Kommentar

24. Apr. 2023

Der Multilateralismus lebt!

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Bild: Grafische Illustration eines Schwertes dessen Spitze in einen Stift übergeht
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Wer in den USA und auch in Europa als „Globalist“ bezeichnet wird, muss dies seit einiger Zeit nicht mehr als Kompliment für Weltgewandtheit, sondern als versuchte Beleidigung verstehen. Republikaner und Rechtspopulisten brandmarken mit dem Begriff Menschen, die nicht rein nationalistisch denken und handeln, sondern die multilaterale Ordnung hochhalten.

Das Schimpfwort ist auch in Russland belibt, das mit seinem Angriff auf die Ukraine so grundsätzlich gegen das Völkerrecht verstoßen hat, dass es sich damit aus dem multilateralen System vorerst verabschiedet hat. Die kürzlich vor aller Welt zelebrierte russische Allianz mit China führt zu einer neuen Blockbildung, bei der sich wie im Kalten Krieg zwei Lager gegenüberstehen.



Bereits in den 1920er Jahren hat der Völkerbund zum Grundprinzip der internationalen Diplomatie und Politik erklärt, dass nicht einfach jeder Staat versucht, seine Interessen auf Kosten anderer Staaten durchzusetzen, sondern dass auf dem Weg der Verhandlungen ein gemeinsamer Weg gefunden wird. Aus der Asche des Scheiterns bei diesem Ziel sind die Vereinten Nationen entstanden. In ihrer Charta verpflichten sich die Staaten, „eine internationale Zusammenarbeit herbeizuführen, um internationale Probleme wirtschaftlicher, sozialer, kultureller und humanitärer Art zu lösen“.



Doch schon lange wurden dieses Grundprinzip und die vielen internationalen Organisationen, die ihn tragen, nicht mehr so grundsätzlich infrage gestellt und attackiert wie heute. Also adieu, Multilateralismus? Nein. Denn erfreulicherweise ist der Geist der internationalen Kooperation in einem Politikfeld von enormer Bedeutung nicht nur am Leben, sondern in einer so gar nicht zur politischen Wetterlage passenden Blütezeit. In der globalen Umweltpolitik reiht sich eine gute Nachricht an die andere.



Die Erfolgsserie begann im März 2022 nach vierjährigen Vorarbeiten mit der Einigung bei der Umweltversammlung der Vereinten Nationen (UNEA), bis Ende 2024 ein globales Abkommen für den Kampf gegen die Plastikverschmutzung zu schaffen. Ziel ist es, gemeinsam dagegen vorzugehen, dass jährlich viele Millionen Tonnen Plastik in der Umwelt landen. Im November folgte ein Weltklimagipfel in Ägypten, der zwar keine Durchbrüche bei der CO2-Reduktion brachte, aber bei dem es die Staaten immerhin schafften, der seither auch vom Weltklimarat IPCC bestätigten Wahrheit ins Auge zu sehen. Bis 2030 muss der globale Ausstoß an Kohlendioxid um 43 Prozent im Vergleich zu 2019 sinken, um eine hochgefährliche Erwärmung abzuwenden, hieß es in der Abschlusserklärung. So viel Ehrlichkeit gab es bisher nicht.



Im Dezember 2022 gelang in Montreal bei einem weiteren UN-Umweltgipfel ein Erfolg, der als historisch gelten kann: Mit dem Weltnaturabkommen gibt es seither einen umfassenden Fahrplan dafür, bis zur Mitte des Jahrhunderts den Niedergang der Biodiversität – also der Vielfalt von Lebewesen, Arten und Lebensräumen – zu stoppen. Das neuartige Abkommen, das über mehrere Jahre hinweg unter den erschwerten Bedingungen der Pandemie vorbereitet worden war, ist eine Blaupause zur Rettung der Natur: In 23 konkreten Zielen buchstabieren die Vertragsstaaten aus, wie sie bis 2030 u.a. die Zerstörung von Regenwäldern und Korallenriffen beenden und dazu Milliardenbeträge zum Schutz der Natur umwidmen wollen. Die vereinbarten Maßnahmen werden den Staaten viel abverlangen.



Natürlich wurden an vielen Stellen Formulierungen abgeschwächt und Wörtchen eingefügt, die Juristen dazu nutzen können, die Verpflichtungen zu relativieren. Das Weltnaturabkommen stand zudem bis zur letzten Minute auf der Kippe, wegen russischer Blockadeversuche, aber auch, weil die Demokratische Republik Kongo noch kurz vor dem rituellen Hammerschlag versuchte, ihre Forderungen durchzusetzen. Der chinesische Umweltminister, der die Konferenz leitete, schlug unter großem Applaus in Sekundenschnelle auf den Tisch. Er musste sich für diese Eile zwar anschließend bei der Repräsentantin des Kongo entschuldigen. Aber auch das trübte das Happy End nicht.

