Internationale Presse

25. Juni 2021

In der Warteschleife

Den Menschen in Südafrika wird viel Geduld abverlangt: Sie warten darauf, gegen Covid-19 geimpft zu werden. Und darauf, dass die Korruptionsbekämpfung endlich Fahrt aufnimmt. Der Druck auf die Regierungspartei ANC wächst – sogar über eine Spaltung der Partei wird spekuliert.

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„Das Warten“, so hat Südafrikas bekanntester Karikaturist Zapiro seine Zeichnung für den Daily Maverick betitelt: Im oberen Teil stehen ältere Südafrikaner geduldig in der Warteschlange für die Covid-19-Impfung, im unteren jagt die Generalstaatsanwaltschaft, bewaffnet mit einer Spritze, ein andersartiges „Virus“: Es trägt die Gesichtszüge des ehemaligen Präsidenten Jacob Zuma und flüchtet auf der „Zwei-Dekaden-Straße“.



Denn seit nunmehr zwei Jahrzenten wehrt sich Zuma gegen das Korruptionsverfahren im Zusammenhang mit dem sogenannten Arms Deal, einem milliardenschweren Rüstungsgeschäft mit dem französischen Konzern Thales. Seine Strategie: Der Staatsanwaltschaft oder dem Vorsitzenden Richter Parteilichkeit vorwerfen und sich als Opfer einer Verschwörung darstellen. Eine ähnliche Verzögerungstaktik, mit allen ihm zur Verfügung stehenden legalen Mitteln, wendet Zuma auch mit Blick auf die State Capture Commission an, die versucht, das während seiner Amtszeit entstandene Korruptionsgeflecht aufzuklären. Die Tatsache, dass von einem „gekaperten Staat“ die Rede ist, verdeutlicht, wie tief dieser Korruptionssumpf ist.



Zehn Gebote der Korruption

Noch tiefer graben die beiden Journalisten Nick Dall und Matthew Blackman in ihrem bissigen Kommentar für den Daily Maverick, einer unabhängigen Zeitung, die unter anderem für ihre investigativen Recherchen bekannt ist. Unter der Überschrift „Plünderung biblischer Ausmaße – die zehn Gebote der Korruption“ haben sie die „Skelette aus 350 Jahren Korruption in Südafrika exhumiert“ und dabei bemerkt, dass sich die Strategien der Mächtigen kaum verändert haben: von Willem Adriaan van der Stel, Gouverneur der Kap-Kolonie im frühen 18. Jahrhundert, bis zu Jacob Zuma. Mit „nahezu evangelikaler Inbrunst“ hätten sich politische Führer seitdem „an zehn betrügerische Gebote“ gehalten. Etwa: „Du sollst in jedem öffentlichen Auftrag die Chance für Bestechung sehen“, oder: „Ehre Deine Freunde, aber nur solange sie Dir nicht in die Quere kommen“. Korruption sei „Teil der nationalen DNA“, heißt es weiter, ein anderer Teil sei jedoch glücklicherweise auch das Whistleblowing.



Die sogenannte „State Capture“ hätte noch länger gedauert, wenn Whistleblower und Medien nicht dabei geholfen hätten, Beweise für die jahrelange Korruption innerhalb der Regierung zutage zu fördern, zitiert die Tabloid-Tageszeitung Sowetan den südafrikanischen Präsidenten Cyril Ramaphosa nach seiner zweitägigen Anhörung vor der State Capture Commission. Er würdigte den Mut dieser Frauen und Männer, die „enormem Druck“ und Anfeindungen sowohl im privaten als auch im beruflichen Bereich ausgesetzt gewesen seien.



