Menschen gestaltet, sie wird zur Kultur. In diesem Blickwinkel erstrecken sich die Städte bis tief hinab in die Ozeane, wo heute Fischtrawler mit Schleppnetzen ganze Schwärme einfangen und morgen Schaufelradbagger Seltene Erden abbauen könnten, damit Städter beim abendlichen Fischessen auf Plasmabildschirme schauen können, in denen die Metalle enthalten sind.

Diese „erweiterte Stadt“ umfasst alle Stoffströme, die zwischen menschlichen Konglomerationen und dem restlichen Erdsystem bestehen. Jede sichtbare Stadt ist über ein weitgehend unsichtbares Netz von Pipelines, Handelswegen und Abfallströmen mit entfernten Erdregionen verbunden. Untereinander bilden die Siedlungen und Städte schon heute ein gewaltiges neues Ökosystem. Würde man den Rest der Erde wegschmelzen, also Ozeane, Landmassen, Gestein und Erdkern, und nur die Infrastruktur des Menschen samt Unterseekabeln übrig lassen, wäre ein überaus filigranes Gebilde zu sehen, die feinste und größte Skulptur, die je erschaffen wurde.

In den siebziger Jahren glaubten manche Umweltschützer noch, es würde reichen, alle Menschen in Städten zusammenzupferchen, um den Rest der Erde wieder zur Wildnis zu machen. Heute zeigt sich, dass die Urbanisierung im Gegenteil mit einer flächendeckenden Dominanz des Menschen über die Erde einhergeht. Städte sind nicht Rückzugsorte des Menschen, sondern das genaue Gegenteil: Zentralen, von denen aus Macht auf den Rest der Erde projiziert wird.

Globale Polis

Paul Crutzens Vorstoß, die heutige Erdepoche Holozän in Anthropozän umzubennen, wird von der Interna­tionalen Kommission für Schichtenkunde, die geologische Erdzeitalter voneinander abgrenzt, inzwischen offiziell geprüft. Doch die Bedeutung dieses Denkmodells geht über die Geologie weit hinaus. Denn wenn man die Erde als menschlich gestalteten Lebensraum und letztlich als Stadt betrachtet, verschiebt sich die Perspektive auf viele aktuelle Debatten um Umweltschutz und Nachhaltigkeit. Wenn die ganze Erde zu einer Art globaler Polis wird, bekommt auch die Pionierarbeit des russischen Geologen Wladimir Wernadski neue Aktualität. Er forderte bereits in den vierziger Jahren, dass der starke geologische Einfluss des Menschen auf die Erde den „Idealen der Demokratie“ entsprechen solle.

Dieser Paradigmenwechsel ist ein gewichtiger Grund, warum in Deutschland nun das Haus der Kulturen der Welt in Berlin, die Max-Planck-Gesellschaft und das Deutsche Museum in einem vom Bund finanzierten Großprojekt das Anthropozän erkunden und erforschen wollen. Denn die Anthropozän-Idee wirft die Frage auf, wie ein Prozess einer langfristigen „Erdgestaltung“ überhaupt aussehen könnte. In einer von Kurzfristigkeit und Schnelllebigkeit geprägten Welt fällt ein Denk­modell, das den Menschen auf der geologischen Skala verortet, zunächst völlig aus dem Rahmen.

Das ist auch der Grund dafür, warum viele Menschen das Anthropozän einfach nur als Summe aller heutigen Umweltprobleme wahrnehmen. Betrachtet man die Erde als Stadt, fallen in der Tat zunächst hauptsächlich die Probleme ins Auge. Seit jeher gelten Städte als Sinnbilder von Schmutz und Naturfeindlichkeit. Das trifft auch auf viele Megalopolen von heute zu und auf jene Agrar- und Industrielandschaften, die entstehen, um sie zu versorgen. Zu Recht gelten Städte heute als mitverantwortlich für den Klimawandel – und Verkehrsstaus sind eines der stärksten Symbole von Energieverschwendung.

