Unterschiede: Rohstoff der Transformation. „Normalität“ ist Fetisch und Resignation
Ein Kommentar.
Karl Kraus hat geschrieben, wir mögen uns hüten, aus Schaden dumm zu bleiben. Das ist in Zeiten von Corona ein wichtiger Satz. Denn wir sind drauf und dran, aus dem Schaden, den die Pandemie seit Anfang 2020 auf der ganzen Welt angerichtet hat, nichts zu lernen. Wir sind dabei, unsere Zukunft zu verspielen. Dumm bleiben heißt in Zeiten wie diesen, sich eine Normalität zurückzuwünschen, die es auch nicht gab, als das Virus seine globale Reise antrat. Vor zwei Jahren war die alte westliche Welt schon lange nicht mehr in Ordnung. Der Industrialismus hat vieles vereinheitlicht, nivelliert.
Wo die Globalisierung mehr Chancen und Zugänge brachte, indem sie Techniken und Methoden zu mehr Teilhabe und wirtschaftlichem Erfolg verbreitete, hatte ihr einfältiger Bruder, der Globalismus, die Städte und Dörfer dieser Welt einander immer ähnlicher gemacht. Was an Eigenheiten des Geschmacks, der Kultur vorhanden war, wurde zu einem Amalgam. Damit aber löste sich auch die Unterscheidbarkeit zwischen den Menschen auf. Sie rückten zusammen und wurden dabei unkenntlicher und sich fremder.
Der kanadische Medien- und Kulturforscher Marshall McLuhan, dessen Modell des „globalen Dorfes“ das Verständnis der digitalen Mediengesellschaft prägte, war kurz vor seinem Tod zu Gast in einer Fernsehsendung. Darin wurde er gefragt, ob er denn nicht glaube, dass durch das Zusammenrücken der Menschheit im digitalen Zeitalter (das sich damals, Ende der 70er Jahre, klar abzeichnete) nicht auch die Menschen durch die neue Nähe mehr Verständnis füreinander aufbringen würden. Seine Antwort war für viele erschreckend negativ. Die neue Nähe, das globale Dorf, das sei letztlich die Realität der alten Stammesgesellschaft, und in der habe „Mord und Totschlag“ als normal gegolten, so McLuhan.
Das nahmen viele nicht ernst, doch die folgenden Jahrzehnte zeigten, dass die Analyse McLuhans geradezu gespenstisch zutraf. Je näher sich die Leute im globalen Dorf kamen, nicht nur, aber eben auch sichtbar in den sozialen Netzwerken, desto mehr gingen sie sich wegen Kleinigkeiten an die Gurgel. Das Identitäre, auch das Identitätspolitische, mittlerweile halbwegs als Ursache des Problems erkannt, ist aber nur – gleich ob in globalen religiösen, ideologischen und kulturellen Konflikten oder bei den Wortgefechten auf Twitter & Co – ein Symptom, das eine tiefere Ursache hat.
In der alten Welt, der Kain-und-Abel-Welt sozusagen, unterschied man zwischen Freund und Feind. Abweichungen, Devianzen, das waren Bedrohungen. Wer beispielsweise aktuelle Diskussionen in Politik und Gesellschaft betrachtet, der merkt, wie stark wieder die Rolle der Zustimmung zu einer bestimmten Haltung geworden ist. Abweichung gilt nicht nur als andere Meinung, sondern wird als geradezu existenzielle Bedrohung der eigenen Position im identitären, polarisierenden Diskurs immer stärker bekämpft.
„Normalität“ ist wichtig, im Büro, und Normalität meint immer Vereinheitlichung, Anpassung, Berechenbarkeit. In einer komplexen Welt, in der die Transformationen in Politik, Umwelt, Gesellschaft, Wirtschaft und Wohlstand so unübersehbar wirken wie heute, sind Angst und Unsicherheit ständige Begleiter des modernen Menschen geworden. Die Normalität ist ein Fetisch geworden, der die materielle und geistige Bestandssicherung im Westen bewahren soll.
Damit gibt man die Teilnahme an der Gestaltung der Transformation auf. Normalität ist Resignation, Arbeitsverweigerung vor der Bewältigung der großen Herausforderungen unserer Zeit, die sich in kleinen Schritten ausdrücken. Wo arbeiten wir, wie verändern sich Organisationen, welche materiellen Grundsicherheiten brauchen wir für das 21. Jahrhundert? Wie teilen wir Wissen in Netzwerken so, dass es möglichst kenntlich und nützlich ist für andere? Und wie nutzen wir Unterschiede, Differenz, also Diversity im Wortsinn, nicht nur in der allzu simplen Auflösung Mann-Frau-Divers, sondern tatsächlich so, dass sie wirksam ist und gerecht: an der Person, dem Individuum, also an den jeweiligen Bedingungen. Das ist komplex, aber darunter ist Gerechtigkeit nicht zu haben.
