Titelthema

27. Juni 2022

Demaskiert in einer neuen Welt

Die EU muss international viel stärker gestalten, nach dem russischen Angriffskrieg mehr denn je. Seine globalen Folgen gefährden auch ihre Existenz.

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Bild: Ursula von der Leyen mit dem ukrainischen Präsidenten Selensky
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Russlands Angriff auf die Ukraine und die globalen Folgen des Konflikts sind ein Moment der Wahrheit für Europa. Nach anfänglich starken europäischen Antworten brechen Spannungen in der Europäischen Union auf, bekannte Schwächen bekommen angesichts des Krieges neues Gewicht. Deutschlands verbindende Kraft droht zu schwinden, ist aber umso wichtiger in einer erschütterten Gemeinschaft. Diese muss nicht nur die Ordnung des eigenen Kontinents an die neue Realität anpassen. Europa muss global stärker gestalten, auch wegen der Folgen des Krieges.

 

In der Sondersitzung des Bundestags am 27. Februar 2022 beschrieb Olaf ­Scholz die Situation nach Kriegsbeginn als „Zeitenwende“. Tatsächlich ist eine Ära zu Ende gegangen. Die europäische Sicherheitsordnung der Zeit nach dem Kalten Krieg bröckelte, bevor Russland am 24. Februar die Ukraine angriff. Russlands Krieg in Georgien 2008 und die Annexion der Krim und der Beginn des Krieges im Donbass 2014 zeigten die Aggressivität Russlands, eines Nachbarn, den deutsche und europäische Politiker über Jahrzehnte als Partner sehen wollten. Alle Illusionen sind vorbei: Moskau greift die territoriale Souveränität europäischer Nachbarn an und verletzt das Völkerrecht. Morde, Vergewaltigungen, die Zerstörung ganzer Städte und die Deportation hunderttausender Ukrainer nach Russland sind die menschenverachtende Realität dieses Krieges, nur zwei Flugstunden von Berlin entfernt. Unzählige Kriegsverbrechen werden geahndet, die Indizien für einen gezielten Völkermord verhärten sich.

Die Aussicht auf ein Ende des Krieges ist gering: Politisch bleibt zwar das Ziel ein Waffenstillstand, der Verhandlungen erlaubt, die „Frieden“ bringen sollen. Doch wahrscheinlicher als ein russischer Truppenabzug scheint ein eingefrorener Konflikt mit jahrelanger russischer Besetzung von Teilen der Ukraine.

Dramatisch ist, dass die Alternative zum Krieg für die Ukraine eben nicht Frieden ist, deshalb verteidigt sie ihre Souveränität mit ungeahnter Kraft. Gelingt ihr kein Sieg im Sinne einer erfolgreichen Abwehr des russischen Angriffs, wird Russland in besetzten Gebieten die ukrainische Identität und Kultur auslöschen. Die brutalen Morde an Zivilisten in Butscha, der Transport tausender Kinder zur Umerziehung nach Russland und die Verbannung ukrainischer Literatur geben einen schockierenden Vorgeschmack auf das, was in weiteren Landesteilen folgen mag. Zudem besteht die Gefahr, dass Putin versucht, Russlands Gebiet auf andere frühere Sowjetrepubliken auszudehnen, auf das bereits kontrollierte Belarus etwa, oder auch auf Teile der Republik Moldau. Auch EU-Mitglieder wie die baltischen Staaten fühlen sich extrem bedroht. Einem aggressiven Russland militärische Macht und Abschreckung entgegensetzen zu müssen: Das ist die neue Realität auf unserem Kontinent, mit weitgehenden Konsequenzen und Kosten.

Die Folgen des Krieges gehen weit über die östliche Nachbarschaft der EU hinaus. Der neoimperiale Krieg im Herzen Europas ist eine Ausprägung des sich global verschärfenden Systemkonflikts. Die Reaktionen der Weltgemeinschaft reflektieren die Trennlinie zwischen liberalen Demokratien und autoritären Regimen. Geopolitisch ist aus europäischer Sicht das größte Risiko, dass sich Russland und China weiter annähern – Anfang Februar legten Xi Jinping und Wladimir Putin in Peking eine gemeinsame autoritäre Weltsicht dar, die mit der westlich-liberalen Weltordnung nicht vereinbar ist. Der Beginn der russischen Invasion während einer Sitzung des UN-Sicherheitsrats zur Ukraine verfestigt den Eindruck, dass Putin sich die Aushöhlung globaler Regeln zum Ziel gesetzt hat, und demonstriert die bekannte Machtlosigkeit des UN-Sicherheitsrats, wenn eines der ständigen Mitglieder im Krieg steht.

