Deutschland braucht eine neue China-Politik
Die Bundesregierung sollte ihren G7-Vorsitz in diesem Jahr dazu nutzen, die deutsche und europäische China-Politik mit verbündeten Nationen abzustimmen und zu verzahnen. Berlin sollte sich dabei nicht von den Vertretern und Lobbyisten der überholten nationalmerkantilistischen Linie beirren lassen, die nicht einmal mehr von der Wirtschaft verfochten wird. Es gilt, eine glaubwürdige Gegenmacht zu einem China aufzubauen, das zur führenden Supermacht aufsteigen wird.
Es ist bemerkenswert, wieviel Störfeuer es gegen eine Neuausrichtung der deutschen China-Politik gibt, seit der Koalitionsvertrag der drei Regierungsparteien (SPD, Grüne, FDP) im Dezember deren Leitplanken beschlossen hat. Dieses Störfeuer kommt nicht aus der Ecke der Oppositionsparteien, deren vornehmste Aufgabe es ja ist, Regierungshandeln kritisch zu begleiten, sondern vor allem aus der Sozialdemokratie. (Gleiches lässt sich übrigens für die Russland-Politik beobachten, wo der Koalitionsvertrag ebenfalls auf Änderungen dringt.) Ein Festhalten an der bisherigen Linie wird hier neuerdings als eine „wertegebundene Realpolitik” ausgegeben (siehe den Kommentar von Rudolf Scharping und Sigmar Gabriel im Handelsblatt vom 2.12.2021), wobei allerdings die Apologeten dieser Art „Realpolitik” weder eine überzeugende Wertebindung noch eine Ausrichtung an den Realitäten erkennen lassen.
Real ist hingegen, dass China in den vergangenen zehn Jahren nicht nur wirtschaftlich und technologisch erheblich an Stärke gewonnen hat, sondern zugleich nach innen deutlich repressiver und nach außen hin aggressiv geworden ist. Diese Veränderung hat einen Namen: Xi Jinping. Er eroberte sich seit 2012 sukzessive eine Machtfülle, wie sie kein chinesischer Führer seit Mao innegehabt hat. Xi stärkte zugleich die Rolle der Partei, reideologisierte die Gesellschaft, verstärkte massiv den Druck auf Andersdenkende und Andersgläubige in China, beschleunigte die Aufrüstung der chinesischen Streitkräfte, treibt die Abkopplung der chinesischen Wirtschaft vom Westen voran („Made in China 2025“; „dual circulation“) und verfolgt eine in den vergangenen Jahren immer aggressivere Außenpolitik. Vorläufiger Höhepunkt sind die unverhohlenen militärischen Drohungen gegenüber Taiwan.
Der Merkel’sche Merkantilismus hat ausgedient
Dies sind, kurz gefasst, die realen Gründe, warum eine Neuorientierung der deutschen China-Politik notwendig und längst überfällig ist und weshalb der „Merkel’sche Merkantilismus”, der anderthalb Jahrzehnte die Politik der Bundesregierung gegenüber Peking prägte, ausgedient hat. Interessant: Kurz vor ihrem Ausscheiden aus dem Amt nannte sogar Angela Merkel die bisherige China-Politik ihrer Regierung „etwas naiv“. Wahrscheinlich spielte die Kanzlerin hier auf die bekannte westliche Wunschformel vom „Wandel durch Handel“ an. Die Hoffnung auf Liberalisierung und Demokratisierung Chinas infolge regen Handelsaustauschs, auf eine Einbindung Chinas in eine regelbasierte internationale Ordnung nach westlichen Vorstellungen, sie hat sich nicht erfüllt. Sie ist sogar krachend gescheitert.
Nun hat Wandel durch Handel im Falle Chinas sehr wohl funktioniert, wenn auch nicht so, wie im Westen erhofft oder erträumt: Der Wirtschaftsaufschwung und der daraus resultierende Wohlstandsgewinn, den der Handel des Westens mit China seit den 1980er Jahren im Land hervorgebracht hat, ist in seiner Geschwindigkeit vielleicht sogar präzedenzlos in der menschlichen Geschichte. Viele hundert Millionen Menschen wurden aus bitterster Armut befreit. Zur Wahrheit gehört auch, dass der Modernisierungsbedarf Chinas in den vergangenen 20 bis 30 Jahren sehr signifikant zum Wirtschaftswachstum und Wohlstandsgewinn im Westen beigetragen hat. Beispielsweise hätten wir im Westen die Banken- und Euro-Krisen in den Jahren 2008 ff. nicht so gut verdaut, wenn das starke chinesische Wachstum nicht auch die westlichen Volkswirtschaften mitgezogen hätte.
