Kommentar

26. Juni 2023

Die beiden Gewinner: Assad und Erdoğan

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Bild: Grafische Illustration eines Schwertes dessen Spitze in einen Stift übergeht
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Das Händeschütteln geht weiter. Nach diversen Treffen mit Außenministern und Staatschefs der Region und herzlichen Umarmungen beim Gipfel der Arabischen Liga Mitte Mai könnte Syriens Machthaber Bashar al-Assad demnächst dem wiedergewählten türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan die Hand reichen. Vorausgesetzt, die beiden werden sich einig, was nicht so einfach ist.



Assad ordert als Vorbedingung für Gespräche einen Abzug der türkischen Truppen aus Nordsyrien. Dort besetzt die Regierung in Ankara mit Hilfe syrischer Söldner mehrere Gebiete, die sie 2016, 2018 und 2019 völkerrechtswidrig erobert hat – ein neo-osmanisches und pro-islamistisches Projekt Erdoğans gegen eine vermeintliche kurdische „Terror“-Gefahr, das teuer und zunehmend unpopulär ist.



Erdoğan braucht diese Protektorate jedoch für die Rückführung eines Teiles der 3,6 Millionen syrischen Geflüchteten, die als Sündenböcke für die wirtschaftliche Misere herhalten müssen. Deshalb lässt er jenseits der Grenze Unterkünfte für Hunderttausende rückkehrbereite Syrerinnen und Syrer bauen – ein Eingriff in die demografische Zusammensetzung der Region, da durch die türkischen Offensiven vor allem Kurden vertrieben wurden und jetzt überwiegend Araber angesiedelt würden.



Diese werden die Türkei allerdings nur dann freiwillig verlassen, wenn sie sich in ihrer Heimat sicher fühlen – was unter Assads Herrschaft nicht der Fall ist, weil sie Verhaftung, Folter, Erpressung und Zwangsrekrutierung fürchten. In Wirklichkeit ist Assad für die Rückführung von Geflüchteten ein denkbar schlechter Partner, schließlich hat er diese Menschen jahrelang gezielt vertrieben, um eine in seinen Worten „gesündere“, also ihm loyal ergebene Bevölkerung zu generieren. Er hat deshalb gar kein Interesse an einer Rücknahme seiner geflüchteten Landsleute – egal ob sie in der Türkei, im Libanon, in Jordanien, im Nordirak oder in Europa Schutz gesucht haben.



Die Tatsache, dass auch die Arabische Liga mit Assad über die Rückkehr von Geflüchteten verhandeln will, zeigt nur, wie egal ihr das Schicksal der Syrerinnen und Syrer ist. Im Libanon sollen laut Hilfsorganisationen seit Jahresbeginn rund 1500 Menschen festgenommen und mehr als 700 davon nach Syrien deportiert worden sein. Die größten Verlierer der voranschreitenden Normalisierung des Assad-Regimes sind deshalb die Geflüchteten in den Nachbarländern, die nun fürchten, gegen ihren Willen und im Widerspruch zur UN-Forderung einer „freiwilligen Rückkehr in Sicherheit und Würde“ nach Syrien abgeschoben zu werden.



Das zweite Problem, das die arabischen Staaten mit Assad lösen wollen, ist der Handel mit dem Aufputschmittel Captagon. Syrien gilt als Narcostaat, die Pillen werden an der syrisch-libanesischen Grenze hergestellt und über Jordanien in die Golfstaaten geschmuggelt – ein Milliardengeschäft, an dem das Regime kräftig mitverdient. Assad soll also einen Drogenhandel bekämpfen, von dem er selbst profitiert und Geflüchtete zurücknehmen, die er gar nicht will. Er wird sich deshalb jede Kooperation teuer bezahlen lassen mit dem Argument, für eine Rückkehr von Geflüchteten müsse zunächst das Land wiederaufgebaut und für eine effektive Bekämpfung des Drogenschmuggels sein Sicherheitsapparat besser ausgestattet werden.



So ist es am Ende nicht die Arabische Liga, die Bedingungen für die Wiederaufnahme Syriens stellt, sondern Assad, der Geld für sein Entgegenkommen erpresst. Er braucht Finanzhilfen und Investitionen, um die eigenen Anhänger zu belohnen und sein Regime zu stabilisieren. Genau das wollen die USA mit ihren Sanktionen unter dem sogenannten Caesar-Gesetz verhindern. Sollten die Golfstaaten versuchen, das Regime mit Geld zu versorgen, riskieren sie US-Strafmaßnahmen. Aus der bislang symbolischen und politischen Normalisierung soll auf keinen Fall eine wirtschaftliche werden.