Ramaphosa bekannte sich dazu, die Korruption zu bekämpfen, seine Aussagen vor der Kommission blieben jedoch hinter den Erwartungen zurück. Er habe sich bewegt wie eine „Katze auf dem heißen Blechdach“, kommentiert die renommierte Journalistin Ferial Haffajee im Daily Maverick. Sie charakterisiert Präsident Ramaphosa als parteitreu und konfrontationsscheu. Er habe zwar ein paar Zugeständnisse gemacht und sei auch ein Reformer, aber nur solange die politische Vormachtstellung des ANC nicht berührt werde. Echte Veränderungen müssten daher „aus der Zivilgesellschaft“ kommen.



Der ANC ist durch verbitterte Flügelkämpfe gelähmt, politische Beobachter wie William Gumede sagen bereits eine Spaltung der ehemaligen Befreiungsbewegung voraus. Diese sei „unausweichlich“, schreibt er in einer Kolumne für die größte südafrikanische Sonntagszeitung Sunday Times. Die Konsequenz wäre entweder der „komplette Untergang der derzeit noch allmächtigen Regierungspartei“, die seit der demokratischen Wende des Landes 1994 mit absoluter Mehrheit regiert – oder zumindest ein so deutlicher Rückgang der Wählerstimmen, dass der ANC auf einen Koalitionspartner angewiesen wäre.



Die Justiz soll entscheiden

Es sei jedoch zu simpel, diesen innerparteilichen Flügelkampf auf die beiden derzeitigen Protagonisten zu reduzieren, Cyril Ramaphosa auf der einen und den mittlerweile suspendierten ANC-Generalsekretär Ace Magashule auf der anderen Seite, kommentiert der Politikwissenschaftler Sipho Seepe für den Tageszeitungsverband Independent Online.



Gegen Magashule sind schwere Korruptionsvorwürfe anhängig. Laut einer neuen Regel des ANC im Kampf gegen Vetternwirtschaft in den eigenen Reihen bedeutet das, dass er von seinem Amt zurücktreten muss. Doch Magashule wendet eine ähnliche Strategie an wie sein Verbündeter Jacob Zuma und geht zum Gegenangriff über: Zur allseitigen Überraschung veröffentlichte er einen Brief, mit dem er Präsident Ramaphosa suspendieren wollte. Der wiederum fordert eine öffentliche Entschuldigung. Doch die bleibt aus, stattdessen zieht Magashule vor Gericht. Wieder einmal soll die überlastete Justiz entscheiden.



Es gehe um nicht weniger als einen „Kampf um den Charakter und die Seele des ANC“, so Seepe in seinem Kommentar. Im Mittelpunkt stehe die Frage, ob die ANC-Führung den „Mut und die Integrität“ hat, die eigenen Beschlüsse auch „gewissenhaft und vollständig umzusetzen“. Genau dabei habe die derzeitige Parteiführung versagt. Statt die Partei wieder zu vereinen und eine Erneuerung anzustreben, sei das ANC-Exekutivkomitee selbst in diesen verlustreichen Flügelkampf verstrickt.



Die Regel, dass jeder, gegen den Korruptionsvorwürfe bestehen, wenigstens bis zu deren Klärung von seinen Ämtern zurücktreten solle, würde lediglich selektiv angewendet, um den rivalisierenden Flügel „loszuwerden“, kritisiert Seepe. Er sieht darin nicht mehr als „Nebenschauplätze, die das Versagen der derzeitigen ANC-Führung“ bei der Bekämpfung der gravierenden sozioökonomischen Probleme im Land „vertuschen“ sollen.



Aufgedeckt: The Eskom Files

Viele dieser Probleme hängen mit der ausufernden Korruption der vergangenen Jahre zusammen, öffentliche Kassen und Staatskonzerne wie der Stromversorger Eskom wurden regelrecht geplündert. Die Investigativjournalisten Kyle Cowan, Sipho Masondo und Azarrah Karim decken dieses „kriminelle Netzwerk, das für Südafrikas Stromkrise verantwortlich ist“, derzeit in ihrer Serie „The Eskom Files“ für die Nachrichtenplattform News24 detailliert auf.