 

Höhenflug globaler Umweltpolitik

2023 setzte sich der Höhenflug der globalen Umweltpolitik fort, als Anfang März in New York über einen gewaltigen Teil der Erdoberfläche und ihrer unterseeischen Tiefen verhandelt wurde. Das Besondere an der Hochsee ist, dass sie über Jahrhunderte außerhalb staatlicher Regeln genutzt worden war. Seit einem wegweisenden Traktat des niederländischen Philosophen und Juristen Hugo Grotius hatte die Maxime der „freien See“ gegolten, die ausgefeilten Regeln entgegenstand. Doch diese Ära endete nun endgültig.



Zwar haben die Mühlen der internationalen Diplomatie sehr langsam gemahlen. Das Seerechtsabkommen UNCLOS, das Regeln für die internationale Kooperation auf der Hochsee und dem schlicht „das Gebiet“ genannten Meeresboden unter ihr aufstellt, stammt bereits von 1982. Bis zur Konferenz in New York klaffte eine riesige Lücke beim Schutz und bei der Nutzung der Lebewesen und Ökosysteme der Hochsee, die jetzt geschlossen wurde.



Nachdem bisher national verantwortete Schutzgebiete dominierten, werden künftig internationale Meeresschutzgebiete unter UN-Verwaltung möglich. Wer die Hochsee nutzen möchte, muss vorher den anderen Staaten die Umweltfolgen darlegen und diese minimieren. Vorbei ist auch die Zeit, in der Forscher und Firmen sich unkontrolliert aus dem Meer Genproben holen und damit Produkte mit enormen Umsätzen entwickeln konnten. Ein Teil der Einnahmen soll künftig in einen Fonds für den Naturschutz fließen. Natürlich waren alle diese Konferenzen keine blumigen Happenings mit Händchenhalten. Es wurde hart verhandelt, um jedes Wort gerungen. Doch genau darin besteht ja die Essenz des Multilateralismus: schwierige Wege gemeinsam zu gehen, statt den Dialog zu beenden und nur die eigenen Ziele und Regeln zu verfolgen.



Dafür, dass der Multilateralismus ausgerechnet in der Umweltpolitik gelingt, gibt es verschiedene mögliche Erklärungen: Eine zynische Interpretation könnte lauten, dass man in Umweltfragen ohne Opportunitätskosten hehre Versprechen machen kann, die anschließend sowieso nicht eingehalten werden müssen. Dann würden die UN-Umweltkonferenzen für reine Schaufensterpolitik genutzt.



Diese Betrachtungsweise ist aber aus der Zeit gefallen. Längst ist die Umweltpolitik kein Nebenschauplatz mehr. Sie ist vielmehr immer stärker mit wirtschaftlichem Erfolg und den Finanzmärkten verzahnt. Klimafragen und neuerdings auch Biodiversitätsthemen rücken an Börsen und in Chefetagen mit ins Zentrum und entscheiden über Milliardeninvestitionen. „Soft“ ist an der globalen Umweltpolitik gar nichts mehr – selbst der abgebrühteste Regierungschef dürfte inzwischen Analysen auf dem Tisch haben, wie ein Scheitern in der Umweltpolitik jedem Land in Form von Hunger- oder Naturkatastrophen um die Ohren fliegen kann.



Deshalb ist am plausibelsten, dass ein neues Umweltbewusstsein die internationale Kooperation wie von selbst befördert. Nationale Grenzen sind weder für das Klima noch für Ökosysteme von Bedeutung. Die Natur selbst ist ein gigantisches multilaterales Geflecht, von dessen Funktionieren unser Überleben abhängt. Während der Rechtspopulismus gegen den „Globalismus“ kämpft und Russlands Krieg gegen die Ukraine neue Machtblöcke schafft, sorgt die Umweltpolitik für bessere Lebensbedingungen – und auch dafür, dass der überragend wichtige Multilateralismus am Leben bleibt.

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 3, Mai/Juni 2023, S. 112-113

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Christian Schwägerl ist Wissenschaftsjournalist und Mitbegründer von RiffReporter, einem Verbund von Journalistinnen und Journalisten, die über Themen aus Umwelt, Wissenschaft, Technologie und Gesellschaft berichten.

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