Der „Omniprésident“
Sarkozys dynamische Amtsführung macht Frankreichs Presse (fast) sprachlos
Mit ungewöhnlichen Worten verteidigte Frankreichs Finanzministerin Christine Lagarde ihr erstes fiskalisches Reformpaket, das vor allem Besserverdienende bevorteilt, im Juli 2007 vor der Assemblée Nationale: „Frankreich ist ein Land, das denkt. Es gibt kaum eine Ideologie, deren theoretische Grundlage wir nicht gelegt haben. In unseren Bibliotheken haben wir Material, über das wir Jahrhunderte diskutieren könnten. Deshalb möchte ich Ihnen sagen: Genug gedacht, krempeln wir die Ärmel hoch.“ Im Gegensatz zu den Urlaubsgeschichten des französischen Staatspräsidenten aus Wolfeboro (USA) ließ dieser Frontalangriff auf die Denker des Landes die französische Öffentlichkeit fast gänzlich unbewegt.
Die wenigen Reaktionen bestätigen einen Verdacht, der bereits am Ende der zwölfjährigen Ära Chirac aufkam: Frankreichs ehemals starke (links-)intellektuelle Szene, die in der medialen Diskussion traditionsgemäß den Ton angab, ist stillschweigend von der Bühne abgetreten. Bereits im Präsidentschafts- und Parlamentswahlkampf im Frühjahr 2007 fiel ihre Abwesenheit auf.
Das, was von der Szene übrig ist, regte sich nur kurz, als der ehemals Parti-Socialiste-nahe Philosoph André Glucksmann ins Lager des konservativ-liberalen Präsidentschaftskandidaten Nicolas Sarkozy wechselte. Später taten das auch andere als Vordenker der Linken geltende Personen, etwa der ehemalige Kulturminister Jacques Lang oder der Médecins-Sans-Frontières-Gründer Bernard Kouchner, der heute Außenminister ist - schließlich hatte Sarkozy angekündigt, eine parteiübergreifende Regierung zu bilden. Allein das stellt einen Tabubruch in der Geschichte der Fünften Republik dar, wo die ideologischen Trennlinien zwischen rechts und links bislang stets als sakrosankt galten.
Bis in die neunziger Jahre hinein konnte die Linke um die Parti Socialiste herum als zweite große Strömung neben den Gaullisten die politische Diskussion in Frankreich strukturieren. In den Jahrzehnten gaullistischer Präsidentschaften waren Linksintellektuelle Wortführer bei beinahe allen Themen, die das Land beschäftigten. Heute spielen althergebrachte Rechts-Links-Schemata in der Diskussion über Frankreichs Handlungs- und Reformfähigkeit kaum noch eine Rolle. Wenig macht den Bruch mit dem alten System, für den Sarkozy steht, augenfälliger. Die Zeiten, in denen Tiefgründiges tagtäglich die Meinungsseiten der französischen Tagespresse und im Wochentakt die Essay-Tische in den Buchhandlungen füllte, sind momentan vorbei. Dass der Satz von Lagarde, der Nachdenken und Arbeiten quasi als Gegensatzpaare darstellte, in Frankreich auf so wenig Gegenwehr stieß, ist ein Indiz dafür.
Ausländische Kommentatoren sahen ihre Worte hingegen als Provokation an und sorgen sich seither mehr um den intellektuellen Verfall Frankreichs als die Franzosen selbst. Le Monde etwa enthielt sich einer eigenen Kommentierung des Vorfalls, druckte aber die Meinung eines US-Romanistikprofessors: „Lagarde begibt sich in das mentale Gefängnis des binären Denkens, in der die Welt in das Gute und Schlechte aufgeteilt ist. […] Das Schlechte ist dabei in der Welt der Ideen angesiedelt. […] Die Ministerin will die Komplexität, die mit dem Nachdenken einhergeht, verschwinden lassen. Hieraus ergibt sich die Gefahr, dass sich in Frankreich eine der vielen Sünden der Regierung Bush reproduziert: die Verachtung für die intellektuelle Auseinandersetzung.“
Die linksgerichtete Zeitung Libération schwieg nicht nur selbst, sondern veröffentlichte sogar einen bekräftigenden Gastbeitrag von François d’Orcival, wonach die Äußerungen Lagardes den „style Sarkozy“ spiegeln: die Gleichgültigkeit gegenüber bestehenden Weisheiten, die Bereitschaft zum Tabubruch – laut d’Orcival zwei Grundvoraussetzungen dafür, das traditionell konservative Frankreich auf Modernisierungskurs zu bringen.