Offensive im chinesischen Markt um jeden Preis? Die Zeiten sind vorbei
China war für westliche Unternehmen in den letzten Jahrzehnten ein sich rasch entwickelnder, riesiger Exportmarkt, in dem sich zum Teil sagenhafte Renditen erzielen ließen. „Not to be in China means to be out of business“, lautete das Credo der großen Exportunternehmen. Anders gesagt, wer in China nicht präsent ist, gerät auch in den übrigen internationalen Märkten ins Hintertreffen. Die Strategie hieß: Offensive im chinesischen Markt um fast jeden Preis.
Diese Zeiten sind vorbei, eigentlich sogar schon länger. Wer sehen wollte, konnte die Zeichen an der Wand schon vor einigen Jahren erkennen. Etwa im Bahnbereich, wo chinesische Hersteller die dominanten westlichen Zughersteller sukzessive aus dem Markt drängten beziehungsweise zu Zulieferern degradierten. Mit der Gründung der riesigen China Railway Rolling Stock Corporation (CRRC), des weltgrößten Zugherstellers, im Jahr 2015 war dieser Prozess bereits weitgehend abgeschlossen. Jetzt drehten die Chinesen den Spieß um und schalteten ihrerseits in den Modus der Exportoffensive.
Im selben Jahr proklamierte die chinesische Führung ihre „Made in China 2025“-Strategie für aus- gewählte Hightech-Industrien, die sie seither konsequent umsetzt. Hierbei werden auch Methoden eingesetzt, die westliche Unternehmen vielfach behindern oder schlicht erpressen und chinesische Staatsunternehmen bevorzugen. Xi stärkt die Staatswirtschaft seit Jahren. Dies zeigt sich besonders deutlich an der Kreditvergabe durch den staatlich dominierten Bankensektor: Noch 2011 hatten die Staatsunternehmen wegen ihrer schwächeren Performance nur 28 Prozent des gesamten Kreditvolumens erhalten. Unter Xi Jinping stieg dieser Anteil bis 2016 auf 83 Prozent. Gleichzeitig wurde die Privatwirtschaft verstärkt der unmittelbaren politischen Kontrolle der Kommunistischen Partei unterstellt. Dafür steht die systematische Einführung von Parteizellen in Privatunternehmen, auch in ausländischen Firmen. Das unter Deng Xiaoping etablierte „Equal treatment“-Prinzip für Privat- und Staatsunternehmen wurde de facto ausgehebelt. Mittlerweile schließen Beobachter eine breitangelegte Verstaatlichung von in wirtschaftlichen Schlüsselbereichen tätigen Unternehmen nicht mehr aus (siehe Financial Times, 5.1. 2022). Wobei nicht vergessen werden sollte, dass es sich bei den zahlreichen Joint Ventures, die für westliche Firmen in China häufig zwingend vorgeschrieben sind, eh meist um halbstaatliche Gesellschaften handelt. Der Staat sitzt von Anfang an mit am Tisch.
Das Umsteuern der Industrie folgt Eigeninteressen
Nach Jahren nutzloser „stiller Diplomatie“ in Peking, diplomatisch vorgetragener Proteste seitens der Bundesregierung wie auch der betroffenen Unternehmen, rang sich der stärkste europäische Industrieverband, der BDI, Anfang 2019 zu einem bemerkenswert klaren und kritischen China-Papier durch. Dies führte zu ähnlich lautenden Papieren und Schlussfolgerungen auf europäischer Ebene, und es hat auch im jüngsten Berliner Koalitionsvertrag Spuren hinterlassen.
Das Umsteuern der Industrie hatte nichts mit den Menschenrechtsverletzungen in China zu tun, etwa den uigurischen Zwangslagern in Xinjiang, oder der zunehmend aggressiveren chinesischen Politik gegenüber Hongkong und Taiwan. Es folgte vielmehr schlicht dem Eigeninteresse der Unternehmen: unternehmerische Realpolitik.
Kurz gesagt hat die westliche Industrie erkannt, dass ihr jahrzehntelanges Offensivspiel in China passé ist und sie stattdessen in die Defensive gedrängt wird. Dies gilt nicht nur in Bezug auf Marktzugang und Marktanteile in China, sondern auch auf anderen internationalen Märkten, die sich eine immer stärkere chinesische Industrie nun anschickt zu erobern; unterstützt durch die schon 2013 von Xi Jinping gegründete Belt and Road Initiative. Dabei geht es längst nicht mehr nur um Züge oder Solarpanels, sondern mehr und mehr um Hightech-Branchen und -Technologien, wie die Diskussion um das Vordringen des chinesischen Telekommunikationsausrüsters Huawei zeigt. Es ist nur noch eine Frage einiger Jahre, bis chinesische Firmen hochkomplexe Großflugzeuge massenhaft bauen und dann auch exportieren werden. Wer daran noch zweifelt, schaue sich die Leistungen der chinesischen Raumfahrtindustrie an.
