Der Ring, der nie gelungen
Christian Thielemann dirigierte Tankred Dorsts Bayreuther „Ring“-Inszenierung zu Tode
„Ich weiß auch, dass es sinnlos ist, bei der Bank im DGB zu sein. Ich bin hier der einzige ..., und der Personalchef sagte zu mir: ‚Nun müssen Sie die Vergangenheit endlich überwinden!‘ – Aber tue einer was gegen sein Gefühl! Wenn ich Liebknecht lese, höre ich immer Muzes Flöte dazu.“ – Robert Wolfgang Schnells Erzählung „Muzes Flöte“ ist nur zwei Seiten lang. Es ist die Geschichte eines resignierten Angestellten, der über die ersten drei Seiten von Hölderlins „Hyperion“ nie hinausgekommen ist, als Kind nicht, weil er zu „eindrucksempfänglich“ war, und jetzt, weil er an seinen Freund Muze Piepersberg denkt, der den „Hyperion“ vertonen wollte, aber nur bis zur Flötenstimme kam, weil er an einem Darmschuss vor Stalingrad verreckte. Und in Karl Liebknechts Reden, seinem anderen Lieblingsbuch, kann er nur heimlich lesen, wenn die Frau in der Kirche ist. Es gibt keine knappere Elegie über die Ewigkeit der Kunst – und das normale Elend des kleinen Lebens.
Robert Wolfgang Schnell (1916–1986), dessen Geburts- und Sterbejubiläum von den Feuilletons kürzlich nur knapp, wenn überhaupt, notiert wurde, war ein Gesamtkunstwerk: Musiker, Maler, Hilfsarbeiter, Schauspieler, Deserteur, Regisseur, Romancier, Fernsehpfarrer, Galerist – und überzeugter Trinker. In seinen Erzählungen wimmelt es von solchen Typen: „Ich habe (schon als Kind) vier oder fünf Symphonien geschrieben. Auch ein ‚Te Deum‘ für Doppelchor und vier Orchester. Alles voller Terzen und Trompeten. Das schob ich vor mir her wie eine Schubkarre, und nie hatte ich einen Zweifel über den Weg. Zweifel hatten die anderen.“ – so beginnt seine Erzählung „Sind die Bären glücklicher geworden?“, und sie endet, einen Weltkrieg und einen langen Abstieg später: „Abends gehe ich zu meinen Chören und lasse alte Männer den Wald und die Sterne besingen, ehe sie zu Bier und Schnaps übergehen. Jetzt muss ich schnell den Fingersatz über eine Sonatine von Clementi machen. Um drei Uhr kommt Ute, ein begabtes Mädchen von acht Jahren.“ Schnell bekannte sich in fröhlich-melancholischem Trotz zur „Sünde der Sentimentalität“, bestand gegen alle schlimmere Einsicht darauf, dass die Kunst die Unordnung der Gegenwart mit der „Einsicht des Herzens“ korrigieren könne: „Überwältigende Schönheit hat eine ideologische Konsequenz in sich, ... eine Geschichtsvorstellung, deren oberstes Prinzip der Frieden ist, der nur auf einer gerechten Güterverteilung“ beruht. Viele seiner Erzählungen sind kleinbürgerliche, sansculottische Varianten der Thomas Mannschen Hoffnung, dass es erst gut um Deutschland stehen werde, „wenn Karl Marx den Friedrich Hölderlin gelesen haben werde“.
Irgendwann in den Fünfzigern saß Schnell mit seinem Freund Günter Bruno Fuchs nach einer Aufführung des Parsifal auf einer Bank im Park vor dem Festspielhaus in Bayreuth. Sie tranken Bier und redeten „von dem, was uns begeisterte, von dem, was uns traurig machte“. Sie versicherten einander, dass sie, wenn schon nicht Ritter, so doch Strauchritter seien, und dann schliefen sie ein, „nicht weit von der Stelle, an der Jean Paul mehrmals im Rausch in den Roten Main fiel und vom Nachtwächter mühsam gerettet wurde“. Ich musste an Schnell denken, als ich jüngst in Bayreuth den „Ring“ sah, den Tankred Dorst inszenierte und Christian Thielemann dirigierte. Es gab da ein paar Bilder, die hätte auch der Regisseur Schnell so inszeniert: ein paar Penner, die zwischen Denkmälern mit abgeschlagenen Köpfen auf einer innerstädtischen Brache herumirren, Migrantenfamilien beim Grenzübertritt, Kinder, die im Rinnstein etwas Glänzendes finden und sich darum balgen. Die Götter der Vergangenheit, sagte Tankred Dorst, wirken nur noch an abgelegenen Orten, am Rande des Großen Geschehens.