Die Untergrabung der UN ist umso schlimmer, als die Spannungen zwischen Europa und dem globalen Süden zunehmen, wo die Verknappung von Getreide und anderen Nahrungsmitteln zur humanitären Tragödie wird. Dort wird der Angriffskrieg auf eine souveräne Demokratie als Auseinandersetzung zweier reicher westlicher Staaten gesehen, die Hungersnöte verursacht. Russische Propaganda verbreitet immer aggressiver, dass nicht Moskaus Blockade ukrainischer Schwarzmeerhäfen, sondern westliche Sanktionen schuld seien an den Engpässen: Wolodymyr Selensky und seine westlichen Unterstützer stellten die Selbstverteidigung der Ukraine über Menschenleben im globalen Süden. Putin lenkt damit nicht nur von seiner Rolle des Aggressors ab. Wie auch Peking versucht Moskau die Kriegssituation dafür auszuschlachten, seine Macht in anderen Weltregionen auszubauen.

Verschärft wird die Situation durch einen sprungartigen Anstieg der Rohstoffpreise, der Russland kurzfristig nutzt und der nicht nur die europäische, sondern auch die Weltwirtschaft in eine Krise stürzt. China zieht nicht mehr als wachstumsstabilisierender Faktor andere Wirtschaftsräume mit. Sein vor Beginn der Covid-Krise als „normal“ angesehenes Wachstum von um die 7 Prozent könnte sich halbieren. Grund dafür ist neben den Folgen des Krieges Pekings schlechter Umgang mit der Covid-Krise, die Überalterung einer schrumpfenden Gesellschaft und die Immobilienblase einschließlich der mit ihr einhergehenden hohen Verschuldung.

Derweil geht die Entflechtung der globalen Wirtschafts- und Finanzbeziehungen entlang der Trennlinie zwischen politischem Westen und der autoritären Welt Schritt für Schritt voran. Russland wird durch Sanktionen isoliert und politische Risiken in Bezug auf China werden neu bewertet: Unternehmen werden vorsichtiger darin, große Wetten auf autoritäre Staaten abzuschließen, in einigen Segmenten regionalisieren sich bereits Wertschöpfungsketten.

Peking selbst könnte eine beschleunigte Abkopplung von der OECD-Wirtschaft und dem globalen Finanzsystem anstreben. Dass dies sein Wachstum weiter belastet, könnte die chinesische Führung als vertretbaren Preis dafür sehen, strategische Interessen unabhängiger verfolgen zu können. Die Härte der Sanktionen gegen Russland lassen Peking wirtschaftliche Abhängigkeit im Zuge seiner langfristigen globalen Machtstrategie neu bewerten.

Diese neue Welt ähnelt der der vergangenen 30 Jahre kaum mehr. Nur wenige der beschriebenen Entwicklungen werden sich wieder umkehren. In dieser unschönen neuen Welt sucht Europa nach ­Orientierung. Die Offenheit der Weltwirtschaft, auf der das europäische und insbesondere das deutsche Wachstumsmodell beruhen, steht infrage. Der Krieg beschleunigt globale Machtverschiebungen, Europa trägt neben den direkten Konsequenzen gemeinsam mit den USA auch eine wachsende globale Verantwortung. Globale Ungleichheiten und Spannungen nehmen zu, während der Druck, gemeinsame Lösungen für existenzielle Gefahren wie den Klimawandel zu entwickeln, so groß ist wie nie. Europa reagiert darauf – und wie fast immer im Falle europäischer Krisen kann man darüber zwei Geschichten erzählen. Die positive ist, dass die EU trotz aller Widrigkeiten gestärkt aus ihr hervorgeht; die negative, dass die Gemeinschaft noch tiefere Risse hat als vor ihrem Ausbruch.



