Die eiserne Kanzlerin
Brief aus Wien
Angela Merkel demonstriert Machtkalkül als preußische Disziplin – und beschämt damit Österreichs wehleidige Großkoalitionäre
Wir Österreicher geben es ja nicht gerne zu. Aber über die nicht mehr vorhandenen Grenzen nach Deutschland zu schielen, zu schauen, was der große Nachbar dem kleinen voraushat – das ist in der Alpenrepublik immer noch ein ebenso beliebter wie masochistischer Volkssport. Eine Zeit lang fühlten wir Ösis uns recht gut dabei. Was da in Deutschland zu sehen war, das wünschte man seinem ärgsten Feind nicht: mehr Arbeitslose als bei uns die drei größten Bundesländer an Einwohnern haben. Ein Wirtschaftswachstum, so kraftlos wie ein Hundertjähriger nach einer Bergtour. Unternehmenssteuern, so hoch, dass einem sogar Josef Ackermann fast leid tat.
Österreich, das bessere Deutschland, titelten gleich manche Gazetten. Doch das wohlige Gefühl der Überlegenheit währte nicht lange. Die wirtschaftliche Lage in Deutschland heiterte sich auf, und jetzt haben wir wieder Komplexe. Was haben uns die Deutschen nicht alles voraus: Freie Fahrt auf der Autobahn. Längere Ladenöffnungszeiten. Und natürlich die staatliche Förderung privater Altersvorsorge. Bei uns glaubt man immer noch, die gesetzliche Rente werde alle satt machen.
Vor Neid ist nicht einmal unser Nochbundeskanzler Alfred Gusenbauer gefeit. Zwar sind die Tage des Sozialdemokraten an der Spitze der Regierung gezählt, aber im Abgehen fordert er, was ihm fehlte, Angela Merkel aber hat: eine Richtlinienkompetenz! „Der Bundeskanzler bestimmt die Richtlinien der Politik und trägt dafür die Verantwortung“, heißt es in Artikel 65 des deutschen Grundgesetzes. Was für eine Verheißung: Die deutsche Kanzlerin kann einfach bestimmen, was sie haben will. Das klingt in den Ohren des österreichischen Kanzlers, der so schwach ist, dass ihn die eigene Partei aus dem Amt jagt, ungleich verlockender als „ausgeglichener Haushalt“ oder gar „Steuerüberschuss“.
Doch den österreichischen Sozialdemokraten ist offensichtlich eines entgangen: dass Merkel ihre Richtlinienkompetenz gar nicht anwendet. Wie auch? In dem Moment, in dem sie das täte, wäre sie angezählt wie ein unterlegener Boxer im Ring. Auch ihr Vorgänger Gerhard Schröder hat sich nie auf das Grundgesetz berufen, wenn er etwas durchsetzen wollte. Erst als Schröder immer öfter „Basta“ sagen musste, war sein Nimbus als durchsetzungsstarker Regierungschef dahin.
Vermutlich träumt auch Merkel nachts manchmal von Artikel 65. So ein Weisungsrecht, das gleich runter bis Bayern reicht, wäre natürlich eine feine Sache. Die Kanzlerin müsste weniger Auftritte von CSU-Chef Erwin Huber ertragen, bei denen er den rebellischen Erretter des Freistaats markiert. Und könnte gleichzeitig auch der Not leidenden SPD auf die Sprünge helfen, obgleich durchaus angezweifelt werden darf, ob ihr überhaupt noch zu helfen ist. Doch Merkel weiß ganz genau, wann ein deutliches Wort gefragt ist (eher selten) und wann man in der noch nicht olympischen Disziplin des Aussitzens Punkte sammeln kann (meistens). Deshalb gibt es in Deutschland ja auch noch immer die Große Koalition. Sie ist genauso unbeliebt wie die in Österreich, aber sie hält, weil sie halten muss. Wer den Plan A nicht mehr verfolgen will, braucht einen Plan B. So denkt und organisiert man sich in Deutschland. Nicht in Österreich. Dort nervten sich die Großkoalitionäre noch mehr als Paul McCartney und Heather Mills im Endstadium ihrer Ehe. Man trennte sich, um am 28. September neu zu wählen. Was dabei herauskommen soll, ist völlig unklar. Vermutlich wieder eine neue Große Koalition.
Eine solche Unwägbarkeit würde sich Merkel nicht leisten. Sie kennt den Unterschied zwischen Realität und Fiktion. Union minus der ungeliebten SPD plus Wunschpartnerin FDP gibt eben nur in der Phantasie jene schwarz-gelbe Konstellation, die Merkel schon 2005 angestrebt hätte. Doch solange die Kanzlerin nicht sicher sein kann, dass dieses Bündnis auch rein rechnerisch aufgeht, hält sie mit der SPD durch – mit einer Kaltblüte, die unsere nervenblanken Politiker vor Neid erblassen lässt. „Es reicht“, jammert der konservative österreichische Vizekanzler Wilhelm Molterer, den der Dauerstreit mit den Sozis völlig ausgelaugt hat. Und der auch noch jeden Tag erleben muss, wie die Kronen Zeitung, Österreichs Bild-Pendant, seinen Kontrahenten, SPÖ-Chef Werner Faymann, in den Himmel schreibt. Eine Steilvorlage für seine mächtigen schwarzen Landesfürsten, die ihm im Nacken sitzen und stets alles besser wissen.
Welch Wiener Wehleidigkeit! Merkel ist aus ganz anderem Holz geschnitzt. Kein Christdemokrat aus der Provinz ist ihr mehr gefährlich. Und wenn ihre Koalitionäre mal wieder aufeinander eindreschen, erklärt sie mütterlich abgeklärt: „Jeder pflegt da so seinen Stil, und ich guck mir das an – von Zeit zu Zeit gespannter und von Zeit zu Zeit entspannter.“ Dieses Machtkalkül demonstriert sie auch noch als jene legendäre preußische Disziplin, welche die Österreicher gleichermaßen verspotten wie bewundern. Da fühlen wir uns erst recht wieder unterlegen. Aber jetzt kommt bald der Winter. Und wenigstens im Skifahren, Herrgott sei Dank, sind wir noch die besseren.
BIRGIT BAUMANN ist Korrespondentin des Wiener Standard in Berlin.
Internationale Politik 9, September 2008, S. 14 - 15