Ebenso bezeichnend ist es, dass sich die linken Philosophen Bernard-Henry Lévy und Alain Finkielkraut nicht aktiv zu Wort meldeten, sondern erst in Interviews mit der International Herald Tribune ihre Kritik formulierten. Für Lévy entspricht Lagardes Angriff Sarkozys „anti-intellektueller Tendenz“, die seiner Ansicht nach das ansonsten unterstützenswerte Reform- und Öffnungsprogramm seiner Regierung unterminiert und damit inakzeptabel macht. Alain Finkielkraut, Philosoph und Mitglied der Parti Socialiste, bezeichnete die suggerierte Trennung von Denken und Arbeiten als Absurdität, beschränkte sich aber auf die eher im Persönlichen liegende Anmerkung: „Wenn man die Chance hat, sein Leben der Reflektion zu weihen, dann arbeitet man pausenlos, selbst im Schlaf.“ Das war es dann auch schon mit der Reaktion der französischen Intellektuellen. Der Angriff auf die französische Denk- und Debattenkultur veranlasste sie weder zur Selbstreflexion noch zu einer ausführlichen kritischen Auseinandersetzung mit dem „régime Sarkozy“.
Immer mehr Kommentatoren erregen sich jedoch über einzelne Aspekte seiner bisherigen Politik. Einige sehen in dieser eine eklektische Ansammlung von Maßnahmen ohne größere Kohärenz, andere kritisieren die Ausrichtung am „angelsächsischen Modell“ oder klassifizieren die Reformvorhaben mal als Klientelpolitik, mal als unseriös, da unterfinanziert. Nur wenige Kommentatoren nehmen bisher jedoch die politische Gesamtsituation, etwa die schwache parlamentarische Opposition oder die fehlende öffentliche Diskussion über Sarkozys erste Monate im Amt in den Blick. Einer der Gründe für die oberflächliche Debatte ist, dass die französische Presse seit seinem Amtsantritt damit beschäftigt ist, der vom Präsidenten „verursachten“ Aktualität hinterher zu hecheln. Der „Omniprésident“ dominiert in einer noch nicht dagewesenen Weise die Agenda in den Medien – vor und hinter den Kulissen.
Das Schema ist fast immer das gleiche: Der Präsident (und nicht der Premier oder Fachminister) lanciert ein neues Projekt, bringt ein Gesetz auf den Weg, kommuniziert die nächste überraschende Personalentscheidung oder produziert Nachrichten durch seine ausländischen Staatsbesuche. Denn was auch passiert in der Welt – Sarkozy ist meist (un)mittelbar am Ergebnis beteiligt (sei es die Befreiung der bulgarischen Krankenschwestern aus libyschen Gefängnissen, der Verhandlungserfolg der deutschen Ratspräsidentschaft etc.). Die Liste der Kommuniqués des Elysée-Palasts füllt sich so schnell wie unter keinem anderen Präsidenten. Brav und reich bebildert berichtet die Presse. Die Opposition hingegen, wie die Sonntagszeitung Journal du Dimanche konstatiert, hat keine Zeit zu reagieren.
Sarkozy dominiert die Titelseiten nicht nur in der nationalen Presse. In den ersten vier Monaten seit seinem Amtsantritt (Mai bis August 2007) schaffte er es 47 Mal auf die Titelseite der Europa-Ausgabe der Financial Times (von 91 Ausgaben). Allein im Juni waren dies 17 von 24 Ausgaben. Die Zahlen für die französischen Printmedien sind noch weit höher.