Europas gemischte Zwischenbilanz

Genauso sieht die Lage im Frühsommer 2022 aus: Seit Anfang des Jahres hat die EU so schnell wie nie umfangreiche Sanktionspakete bewilligt, sechs an der Zahl bis Anfang Juni 2022. Der Ausstieg aus fossilen Brennstoffen, die Russland in die EU exportiert, geht Schritt für Schritt voran, Europa macht sich energieunabhängiger und isoliert gemeinsam mit gleichgesinnten Partnern weltweit durch Sanktionen Russlands Volkswirtschaft, seinen Finanzmarkt und Teile der politischen Elite. Für die Ukraine haben die EU und ihre Mitgliedstaaten humanitäre, finanzielle und vor allem militärische Hilfe in Höhe von 25 Milliarden Euro mobilisiert.

Fast fünf Millionen ukrainische Flüchtlinge wurden in der EU aufgenommen, die Solidarität mit den Geflüchteten und den vor Ort Kämpfenden ist hoch. Die Dänen haben ihren Opt-Out aus der EU-Sicherheitspolitik ad acta gelegt, mitten im Krieg hat Emmanuel Macron seine Wiederwahl deutlicher als erwartet gegen die rechtsradikale Herausforderin und Putin-Freundin Marine Le Pen gewonnen, und in Slowenien wurde ein russlandnaher Populist abgelöst. In Italien werden Pläne für eine Europäische Föderation diskutiert, Großbritannien engagiert sich für eine engere Sicherheitszusammenarbeit mit der EU. Europa scheint zusammenzustehen, und die Partnerschaft mit den USA ist so eng wie lange nicht mehr.

Und doch sorgt der Krieg im Inneren der Union für Divergenzen. Je länger er dauert und je teurer er wird, desto mehr werden sie sich vertiefen. Ungarns Haltung zum Ölembargo hat einen ersten Eindruck gegeben. Bis zuletzt drohte eine gemeinsame Antwort Europas am ungarischen Veto zu scheitern, trotz großzügiger Ausnahmen für Budapest. Selten zeigten Politiker wie der deutsche Wirtschafts- und Klimaminister Robert Habeck oder der Vizepräsident der Europäischen Kommission Frans Timmermans zu Recht ihren Frust über einen EU-Mitgliedstaat so deutlich. Der Zusammenhalt in der Visegrád-Gruppe ist an Viktor Orbáns Haltung zum Krieg und zur angemessenen Reaktion zerbrochen; die Ausdehnung des in Covid-Zeiten verhängten Ausnahmezustands hat Ungarn weiter vom Rest der Europäischen Union isoliert.

Während sich die EU-Staaten in der Verurteilung des verbrecherischen Krieges weitgehend einig sind, wachsen zwischen einer Reihe kleiner nördlicher und östlicher Mitgliedstaaten und den großen EU-Gründungsmitgliedern Spannungen über die Frage, wie schnell und umfassend die Ukraine militärisch unterstützt werden soll, oder inwiefern mit Putin weiter gesprochen werden soll. Deutschlands Haltung wird als zögerlich wahrgenommen. Obwohl der Bundeskanzler am 27. Februar eine Kehrtwende der Russland-Politik eingeleitet hat, wird misstrauisch gefragt, ob Berlin mit Moskau über Kiews Kopf hinweg verhandelt.

Russlands Angriff auf die Ukraine und die Drohung, dass auch NATO-­Territorium angegriffen werden könnte, bieten das wohl stärkste Argument, die Verteidigungsfähigkeit der Europäer zu stärken. Es ist Zeit, die Zusammenarbeit in der Verteidigungspolitik, PESCO, voranzubringen, die in Reaktion auf Donald Trumps antitransatlantische Präsidentschaft auf den Weg gebracht wurde.