Es geht um Vetternwirtschaft bei öffentlichen Aufträgen, um dubiose „Spenden“ und Selbstbereicherung in großem Stil. Die Konsequenzen bekommen Unternehmen sowie Bürgerinnen und Bürger regelmäßig zu spüren: Stromausfälle sind seit Jahren an der Tagesordnung, sie lähmen die ohnehin schwächelnde Wirtschaft und wirken sich nun auch auf das langsam anlaufende Covid-19-Impfprogramm aus.



Das sogenannte Loadshedding, geplante Stromausfälle, die einen nationalen Blackout verhindern sollen, habe dazu geführt, dass einige Impfzentren ihre Arbeit nicht planmäßig aufnehmen konnten, räumte selbst Südafrikas Gesundheitsminister Zweli Mkhize ein. Die traditionsreiche Wochenzeitung Mail & Guardian zitiert den südafrikanischen Verband medizinischer Fachkräfte (SAMA) mit den Worten, es sei „inakzeptabel, dass nicht jede Gesundheitseinrichtung einen Backup-Generator“ zur Verfügung habe. Schließlich müssen die Impfstoffe teils stark gekühlt werden.



Trotz aller Hürden ist mittlerweile der Großteil des medizinischen Fachpersonals geimpft worden, die zweite Phase des Impfprogramms für die Über-60-Jährigen hat begonnen. Wie überall auf der Welt werden Fotos von Prominenten, wie dem ehemaligen Erzbischof Desmond Tutu, bei der Impfung veröffentlicht. So sollen Skeptiker überzeugt werden. Doch selbst wer impfwillig ist, muss sich auf eine lange Wartezeit einstellen, denn Impfstoffe treffen in Südafrika nur nach und nach ein – längst nicht in den Mengen, in denen sie zu Beginn einer dritten Infektionswelle gebraucht werden.



Skandale in der Pandemie

Südafrika habe die Verbreitung des Virus mit einem frühzeitigen Lockdown zwar recht gut eingedämmt, schreibt der südafrikanische Menschenrechtler Kumi Naidoo in einem Meinungsartikel für Independent Online. Beim Impfprogramm mache sein Land dagegen keine gute Figur. „Der ANC ist durch seine internen Machtkämpfe abgelenkt“, kritisiert er. Das Ausmaß der Korruption sei schon in normalen Zeiten vollkommen inakzeptabel, während der Pandemie jedoch noch „millionenfach schmerzhafter“.



Damit spielt er auf die Korruptionsskandale während des Lockdowns an, von Masken-Affären bis zu veruntreuten Lebensmittelpaketen. Es sei „unglaublich traurig“, dass Ressourcen, die für die Unterstützung jener gedacht waren, die sie am nötigsten bräuchten, „von opportunistischen, politisch vernetzten Personen gestohlen“ worden seien, die sogar inmitten einer Pandemie nur auf den persönlichen Vorteil aus seien.



Naidoo spricht damit vielen Südafrikanern aus der Seele. Der Schock über die Korruptionsskandale während der Pandemie sitzt tief, die ohnehin tiefe sozioökonomische Krise hat sich verschärft, Armut und Arbeitslosigkeit haben weiter zugenommen und das Vertrauen in die Regierung Ramaphosas, in die viele zunächst große Hoffnungen gesetzt hatten, bröckelt immer mehr.



„Wir müssen uns gegen die gefährlichste aller Krankheiten wappnen: die hoch ansteckende Affluenza“, schreibt Naidoo. Affluenza ist ein Wortspiel aus den englischen Begriffen für Reichtum und Grippe. Eine „Krankheit“, die glauben macht, dass „ein würdevolles Leben mit einer immer weiteren Anhäufung von Geld einhergeht“. Von diesem Leid seien viele, wenn nicht sogar die meisten betroffen, die politische Ämter bekleideten.