Mittlerweile hat China Inc. selbst dem stolzen deutschen Maschinenbau den Exportrang abgelaufen. Der tröstet sich zwar damit, dass man bei Industrie 4.0, also digital vernetzter Produktion, die Nase noch vorn habe. Das aber klingt – angesichts der raschen Digitalisierungsfortschritte in China – doch sehr nach dem berühmten Pfeifen im dunklen Wald.
Manche Unternehmen sind ohne asiatischen Kernmarkt nicht existenzfähig
Auf den Paradigmenwechsel im wirtschaftlichen Austausch mit China – Defensive statt Offensive – reagieren die Unternehmen unterschiedlich. Viele, wenn nicht gar die meisten der in China tätigen Firmen haben längst damit begonnen, bereits mittelfristig einen signifikanten Rückgang ihres China- Geschäfts zu planen. Sie legen ihren Schwerpunkt auf Strategien zur Verteidigung ihrer Position gegenüber chinesischen Wettbewerbern in den internationalen Märkten. Pragmatisch werden sie den chinesischen Drachen reiten, solange es geht, aber sie wissen genau, dass der sie früher oder später abwerfen wird. Einige Unternehmen sind allerdings derart abhängig von der „chinesischen Droge“, dass sie ohne ihren asiatischen Kernmarkt schlichtweg nicht mehr existenzfähig sind. Das spiegelt sich dann auch in politischen Äußerungen ihrer Führungsfiguren zu China wider.
Westliche Sanktionsdrohungen oder tatsächliche Sanktionen gegen China wegen der Zwangslager und sonstiger Menschenrechtsverletzungen, wegen Hongkong, Taiwan oder wegen Streitigkeiten mit Australien oder Litauen können den Verlust von Marktzugang oder Marktanteilen in China allenfalls beschleunigen, ursächlich sind sie nicht. Ursächlich sind das von Xi Jinping betriebene „decoupling“ Chinas von westlicher Abhängigkeit und das Streben nach einer weltweit dominanten Position für seine Schlüsselindustrien, nach einer Beherrschung der Exportmärkte. Um es klar zu sagen: Diese Ziele sind an sich nicht verwerflich, schon gar nicht für die größte Volkswirtschaft der Welt. Der Westen, der jahrhundertelang die internationalen Märkte beherrscht hat (und das auch nicht immer nur mit feinen Methoden), möge sich hier an die eigene Nase fassen.
Die chinesische Herausforderung, auf die eine neue deutsche China-Politik im Verbund mit der EU und den USA Antworten finden muss, ist folgender Natur: Zum einen steht zu erwarten, dass sich die chinesische Führung um die vielgepriesene internationale Ordnung, um vom Westen entwickelte Handelsregeln, um die WTO und dergleichen mehr nicht kümmern und ihre Exportkampagnen staatlich stark subventionieren wird. Zum anderen werden die Chinesen ihre Exportmaschinerie, ihre wachsende Industrie- und Technologiemacht eng verquickt mit ihren außenpolitischen und ideologischen Zielen einsetzen. Das ist genau das, was wir heute schon beobachten können – beispielsweise bei der Implementierung der Belt and Road Initiative oder in der Art und Weise, wie China mit Australien und Litauen umspringt.
Pekings Selbstbewusstsein ist massiv gewachsen
Die westliche Banken-Krise 2008/09, die innere Zerrissenheit der USA wie auch der EU, die Afghanistan-Flucht der Amerikaner und ihrer Verbündeten im vergangenen Sommer, all das und vieles mehr hat das Selbstbewusstsein der kommunistischen Führung in Peking über die Jahre anschwellen lassen. Offensichtlich ist man dort zu der Überzeugung gelangt, der Westen und seine Führungsmacht befänden sich in „terminal decline“, einem endgültigen Verfall. China verfolgt längst keine Außenpolitik der Zurückhaltung mehr, sondern eine Politik der Stärke und Einschüchterung und schreckt auch vor militärischen Drohungen nicht zurück. Die chinesische Hochrüstung gegenüber den Nachbarn und der amerikanischen Marinepräsenz im Pazifik verleiht der Situation besondere Brisanz.