Doch die tradierten Grenzen von Kultur und Natur verschwimmen im Anthropozän auch auf andere, positivere Weise: So ist die Vielfalt an Tieren und Pflanzen in Städten viel größer als die meisten Menschen denken. Biologen haben festgestellt, dass in einer Stadt wie Frankfurt mehr Pflanzenarten vorkommen als im nahen „natürlichen“ Taunus. Berliner Stadtbienen produzieren doppelt so viel Honig wie Brandenburger Landbienen, weil die Stadt wärmer ist und es weniger Pestizide und „Maiswüsten“ gibt. Und ausgerechnet in der Bronx in New York haben Wissenschaftler kürzlich eine neue Froschart entdeckt. Das sind anekdotische Beispiele, doch sie zeigen das Potenzial an vielfältiger „Neonatur“, das in Städten steckt. Wichtiger noch ist, dass Städte auch beim Energieverbrauch punkten können: Größere Dichte und kürzere Wege haben das Potenzial, den Wärme- und Strombedarf deutlich niedriger zu halten als in ländlichen Siedlungsformen.

Neuerdings gewinnt auch die Nahrungsmittelproduktion in Städten wieder an Popularität: Kleingärten auf Dächern, Fischzuchtanlagen in Kellern, Gemüsebeete auf dem Balkon – das „Urban Farming“ hat großes Potenzial, eine nachhaltige Welternährung zumindest zu komplementieren.

Wenn heute von „Smart Cities“ die Rede ist, dann zielt das hauptsächlich darauf ab, den Energie- und Stofffluss innerhalb der Städte effizienter zu machen. Das ist ein guter Ansatz, doch im Anthropozän kommt es darauf an, den gesamten Fluss von Lebewesen und Materialien im Erdsystem im Blick zu haben. Dass grüne Lösungen erhebliche Probleme bergen können, zeigen Biokraftstoffe. Es wirkt für manchen Städter „grün“, statt fossilem Benzin Pflanzentreibstoff zu tanken, doch in Wahrheit verbergen sich dahinter oftmals negative Veränderungen auf dem Land in Form einer noch stärker industrialisierten Landbewirtschaftung.

„Smart Green Cities“ bedeutet daher, ein wirklich globales Denken in die Städte zu tragen. Für viele Städter sind heute Wifi, Smartphones und andere elektromagnetische Systeme die „erste Natur“, deren Wahrnehmung im Vordergrund steht. Funk­löcher, die den Empfang behindern, werden millionenfach als schmerzlicher wahrgenommen als Löcher in Regenwäldern in weiter Ferne.

Es ist aber eindeutig ein Hoffnungsschimmer, dass in Umfragen gerade Stadtbewohner ein erhöhtes Bewusstsein für den Wert einer intakten ökologischen Umwelt zeigen. Die Knappheit und Ferne von „echter Natur“ schaffen nicht nur Fremdheit, sondern offenbar auch eine produk­tive Sehnsucht. Dieses Gefühl gehört im 21. Jahrhundert zum kulturellen Reichtum: Wenn Städter von Natur träumen, muss das nicht romantisch sein. Es können auch ­wundersame Gebilde herauskommen wie jene „­Su­­per­bäume“, die derzeit im Hafen von Singapur entstehen, oder die neuen Hängenden Gärten, die in Paris und anderswo die Hausfassaden zieren. Solche Orte sind Ansatzpunkte für ein Bewusstsein davon, wie das ­eigene Leben inmitten von Häusern, Mauern und Asphalt verbunden ist mit dem großen umgebenden Erd­system.

Globale Gärtner

Für die Zukunft der „erweiterten Stadt“ aus Ökosystemen an Land und auf dem Meer ist mehr als Sehnsucht nötig: Es bedarf eines umfassenden ökologischen Wissens, das aufgeklärte Entscheidungen möglich macht. Wenn der Mensch wirklich aus den Städten heraus als eine Art Erd­gestalter und Erdgärtner tätig werden soll, müssen Entscheidungen auf der Grundlage eines umfassenden Verständnisses des Erdsystems fallen. Davon sind wir aber noch weit entfernt.