Der stramme Rhythmus, mit dem er Themen setzt, verhindert dabei auch in der französischen Presse eine tiefer gehende Diskussion einzelner Vorhaben und Debatten über die Ausrichtung und Umsetzung seiner Politik. Wenn sonst Analysen von Journalisten, Wissenschaftlern, Politikern oder Intellektuellen auch einmal zwei bis drei Tage nach einem Ereignis wie einer Rede erscheinen können, ist im Frankreich unter Sarkozy die Aktualität schon längst weitergerückt, das nächste Projekt lanciert, eine neue Grundsatzrede gehalten. Wer zur Rede von vorgestern noch etwas sagen will, wirkt veraltet. So sei beispielsweise der eigentliche Bruch Sarkozys mit der Außenpolitik Chiracs fast unbemerkt geblieben, meint Le Monde: Sarkozys Annäherung an die USA sei, schreibt Nathalie Nougayrède, als optische Täuschung hinter medial inszenierten Picknicken und Einkaufstouren seiner Frau versteckt worden.
Sarkozys hohe „Schlagzahl“ wurde im Zuge der 100-Tage-Sarkozy-Bilanz, mit der die Presse die Rückkehr aus der politischen Sommerpause begleitete, thematisiert. Etliche Zeitungen kritisierten, dass seine Politik bisher eher durch Kommunikation als durch Substanz besteche. Dominique Reynie sagte in Le Monde voraus, dass es früher oder später eine brutale Konfrontation zwischen dem „Kommunikationsuniversum Sarkozys und der Realität der Menschen“ geben werde. Bereits für das Jahresende sieht das in Paris erscheinende Global Europe Anticipation Bulletin den Zeitpunkt für diesen Aufprall voraus, an dem die öffentliche Unterstützung für Sarkozy kippen könnte.
Wann die Katerstimmung Einzug hält, wird davon abhängen, wie lange der französische Staatspräsident sein virtuoses Spiel der Medienmanipulation noch fortsetzen kann. Sarkozys Einfluss auf Presse und Fernsehen ist ein zweites Phänomen, das bislang in Frankreich selbst vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit findet – im Gegensatz zur ausländischen Presse, die den Medien-Präsidenten genau beobachtet.
Mit Augenzwinkern wurde die Geschichte aufgegriffen, dass die Zeitschrift Paris Match Speckfalten an Sarkozys nacktem Bauch auf einem Urlaubsphoto wegretuschierte. Diese Anekdote ist sicherlich an sich kein Material für eine Staatsaffäre. Doch sie steht sinnbildlich für Sarkozys Einfluss auf seine mediale Darstellung. Zu den wenigen Medien in Frankreich, die sich mit diesem Thema ausführlich auseinandergesetzt haben, zählen die linksgerichtete Tageszeitung Libération, das Wochenmagazin Marianne sowie die wöchentlich erscheinende, recherchestarke Satirezeitung Le Canard Enchainé. Bereits im Wahlkampf beschrieben sie, wie Sarkozys Mannschaften die Redaktionen über die Herausgeber oder durch Anzeigenkunden beeinflussten, wie die Köpfe von Chefredakteuren rollten, wenn Sarkozy sich über Geschichten geärgert hatte, wie Bücher eingestampft wurden, kurz bevor sie die Ladenregale erreichten. „Ich kenne eure Chefs“, betitelte treffend Die Zeit einen beeindruckenden Überblick über Sarkozys Medieninterventionen und seinen Einfluss auf führende Meinungsforschungsinstitute.
Eine wachsende öffentliche Sphäre ist seinem Zugriff jedoch gänzlich entzogen: Die Welt der Online-Zeitschriften, politischen Blogs und Satireseiten. Hier bauen sich – seit dem Wahlkampf 2007 – alternative Debattenforen auf, die immer mehr Zuspruch finden. Privatpersonen, aber auch Journalisten und Politiker, die nicht im Mainstream der Ära Sarkozy schwimmen, suchen sich dort Nischen für den Ausdruck ihrer Kritik. Noch entwickelt sich dieser kritische Diskurs parallel zur – und weitaus stärker als in der – offiziellen Medienwelt. In den nächsten Monaten könnte die zunehmend zynische Stimmung aus dem Cyberspace jedoch in die Welt der Traditionsmedien überschwappen und der kontroversen politisch-intellektuellen Auseinandersetzung in Frankreich wieder mehr Substanz geben.
Dr. DANIELA SCHWARZER, geb. 1973, ist Frankreich- und Europa-Expertin der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin. Derzeit forscht sie als Gastwissenschaftlerin am Institut français des relations internationales (ifri) in Paris.
Internationale Politik 10, Oktober 2007, S. 130 - 134.