Hinzu kommt eine neue Herausforderung, die Deutschland und seine EU-Partner bislang kaum beachten. Es geht um Chinas rasch wachsende und zu den USA mindestens aufschließende Rolle als Digital-, Cyber- und Daten-Macht. Im kritischen Bereich der Künstlichen Intelligenz sehen manche China bereits vor den USA. Die meisten Experten erwarten, dass China, durch keinerlei demokratischen Datenschutz gebremst, zumindest in den nächsten fünf bis zehn Jahren hier die USA hinter sich lassen wird – von Europa ganz zu schweigen. Washington ist jedenfalls nach dem Report der National Security Commission on Artificial Intelligence vom Frühjahr 2021 hochgradig alarmiert.
China entfaltet im Herzen Europas demokratiezersetzende Wirkung
Hier geht es nicht um Exportrivalitäten, sondern um neue, weitreichende Einflussmöglichkeiten Pekings in den offenen westlichen Gesellschaften. Dabei entfaltet China schon heute im Herzen Europas, auch in Deutschland, demokratiezersetzende Wirkung, indem es unverhohlen die Meinungsfreiheit einzuschränken sucht. So wurde zum Beispiel vergangenes Jahr Deutschlands größtes China-Forschungsinstitut MERICS mit Sanktionen belegt, ebenso wie eine Reihe chinakritischer EU-Politiker. Außerdem wird mit Investitionen oder Krediten in EU-Ländern Wohlverhalten erkauft beziehungsweise erzwungen.
Aber das ist erst der Anfang dessen, was einer Datensupermacht China künftig an mehr oder weniger subtilen Möglichkeiten zur politischen Einflussnahme wie auch zur Bedrohung kritischer westlicher Infrastruktur zur Verfügung stehen wird. Wir müssen auch die Möglichkeit ins Auge fassen, dass China trotz oder wegen seines totalitären kommunistischen Systems in den nächsten beiden Jahrzehnten wirtschaftlich, technologisch und militärisch an den USA vorbeizieht und sich wieder (!) und auf lange Zeit als dominante Weltmacht etabliert.
Es ist also in der Tat hohe Zeit, dass Deutschland und Europa die Realitäten zur Kenntnis nehmen und insbesondere Berlin nicht länger eine Beschwichtigungs- oder Verharmlosungspolitik auf einem deutschen Sonderweg verfolgt. Vonnöten ist eine gemeinsame, konsistente und mit den USA, dem Vereinigten Königreich, Japan und Australien eng abgestimmte China-Politik der Europäischen Union. Sie muss unter anderem bei Investitionen strikte Reziprozität verfolgen, darf keine Abhängigkeit von chinesischen Firmen und Technologie bei kritischer Infrastruktur zulassen, muss die europäische Cyber-Defense-Fähigkeiten gegenüber China und anderen totalitären Regimes signifikant verstärken, Menschenrechtsverletzungen deutlich ansprechen und mit Sanktionen belegen. Last not least darf sie auch das Thema einer militärischen Aufrüstung in EU-Europa nicht tabuisieren, um die USA zugunsten ihrer asiatischen Aufgaben zu entlasten. Der letzte Punkt richtet sich vor allem an Deutschland, das seine Streitkräfte in den vergangenen beiden Dekaden stark vernachlässigt hat.
Es geht natürlich nicht darum, nicht mehr mit China zu kooperieren. Das Reich der Mitte wird auf absehbare Zeit zugleich systemischer Rivale, Wettbewerber und – hoffentlich – auch Partner sein. So bedarf beispielsweise der Klimaschutz, der ja nur bei weltweiter Zusammenarbeit erfolgreich sein kann, der engen Kooperation mit China. Die drei Dimensionen von Partnerschaft, Wettbewerb und Rivalität müssen in einer neuen realistischen China-Politik immer zusammen gedacht und geplant werden: Partner und Widerpart, nicht Vasall Chinas!
Die Bundesregierung sollte ihren G7-Vorsitz in diesem Jahr dazu nutzen, die deutsche und europäische China-Politik mit verbündeten Nationen abzustimmen und zu verzahnen. Sie sollte sich dabei nicht von den Vertretern und Lobbyisten der überholten nationalmerkantilistischen Linie beirren lassen, die nicht einmal mehr von der Wirtschaft verfochten wird. Allein enge Abstimmung und koordiniertes Handeln derjenigen Länder, die unser Menschenbild und unsere demokratischen Werte teilen, werden es uns erlauben, einem zur führenden Supermacht aufsteigenden China Grenzen aufzuzeigen und eine glaubwürdige Gegenmacht aufzubauen. Das wäre eine wertebasierte Realpolitik, die diesen Namen wirklich verdient.
Dr. Thomas Enders ist Präsident der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP).
Internationale Politik, Online exclusive, Januar 2022