Zurück zur Türkei. Neben der Rückführung syrischer Geflüchteter geht es Erdoğan um eine Zerschlagung der kurdischen Autonomie im Nordosten Syriens. Dort kontrolliert die Autonome Verwaltung Nord- und Ostsyrien (AANES) auf einem Viertel der Staatsfläche die bescheidenen Öl- und Gasvorräte sowie große landwirtschaftliche Flächen Syriens – bekämpft von der Türkei wegen ihrer ideologischen Nähe zur PKK, unterstützt von den USA als Partner im Kampf gegen die Terrororganisation Islamischer Staat (IS). Ein Ende der AANES ist auch in Assads Interesse. Er möchte im Nordosten wieder seine Zentralherrschaft errichten und setzt die Selbstverwaltung deshalb unter Druck. Für eine Verhandlungslösung fordert er den Abzug der 900 US-Soldaten, die das Autonomieprojekt bislang schützen. Am Ende, so Assads Plan, müsste sich die AANES mit kulturellen Rechten zufriedengeben, das Regime würde die Verwaltung übernehmen und die Volksverteidigungseinheiten (YPG) in die syrische Armee ­integrieren.



Im Gegenzug würde Erdoğan dem syrischen Machthaber in den Regionen weiter westlich entgegenkommen, die sich bis heute außerhalb der Kontrolle des Regimes befinden: dem durch türkische Truppen geschützten Idlib und den türkisch besetzten Gebieten nördlich von Aleppo. In Idlib herrscht die Dschihadistenmiliz Hayat Tahrir al-Sham (HTS). Zieht sich die Türkei dort komplett zurück, könnte Assad die Region mit russischer und iranischer Unterstützung zurückerobern. Die mehr als zwei Millionen Binnenvertriebenen würde Assad den Vereinten Nationen überlassen – schließlich will er nur das Land zurück, nicht seine Gegner.



In den türkischen Protektoraten, die Ankara mithilfe islamistischer Söldnertruppen der Syrischen Nationalen Armee (SNA) kontrolliert, könnten Erdoğan und Assad einen Kompromiss aushandeln. Assad übernähme die Verwaltung und würde von den engen wirtschaftlichen Verbindungen in die Türkei profitieren, die SNA-Kämpfer müssten Richtung Türkei abziehen. Dafür dürften türkische Soldaten vor Ort bleiben, um rückkehrende Syrerinnen und Syrer vor Assads Geheimdiensten zu schützen.

 

Millionen Syrerinnen und Syrer als Verlierer

Indem Assad also die Türkei und die kurdische Selbstverwaltung gegeneinander ausspielt und die arabischen Nachbarstaaten erpresst, könnte er mittelfristig sein Ziel erreichen: die alte Ordnung auf Kosten anderer wiederherzustellen. Dann würde er über ganz Syrien herrschen, während die Vereinten Nationen die Menschen versorgen, die Golfstaaten den Wiederaufbau finanzieren, die Kurden ihre Autonomie verlieren und zur Rückkehr gezwungene Syrerinnen und Syrer sich seiner Herrschaft unterwerfen. Eine Aussicht, die viele andere zur Flucht bewegen wird, vor allem Assad-­Kritiker im Nordosten, die sich an ein gewisses Maß an Freiheit und Selbstbestimmung gewöhnt haben.



Wer also verhindern will, dass Assad mit seinen verbrecherischen Methoden weitere Syrerinnen und Syrer vertreibt, sollte die AANES in Verhandlungen mit Damaskus stärken, damit sie ihre Autonomie bewahren und sich zu einer echten demokratischen Alternative entwickeln kann. Die Europäer könnten im Nordosten die Wirtschaft, Infrastruktur und ­Verwaltung fördern und gleichzeitig an ihren gezielten Sanktionen gegenüber Regimevertretern festhalten. Und sie sollten dem syrischen Präsidenten auch weiterhin den Handschlag verweigern – etwa im November dieses Jahres in Dubai. Dort findet die Weltklimakonferenz COP 28 statt, bei der Assad nicht mehr nur die regionale, sondern die internationale Bühne für sich nutzen wird.

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 4, Juli/August 2023, S. 112-113

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Kristin Helberg arbeitet als freie Journalistin, Autorin, Moderatorin und Beraterin zu den Themen Syrien und Nahost, Flucht, Migration und Integration sowie Außen- und Sicherheitspolitik.

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