Der stille Zuhörer
Der entmachtete Präsident Nigers, Mohamed Bazoum, war ein treuer Partner des Westens im Anti-Terror-Kampf. Mit General Abdourahamane Tiani hat ihn ein Mann gestürzt, dessen Geschichte einige Lehren für die westliche Außenpolitik bereithält.
Furchteinflößend wirkt Abdourahamane Tiani eigentlich nicht, als er sich zum ersten Mal in einer Fernsehansprache an das Volk Nigers und an die Welt wendet. Tiani hat ein rundes, fleischiges Gesicht, trägt eine rahmenlose Lesebrille. Er hat ein Muttermal auf der linken Wange. Wären da nicht das braune Barrett auf dem Kopf, die Uniform in Tarnfarben, er würde wie ein gemütlicher älterer Herr aussehen. Und doch: Der Anblick dieses Mannes lässt Außen- und Verteidigungspolitiker in Europa und den USA erschaudern.
Tiani ist der Mann, der in jenen Tagen Ende Juli den Putsch in Niger angeführt hat, einem geopolitischen Schlüsselstaat in Westafrika. Als der nigrische Staatssender ORNT die ersten Bilder von ihm verbreitet, lösen sie Angst vor einem endgültigen Scheitern des Westens in der Sahelzone aus, dem wichtigsten Schlachtfeld im Kampf gegen den Terror und einem bedeutsamen Scharnier, wenn es um die Kontrolle von Migration geht.
Doch wer ist der Mann, der vor dem Coup den meisten völlig unbekannt war? Und was verrät sein Versuch, die Kontrolle im Niger zu übernehmen, über die Lage im Sahel und in der Welt?
Eigennutz und Heimatliebe
Abdourahamane Tiani wurde 1964 in einem Dorf am Rande Filingués geboren. Die 100 000-Einwohner-Stadt im Südwesten des Niger liegt in der Region Tillabéri, einem besonderen Ort mit Blick auf die Terrorgefahr im Sahel.
Bewaffnete Gruppen mit Verbindungen zu Al-Kaida und später dem Islamischen Staat hatten 2012 eine Erhebung der Tuareg-Rebellen im Norden Malis für einen Aufstand genutzt. Trotz einer französischen Anti-Terror-Operation und einem UN-Einsatz mit mehr als 10 000 Blauhelmsoldaten waren sie letztlich erfolgreich. Die Vereinten Nationen hatten ihre Kräfte mit einem viel zu schwachen Mandat ausgestattet und waren nicht bereit, das zu ändern. Und so terrorisierten die bewaffneten Gruppen bald nicht nur die Bevölkerung im Norden Malis, sondern auch im Zentrum des Landes. Von dort schwappte die Gewalt ins benachbarte Burkina Faso und letztlich nach Niger.
Nach dem Ende des IS-Kalifats im Nahen Osten ist die Sahelzone das Hauptaktionsfeld des dschihadistischen Terrorismus geworden. Im vergangenen Jahr töteten bewaffnete Gruppen hier laut einer Studie des Africa Center for Strategic Studies fast 10 000 Zivilisten. Hinzu kommen organisierte Kriminalität und ethnische Konflikte. Die Lage wird immer schlimmer, insbesondere im Dreiländereck von Mali, Burkina Faso und Niger.
Teile der Region Tillabéri, aus der Tiani stammt, gehören zu diesem Dreiländereck. Und so ist der Putschist vielleicht ein Paradebeispiel dafür, wie groß die Frustration über die sich immer weiter zuspitzende Sicherheitslage im Sahel ist – trotz der Hilfe aus Europa und den USA.
Tiani gilt als ein Mann, der seiner Heimatregion tief verbunden ist. Er hat dort in Immobilien investiert und besitzt eine große Viehherde. Seit 2020 allerdings herrscht in der Region um Filingué Ausnahmezustand; auch Behördenvertreter wurden ermordet. Einem Bericht von Le Monde zufolge stehlen Mitglieder der bewaffneten Gruppen immer wieder Tiere aus Tianis Herde.
In seiner ersten Fernsehansprache nennt Tiani dann auch als erstes die Sicherheitskrise im Sahel als Anlass für seinen Putsch. „Der einzige Grund für diesen Schritt ist es, unser geliebtes Heimatland zu verteidigen“, sagt er. Tiani fordert einen neuen Ansatz in der Sicherheitspolitik. Dabei spricht er zwar von den Versuchen der „geschätzten“ Partner im Ausland zu helfen. Doch einen Atemzug später fügt er hinzu: „Nein, das Ergebnis wird den Erwartungen der Nigrer nicht gerecht.“ Ist das schon die Abkehr von Europa und den USA? Hätte sich der Westen viel früher entscheiden müssen, den Staaten im Sahel zu helfen – und zwar ganz oder gar nicht?
Womöglich ist diese scheiternde Kooperation nicht der einzige Grund für Tianis Coup. Menschen, die ihn kennen, sagen ihm auch eigennützige Motive nach. Auch in dieser Hinsicht könnte Tianis Versuch, die Macht zu ergreifen, ein Lehrstück für westliche Außenpolitik sein.
