Der Wald, die Bäume und wir
Wider die Angst vor Komplexität
An einem schönen Morgen, das Wetter ist gut, die Laune auch, schwimmen zwei junge Fische munter durchs Meer. Da taucht ein alter Fisch auf, grüßt höflich und fragt: „Na Jungs, wie ist das Wasser heute?“ Die beiden jungen Fische gucken verdutzt und schwimmen weiter. Endlich sagt einer zum anderen: „Was, zum Teufel, ist Wasser?“
Dieses wunderbare Gleichnis hat uns der amerikanische Autor David Foster Wallace hinterlassen. Sein „This is Water“ ist ein zeitlos kluger Appell an das Heute. Es zeigt uns, was zu tun ist: sich Gedanken machen, worin wir uns befinden, die Welt konstruktiv hinterfragen und schlauer werden statt, wie so viele, verzagter. Es geht darum, dass wir uns in einer offenen Welt, einer globalen Gemeinschaft, aber eben auch im Zeitalter der Netzwerke und der Wissensarbeit aufgeklärt und verständig zeigen. Dazu gehört erstmal zu wissen, was Wasser ist – also was uns umgibt.
Das klingt einfach, macht aber genau die Arbeit, die sich viele ersparen wollen und lieber behaupten, es sei eben alles kompliziert und man könne dem nur mit radikalen Schnitten beikommen. Das ist eine grundfalsche Haltung. Globalisierung und Wissensarbeit bauen, genauso wie Netzwerke und Vielfaltskultur, Diversität und offene Gesellschaft, auf einer unverzichtbaren Grundlage auf: Dem Zulassen, nein, sogar dem Fordern nach mehr Komplexität, aber nicht eine, die wir als Last – als Kompliziertes und Schicksalhaftes – empfinden, sondern als Ressource, die es zu nutzen gilt. Alle versuchen, Komplexität immer nur zu reduzieren, es gilt aber heute, sie zu erschließen.
Im 21. Jahrhundert, in der Wissensgesellschaft, muss man dafür aber erst einmal die Angst vor Komplexität ablegen. Der große Peter Drucker hat die Anforderungen in seinem Essay „Die postkapitalistische Gesellschaft“ vor vielen Jahren klar formuliert: „Um Wissen produktiv zu machen, müssen wir lernen, sowohl den Wald als auch den einzelnen Baum zu sehen. Wir müssen lernen, Zusammenhänge herzustellen.“
Komplexität wurde bisher nur unterschiedlich reduziert. Es geht aber darum, sie zu erschließen. Das ist mehr als nicht in der Informationsflut zu ertrinken. Zu wissen, dass Zusammenhänge nicht in Einheit, sondern in Unterschieden, Wahlmöglichkeiten bestehen, ist Schwimmunterricht fürs 21. Jahrhundert. Dazu muss man den Universalismus des Abendlandes überwinden, der uns 3000 Jahre lang geprägt hat. Der Westen kennt Entweder-Oder. Ja oder Nein. Unterschiede aber sind da, um verstanden und ausgehalten zu werden. Wo Vielfalt wächst, müssen wir sie nicht nur respektieren, sondern auch nach ihren Prinzipien denken und leben.
Zusammenhänge sind eben nicht jener Zusammenhang, eine Normalität, sondern eine Auswahl, die wir ständig neu treffen. Dazu muss man auch lernen, mit seinem Wissen produktiv umzugehen. Das ist eigentlich keine Hexerei.
Wir wissen längst, was wir wissen sollten: „Wissen existiert dort, wo etwas erklärt und verstanden werden kann“, hat der österreichische Philosoph Konrad Paul Liessmann geschrieben. Wissen ist, was man versteht – und verständlich macht. Wissen ohne Können ist aber eine halbe Sache, und die Frage ist: Sind wir in der Lage, die Erkenntnis auch umzusetzen? Was müssen wir tun – und lassen –, um die Welt wieder zu verstehen? Wie werden wir „kontextkompetent“?
„Kontextkompetenz“ bedeutet, Wissen alltagstauglich zu machen, also verstehbar. Erst so wird es produktiv. Kontextkompetenz, die Fähigkeit, Zusammenhänge herzustellen, ist in der Wissens- und Netzwerkökonomie eine Grundlage allen Handelns und Verstehens. Wir haben das schon. Open Source ist aus der Welt der Netzwerke nicht wegzudenken. Wissen wird über den ganzen Globus geteilt, ohne an Wert zu verlieren, im Gegenteil. Gilbert Probsts kluge Einsicht, dass „Wissen die einzige Ressource ist, die sich durch Gebrauch vermehrt“, bewahrheitet sich Tag für Tag.