Die Menschheit betreibt heute ­primitives Geo-Engineering, indem sie in riesigen Mengen Treibhausgase freisetzt, ohne die Effekte genau zu kennen. Sie geht einer primitiven Form der globalen Gärtnerei nach, indem sie Tier- und Pflanzenarten ausrottet, die Wissenschaftler noch nicht einmal beschrieben haben. Bis zu einer aufgeklärten geobiologischen Demokratie, in der die Menschheit zum „Hüter des Erdsystems“ (Crutzen) wird, ist noch eine ziemliche Strecke kultureller Evolution zu bewältigen.
Ausgerechnet Städte selbst könnten eine zentrale Rolle auf diesem Weg spielen. Während die Umweltbewegung sich gerne auf Henry David Thoureaus „Walden“ bezieht, das in der Einsamkeit entstand, könnten die Umweltparadigmen der Zukunft in einer der Metropolen entstehen, die sich darum bemühen, ihren urbanen Stoffwechsel „green“ und „smart“ zu gestalten. Die Stadt erscheint in einem neuen Licht: Wenn der ganze Planet einschließlich der vom Klimawandel gestressten und überfischten Weltmeere zum „Humansystem“ wird, stellt sich die Frage nach ihrer eigenen Natürlichkeit neu. Wenn das Humansystem den Planeten dominiert, ist es selbst auf neue Weise Natur.

Städte wachsen also in dem Maße, wie sie sich über die Erde ausdehnen, zum neuen Teil der ökologischen In­frastruktur des Planeten heran. Wenn sich Städter selbst als Bewohner einer solchen neuen, anthropozänen Natur verstehen, gibt es vielleicht die größten Chancen, dass aus den Megaregionen der Zukunft heraus die richtigen Entscheidungen für einen positiven Verlauf des Anthropozäns fallen.

Solche Städter würden die „Umwelt“ insgesamt als ihre Infrastruktur verstehen, als eine Art grünes Sicherheitssystem, das lebenswichtig für sie ist. Polkappen und Gebirgsgletscher würden sie als Klimaanlagen der Metropolen auffassen, die Moore und Wälder als urbane CO2-Speicher, die Meere als marine Vorgärten, die Netzwerke der Naturschutzgebiete als genetische Superhighways. Diese Zukunftsstädter würden für Gebäude eintreten, die selbst aussehen wie Superorganismen und die gezielt so gestaltet sind, dass sie nicht nur Menschen, sondern auch einer Vielzahl von Tieren und Pflanzen ein Zuhause geben.

Wenn künftig drei Viertel der Menschheit in Städten leben und dort ein Großteil des weltweiten Kapitals konzentriert ist, lässt sich mit einiger Sicherheit sagen, dass die Erde der Zukunft aus den Städten heraus entsteht. Und zugleich entsteht die Geologie der Zukunft: Das Baumaterial der Städte lagert sich ab. Tierarten, die mit Containerschiffen von einem Kontinent auf den nächsten gelangen, finden sich in ferner Zukunft als Fossilien wieder. Wenn Staudämme am Oberlauf von Flüssen Sedimente davon abhalten, ins Meer zu gelangen, verändert das die Geologie der Deltas massiv, wo fast immer Städte liegen.

Anthropozän-Forscher wie der britische Geologe Jan Zalasiewicz wei­sen darauf hin, dass die Erdschichten, die unser Leben heute im Gestein der Erde zurücklassen werden, viel über uns erzählen werden. „Der Mensch gestaltet bereits die Bodenschichten um, die sich ablagern und ablagern werden. Dazu gehören auch neuartige künftige Bodenschichten, die wir heute Städte nennen“, sagt er. Womöglich werden nicht nur Archäologen, sondern auch Geologen der Zukunft rekonstruieren können, wie „smart“ und „green“ die Entscheidungen waren, die am Beginn des neuen Erdzeitalters namens ­Anthropozän gefallen sind.

CHRISTIAN SCHWÄGERL ist Biologe und Journalist. 2010 erschien sein Buch „Menschenzeit“, 2012  „11 drohende Kriege“ (mit A. Rinke).

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 4, Juli/ August 2012; S. 52-57

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