Tiani ging in Filingué zur Schule, lernte Französisch, Englisch, Haussa und Djerma, machte Abitur. 1985 trat er in die Armee ein, er kletterte die Karriereleiter empor. Tiani wurde im Senegal, in Frankreich, Marokko und Mali ausgebildet. In Fort McNair in Washington D.C. schulten ihn US-Militärs im Anti-Terror-Kampf. Im Jahr 2000 nahm er laut seines offiziellen Lebenslaufs auch an einer Fortbildung der Konrad-Adenauer-Stiftung teil, das Thema: „Armee und Demokratie“.
Bestens ausgebildet und hochdekoriert, führte Tiani bald Bataillone; 2011 wurde er zur Nummer eins der Präsidentengarde. Der damalige Präsident Mahamadou Issoufou vertraute ihm. In der Nähe Issoufous lernte Tiani, der als sehr religiös gilt, viel über Politik und Macht. Eingeweihte sagten dem Magazin Jeune Afrique, dass er dem Präsidenten viel zugehört und dabei selbst wenig gesagt habe. Er habe Informationen gesammelt, ohne seine eigene Meinung preiszugeben; er sei „berechnend“ gewesen.
Issoufou war trotzdem überzeugt von Tiani, er sorgte dafür, dass dieser seinen Posten als Chef der Präsidentengarde auch dann noch behielt, als Issoufou selbst seine Macht abgeben musste. 2021 gelang in Niger der erste demokratische Regierungswechsel in der Geschichte des Landes. Fortan war Tiani auch für den Schutz des neuen Präsidenten Mohamed Bazoum verantwortlich. Tiani wendete mindestens zwei Putschversuche gegen Bazoum ab, doch belohnt wurde er dafür offenbar nicht. Bazoum machte sich daran, den Sicherheitsapparat umzubauen. Er plante angeblich, Tiani abzusetzen.
War es am Ende einer der Gründe für Tianis Aufstand, dass er um seine Privilegien im Sicherheitsapparat bangte? In diesem Fall wäre Tianis Geschichte nicht nur ein Beispiel für den Frust über das Scheitern der westlichen Kooperation mit den Sahelstaaten, sondern auch ein Lehrstück für ein außen- und verteidigungspolitisches Dilemma: Einerseits besteht in Washington und Brüssel das Interesse, die Armeen in Afrika so zu fördern, dass sie selbst für Sicherheit und Ordnung sorgen können. Andererseits wächst so das Risiko, dass das erstarkende Militär seine Macht missbraucht. Es ist ein Dilemma, das sich kaum auflösen lässt. Und im Sahel besonders schwer wiegt.
Afrikas Putsch-Gürtel
Erschaudern ließ Tiani Außen- und Verteidigungspolitiker in Europa und den USA auch, weil er in den ersten Wochen nach dem Putsch einem bekannten Muster folgte. In den vergangenen Jahren hatte es eine ganze Serie von Staatsstreichen in der Region gegeben, die von Soldaten angeführt wurden. Es entstand ein Gürtel aus Militär-Regimen, der den Kontinent von der Atlantikküste über Westafrika hinaus bis ans Rote Meer umspannt. In Mali hatten sich die Militärs nach ihrem Putsch russische Militärberater und Wagner-Söldner ins Land geholt. Auch Burkina Faso hatte seine Beziehungen zu Moskau verstärkt. Präsident Bazoum hatte die Stimmen unterdrückt, die ähnliche Schritte in Niger forderten.
In den Tagen nach dem Coup waren es vor allem antifranzösische Kräfte, die sich bei Protesten lautstark hinter Tiani stellten – und dabei teils auch russische Flaggen schwenkten. Tiani folgte ihren Rufen: Erst, indem er die französischen Sender RFI und France 24 verbieten ließ; wenig später kündigte sein Regime eine Reihe von Militärkooperationen mit Frankreich auf. Wie viel Überzeugung dahinter steckte, ist unklar.
Die Westafrikanische Wirtschaftsgemeinschaft (ECOWAS), unterstützt von den USA und Europa, drohte mit allen Mitteln, auch militärischen, und forderte die Rückkehr zur verfassungsmäßigen Ordnung. Doch Tiani, der stille Zuhörer, hat in einem Jahrzehnt als Chefgardist der nigrischen Präsidenten offenbar genug über Politik und Macht gelernt, um zu verstehen, wie man geopolitisch rivalisierende Lager gegeneinander ausspielt. Er warnte das Volk vor einer Bedrohung aus dem Ausland. Maikoul Zodi, ein prominenter Bürgerrechtler in Niger, sagte: „Eine militärische Intervention schürt nur den Nationalismus und Patriotismus, das eigene Land gegen einen Angriff zu verteidigen.“
Wenig später schlugen sich die Junten in Mali und Burkina Faso auf die Seite der Putschisten. Sie verkündeten, dass eine Intervention auch einer „Kriegserklärung“ gegen ihre Länder gleichkomme. Tiani entsandte prompt einen Unterhändler nach Mali, wo es angeblich auch schon Gespräche mit einem Vertreter der Wagner-Gruppe gegeben haben soll. Die Söldner, so berichtete die Nachrichtenagentur AP, sollten Tiani vor einer Intervention der ECOWAS schützen.
Und so zeigt die Geschichte des Generals, der wie ein gemütlicher älterer Herr aussieht, auch noch, wie verheißungsvoll die Sicherheitsversprechen des Kremls in einer Region sind, in der es kaum noch stabile Regierungen gibt, in der der nächste Umsturz immer ganz nah erscheint.
Internationale Politik 5, September/Oktober 2023, S. 9-11
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