Wir sind längst in der Wissensgesellschaft angekommen, jener Netzwerkökonomie, die oft zitiert und selten verstanden wird. Timothy Berners-Lee schuf mit seinem World Wide Web eine Technologie, mit der man Wissen verstehen und erklären konnte, in der es um verbindende Inhalte ging, die vorher in akademischen Bunkern blickdicht gelagert wurden. Doch statt dieses Geschenk in unserer Alltagskultur ankommen zu lassen, bauen wir an Nischen: Spezialisten, nein, Fachidioten bestimmen den Ton. Es fehlt vielfach an Grundlagenwissen zu Ökonomie, Technik und Organisation. Überall sind sie, diese schicksalshaften Blackboxes wie die Digitalisierung, die unser Leben bestimmen, die wir aber nicht durchdringen.
Ursprünglich nutzte man den Begriff im Militär, wo man Sprengfallen an Kommunikationseinrichtungen anbrachte, falls die mal dem Feind in die Hände fallen. So verhalten sich Spezialisten, die ihr Herrschaftswissen verteidigen. Sie behaupten Relevanz, aber sie können sie nicht darstellen, sie wähnen sich als Wissensarbeiter und sind doch nur die Bewohner geschlossener Anstalten, ein Silo neben dem anderen, jeder unzugänglich für den Nachbarn. Was tun? Radikal mit der Tradition brechen, die Messe auf Latein zu lesen. Verständlichkeit, Anschlussfähigkeit, die Fähigkeit, erkennen und erklären zu können, was man weiß, ist elementar für Wohlstand und demokratisches Wohlergehen.
Kontext is King. Das wirkt keine Wunder, aber es macht vieles nachvollziehbarer. Denn wo nichts verstanden wird, nichts erklärt, bleibt alles einander fremd. Das Versprechen der Aufklärung, von der Entmündigung zur Selbstbestimmung fortzuschreiten, bleibt auf der Strecke. Je mehr Entfremdete da draußen herumlaufen, die die Welt nicht mehr verstehen, desto geringer die Chance auf eine anti-identitäre Wende, auf eine Erneuerung der Demokratie. Dann gewinnen die Bösen und Rachsüchtigen, die Neidischen und Dummen, die jungen Fische, die nicht grüßen, aber auch nichts wissen wollen.
Der große Sozialwissenschaftler Marshall McLuhan, ebenfalls ein Vordenker der neuen Wissensgesellschaft, ahnte das, als er im Jahr 1977 auf die Frage eines Reporters, ob das „Global Village“, das durch die neuen Kommunikationsformen geboren wurde, dem besseren Verständnis der Menschen dienen würde, antwortete: „Dafür gibt es keinen Beweis, eher für das Gegenteil.“ Der Tribalismus, das einfältige, in engen, identitären Kollektiven beheimatete „Wir“ der Stammesgesellschaft, bedroht Demokratie und Freiheit. Es ist ironisch, dass ausgerechnet die neuen digitalen Medien zu Vervielfältigungsmaschinen dieser engen Weltsicht wurden. Aber auch kein Wunder: Wir nutzen eine Technologie, die einen bewussten, lernenden und vorsichtigen Umgang mit Vielfalt und Komplexität verlangt – und haben doch nur intellektuelles Werkzeug für Vereinheitlichung an Bord.
Das Verstehen neuer Zusammenhänge, ihr ständiges Entwickeln, ist eine schwere Übung, aber unerlässlich, und sie bedeutet auch die Renaissance einer genialen Perspektive, die Toleranz, Barrierefreiheit und die Vernunft voraussetzt und all das auch immer wieder verlangt, aber auch „herstellt“. Die Kunst, den Wald und die Bäume zu sehen, Zusammenhänge herzustellen, Wissen produktiv zu machen – das ist das, was wir Humanismus nennen. Stefan Zweig hat über den größten Humanisten Europas, Erasmus von Rotterdam, gesagt, dass dessen „Lebenssinn die harmonische Zusammenfassung der Gegensätze im Geiste der Humanität“ war, also die Überwindung der Polarisierung und Rechthaberei, die die Politik und Gesellschaft heute wieder spaltet. Verstehe, erkläre, hör zu, lerne. Und verzeih. Und dann wieder von vorn. Das ist Wissensgesellschaft. Diese Zusammenhänge sollten uns nicht fremd sein, denn sie sind der Lauf der Welt.
Wolf Lotter ist Autor von „Zusammenhänge. Wie wir lernen, die Welt wieder zu verstehen“, erschienen im Herbst 2020 bei der Edition Körber.
Internationale Politik 1, Januar-Februar 2021, S. 102-103
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