Die Idee hätte Schnell gefallen, der wie Böll „wahre Größe nur bei den kleinen Leuten fand“. Aber die Götter, die ihre Konflikte auf Hochgaragendächern regelten, die Walküren, die in aufgelassenen Marmorsteinbrüchen kreischten – sie waren wie aus einem Kasperletheater entsprungen, in Fantasy-Klamotten standen sie an der Rampe, und kein Kontaktfunke sprang über zwischen ihren weltzerstörenden und wendenwollenden Leidenschaften und den verhuschten Gegenwartsmenschen. Sie waren unsichtbar füreinander. Die Vorvergangenheit sprach nicht zur Gegenwart. Und auch die Götterdämmerung – schon von Wagner als Allegorie auf die finale Katastrophe der Industriemoderne gemeint – ließ diese Schattenmenschen nicht, wie Wagners Anweisung lautete, „in höchster Ergriffenheit“ dem Weltenbrand zusehen. Keine Hoffnung auf Neubeginn, als das Erlösungsmotiv aus dem Orchestergraben stieg. Die Statisten der Weltgeschichte verließen kurz ein brennendes Hotel, und als gelöscht war, kamen sie zurück und machten weiter Party. Kein Lernschock, keine Apokalypse, nur eine vorübergehende Erwärmung, ein paar alte Bilder verbrannt – die ewige Wiederkehr der kleinen Katastrophen, aus denen niemals etwas folgt.
Nun wäre ja auch das noch eine Erkenntnis, aber selbst das Nebeneinander war undeutlich und vage. Und das war nicht die Absicht des Regisseurs, sondern, so verriet es nach der Premiere der Dramaturg, die Tat des diktatorischen jungen Dirigenten. „Die Inszenierung stört mich nicht“, habe Thielemann gesagt; und gleichwohl dekretiert, es dürfe „keinesfalls irgendetwas Politisches zu sehen sein. Sondern nur gute Unterhaltung“. So gab es einen Ring, dessen revolutionäre Aspekte verdunstet waren. Der Preis war Langeweile. „Augen zu“ war die Pausenparole der Wagner-Freaks, und dann gings wieder hinein, zum innerlichen Genuss des „deutschen Klanges“, den Thielemann, da war man einig, so filigran und luftig wie noch nie gab.
Tod der Kunst? Ach nein. „Kultur“, so schreibt es Wolf Lepenies, der diesjährige Träger des Friedenspreises, ist in einer gefestigten Demokratie „nicht mehr als ein Ornament“. Sie lebt untot immer weiter, so wie Wagner, dem Thomas Mann im „sich zersetzenden Spätkapitalismus“ eine Mission als „Sozialisten und Kulturutopisten im Sinne einer klassenlosen, vom Luxus und vom Fluche des Goldes befreiten, auf Liebe gegründeten Gesellschaft“ gab, und der hier vom Tiefentherapeuten der gesellschaftlichen Regeneration zum Stimulans gehobener Wellness degradiert wurde. Die Vergangenheiten, die rechten wie die linken, sind überwunden, und die Hoffnung auf die eine politische Wirkung der Kunst hat ihr Verfallsdatum endgültig überschritten. Nur in den Seelen unterkomplexer Irrläufer, die das 19. und 20. Jahrhundert nicht vergessen können, stoßen Hölderlin und Marx, Liebknecht und Wagner noch als Zweikomponenten-Gifte aufeinander. So wie bei Robert Wolfgang Schnells Versicherungsangestellten, der immer, wenn er Liebknecht liest und Muzes Flöte hört, „bei Direktor Breitmann eintreten möchte, den Revolver in der Hand, um die Leitung des Hauses zu übernehmen“. Nicht mehr als eine kleine „Sünde der Sentimentalität“, so wie die Mitgliedschaft im DGB, oder so, wie sie einen in den Pausen eines missglückten „Rings“ im Park auf dem grünen Hügel überkommen kann.
MATHIAS GREFFRATH, geb. 1945, ist Soziologe und Journalist. Er war Chefredakteur der Wochenpost und schreibt für DIE ZEIT, taz, Süddeutsche Zeitung und die ARD. Zu seinen Buchveröffentlichungen zählen „Montaigne heute“ (1999) und „Attac“ (2002).
Internationale Politik 9, September 2006, S. 108-109