Globale Impf-Apartheid

Korruption, schlechtes Management und mangelnde Transparenz hätten auch dazu geführt, dass viele Menschen erst 2023 mit einer Impfung rechnen könnten, so der Menschenrechtler Naidoo. Die Gründe dafür, dass das Impfprogramm in Südafrika nur langsam in die Gänge kommt, sind jedoch nicht ausschließlich hausgemacht, darüber sind sich Vertreter der Zivilgesellschaft und Regierung einig.



Von einer globalen Impf-Apartheid ist die Rede. Regierung und Aktivisten kritisieren den Impf-Nationalismus westlicher Industriestaaten, die sich teils so viele Impfdosen gesichert haben, dass sie ihre Bevölkerungen gleich mehrmals impfen könnten, und zwar auf Kosten ärmerer Länder im globalen Süden. Vor diesem Hintergrund ist auch der gemeinsame Antrag Südafrikas und Indiens vor der Welthandelsorganisation zu verstehen, in dem sie eine temporäre Aussetzung des Patentschutzes fordern. Die Vereinigten Staaten haben Zustimmung signalisiert, Länder wie Deutschland lehnen dies jedoch ab.



Von dieser Entscheidung „hängen Leben ab“, schreibt die Menschenrechtsanwältin Fatima Hassan in einem Gastkommentar für den Daily Maverick. Die Argumente der Gegner eines solchen TRIPS Waiver erinnern sie an ihren Kampf um bezahlbare HIV/Aids-Medikamente vor zwei Jahrzehnten: Die Herstellung sei zu kompliziert, vor allem für Länder im globalen Süden, es mangele an Rohmaterialien und überhaupt seien die Patente nicht die eigentliche Hürde, weil es kaum oder keine Produktionskapazitäten gäbe.



Dies seien weitgehend Mythen, so Fatima Hassan, die die Herausforderungen, vor denen Südafrika und andere Länder des globalen Südens stehen, jedoch nicht beschönigt. Die Aussetzung der Patente würde selbstverständlich nicht alle Probleme mit einem Schlag lösen. Trotzdem sei sie dringend notwendig.



In einem weiteren Artikel für das auf Gesundheitsthemen spezialisierte Bhekikisa Centre for Health Journalism beschäftigt sich Fatima Hassan mit den Lehren für eine Entwicklung eines HIV-Impfstoffs, auf die Südafrika seit vielen Jahren hofft.



Aus Covid-19-Fehlern lernen

Die Art, wie die Welt auf die Corona-Pandemie reagiert habe, zeige, was bei der Entwicklung von Impfstoffen möglich sei. Etwa durch eine gute finanzielle Ausstattung und Kooperation. „Aber leider bleibt der Zugang zu den wissenschaftlichen Erkenntnissen im Besitz einer Handvoll Pharmaunternehmen und Forschungsinstitutionen wohlhabender Länder“, so Hassan. Die Hälfte der globalen Covid-19-Impfstoffvorräte befände sich in wohlhabenden Ländern, in denen 14 Prozent der Weltbevölkerung lebten.



„Diese bestürzende Ungleichheit spricht für sich selbst und verringert sowohl den Glauben an Impfungen als auch an das Bekenntnis der Welt für Gerechtigkeit.“ Die HIV-Impfforschung mache derzeit immense Fortschritte und es sei wichtig, aus Erfolgen und Fehlern der Covid-19-Impfstoffentwicklung zu lernen. Nur dann könne eine „neue globale Ära“ der Gesundheitsgerechtigkeit beginnen, so Fatima Hassan. Noch ist das Zukunftsmusik. Südafrika wartet also weiter.



Leonie March lebt seit 2009 in Südafrika und berichtet als freie Korrespondentin über das südliche Afrika, u. a. auch für das Online-Magazin Afrika-Reporter. 2018 erschien ihr Buch „Mandelas Traum“. 

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 4, Juli/August 2021, S. 116-119

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