Gerechtigkeit ist, wo Vielfalt wirkt
Wir kommen aus der Welt der Vereinheitlichung. Wir befinden uns aber in einer Welt, in der alle gesehen werden wollen. Die Menschen fangen an, ihre Unterschiede, ihre Kenntlichmachung, ihre Unterscheidbarkeit einzufordern. Damit sind wir, völlig ungewohnt, einem Prozess ausgesetzt, der bisher undenkbar war. Gerechtigkeit, das war Gleichheit. Aber das ist nicht so. Gerechtigkeit ist, wo Vielfalt, möglichst persönlich, wirkt, in der wir eben auch so leben, dass Gleiches gleich, Ungleiches ungleich behandelt wird. Das ist, wenn dieses Wort überhaupt eine Berechtigung hat, die Normalität, die Vielfalt der Unterschiede menschlicher Lösungen, Lebensentwürfe, Entscheidungen und der dazugehörigen kulturellen und sozialen Temperaturen.
Allzu lang hat man versucht, durch Nivellieren und das Aufheben von Grenzen der Diskriminierung, Ausgrenzung und Herabwürdigung, dem Rassismus und der Ungerechtigkeit Paroli zu bieten. Bei allem guten Willen hat man übersehen, dass diese schlechten Unterschiede nicht den Unterschied als solchen überflüssig machen. Es geht darum, Unterscheidbarkeit, Kenntlichkeit, Originalität, Kultur, Heimat, Eigenheit, Wurzeln, Identitäten neu und eben ohne negativen Beigeschmack zu leben. Das wird nur gelingen, wenn wir uns ernsthaft die Frage stellen, ob die verführerische Idee, alle gleich zu machen, überhaupt erstrebenswert ist. Das ist die Erblast einer falsch verstandenen Menschenliebe, bei der die Gleichmacherei, das Nivellieren immer siegen wird – und der Grund dafür, warum so viele Sozialrevolutionäre und Menschenverbesserer so schnell in der alten Stammesgesellschaft landen.
Transformation gelingt, wenn wir nicht aus-, sondern einschließen. Das heißt nicht gleichmachen. Das heißt: So offen und weit wie es geht, dabei so kenntlich und erkennbar wie möglich. Das ist die große, schwere Übung der Vielfalt, der wahren Multikulturalität, die ja nicht darin enden kann, dass am Ende die alten Irrtümer „einer Welt“ und „einer Gemeinschaft“ wiederholt werden. Selbstbestimmung heißt immer: Andere sein lassen wie sie sind, mit einem klaren, aber minimalen Set an Regeln, die uns davor bewahren, übereinander herzufallen. Es geht um die Wiederbelebung eines Begriffs aus dem Kalten Krieg, der „friedlichen Koexistenz“, in der miteinander im Wettbewerb stehende Systeme sich dazu entscheiden, einander nicht umzubringen.
Es geht um die Erhaltung von freien Märkten gegen politische Allmachtsfantasien, die Unterschiede ausradieren wollen. Unterschiede, das sind eben auch andere Lösungen, Ideen, Innovationen, all das Gute, Neue, Überraschende, das in Menschen steckt. Die andere Antwort, die Alternative zu Trott und Ideenlosigkeit. Die Fähigkeit zu diesem Unterschied wird die Wissensgesellschaft ausmachen, oder sie verhindern. Wer zurück will zur alten Normalität, der will zurück zur Polarisierung. Das ist vielleicht nicht aufzuhalten. Aber diese Normalität ist unmenschlich. Setzen wir dem lieber ein Lob des Unterschieds entgegen, ein neues Selbstbewusstsein, ohne Angst vor Differenz, der Persönlichkeit und der Abweichung. Und das immer im Bewusstsein, dass uns der Unterschied zu uns selber macht, aber nicht über andere erhebt, ganz so, wie es Margaret Mead formulierte: „Always remember that you are absolutely unique. Just like everyone else.“ Das zu wissen, würde Schaden von uns abwenden, und das, ohne Zweifel, wäre klug.
Wolf Lotter ist Autor und war als Gründungsmitglied von brand eins mehr als zwei Jahrzehnte dessen Leitessayist. Im Frühjahr erscheint bei der Edition Körber der dritte Band seiner Wissensgesellschaft-Trilogie: „Unterschiede. Wie Vielfalt für mehr Gerechtigkeit sorgt“.
Internationale Politik 2, März/April 2022, S. 112-113
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