Doch ist die EU-Zusammenarbeit auf der Prioritätenliste nach unten gerutscht – zumindest aus mittel- und osteuropäischer Sicht. Die USA sind in ihrer Rolle als Sicherheitsgarant präsenter als Jahre zuvor. Durch Waffenlieferungen an die Ukraine und die dafür notwendige Kooperation der Alliierten haben die USA und auch Großbritannien Bedeutung als europäische Sicherheitsgaranten zurück­erlangt. Das transatlantische Verhältnis ist bereits vor Beginn des Krieges so eng geworden wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Das Teilen von Geheimdienstinformationen und das enorme diplomatische Engagement der USA förderten auch in Deutschland einen realistischeren Blick auf die von Russland ausgehende Gefahr und die Bereitschaft zu schnellen und umfassenden Reaktionen. Wie Joe Biden dies bei der Münchner Sicherheitskonferenz am 19. Februar 2021 ankündigte: „Die USA sind zurück.“

Obwohl aus Washingtoner Sicht China die eigentliche strategische Herausforderung ist, haben die USA bis Ende Mai seit Ausbruch des Krieges 43 Milliarden Dollar in die Ukraine gesteckt. Für die USA steht neben dem Erhalt der ukrainischen Souveränität auch die strategische Schwächung Russlands im Vordergrund, als Teil einer Politik, die die liberale Weltordnung und Demokratien stärken will.

Die innenpolitische Situation kann die äußere Handlungsfähigkeit der US-Regierung jedoch schwächen, sollten die Republikaner im November die Mehrheit in beiden Häusern des Kongresses gewinnen. Nach jüngsten Erfahrungen zu urteilen, dürften dann wirtschaftspolitische Maßnahmen ins Stocken geraten; falls der Kongress Gesetze zur Bedienung der Schulden blockiert, leidet die Kreditwürdigkeit der US-Regierung in einem ohnehin sehr schwierigen Wirtschaftsumfeld. Ab 2025 könnte Europa dann noch deutlicher auf sich alleine gestellt sein, sollte Biden etwa durch Donald Trump oder einen ähnlich gesinnten Politiker abgelöst werden.



EU-Erweiterung auf dem Prüfstand

Es ist also höchste Zeit für Europa, mehr internationale Verantwortung zu übernehmen – in seiner Nachbarschaft muss dies ohnehin geschehen. Russlands Krieg stellt bereits jetzt die Erweiterungspolitik der Gemeinschaft auf die Probe. Sein Einmarsch in die Ukraine und die mangelnden Fortschritte im Beitrittsprozess für die Balkanländer seit 2013 sind ein geopolitisches Risiko. Einige der Kandidaten warten seit fast 20 Jahren auf ihre Aufnahme in die EU.

Bereits vor zwei Jahren hat die Europäische Kommission den Beitrittsprozess überarbeitet, um ihn glaubwürdiger, berechenbarer und dynamischer zu machen. Blockiert ist er trotzdem: Albanien und Nordmazedonien haben von der Kommission anerkannte Fortschritte gemacht – und doch haben die Vetos einzelner EU-Mitgliedstaaten die Aufnahme der Beitrittsverhandlungen verhindert. Im gleichen Zeitraum sind Montenegro und Serbien trotz ihrer uneinheitlichen Reformbilanz in den Verhandlungen weitergekommen. Die Glaubwürdigkeit und Mobilisierungskraft der Beitrittskriterien haben gelitten, die politische Unterstützung für die notwendigen Reformen ist gesunken.

Der Einmarsch Russlands in die Ukraine hat direkte Auswirkungen auf den Westlichen Balkan, mit erheblichem russischem Einfluss in der Region, auf politischer Ebene durch die Instrumentalisierung der Energieabhängigkeit und gesellschaftlich aufgrund von Desinformation in den sozialen Medien. In den vergangenen Jahren hat der Kreml bereits die ungelösten Konflikte in der Region zu seinem eigenen strategischen Vorteil genutzt. Die EU muss diesem Einfluss entgegenwirken, um Destabilisierung und das Erstarken antieuropäischer Kräfte in einer Region zu verhindern, die geografisch ­bereits von EU-Ländern umgeben ist.

Um die Glaubwürdigkeit der Bedingungen und des Prozesses wiederherzustellen, könnte die Einstimmigkeit im Rat zur Verhandlungseröffnung abgeschafft werden. Jetzt, da die Ukraine, Moldau und Georgien auf Einladung von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ihre Anträge auf Mitgliedschaft gestellt haben, darf die EU keineswegs von der Konditionalität und den Reformerwartungen an Beitrittskandidaten abweichen. Gleichzeitig sollte sie Politiken auf die Kandidaten und Nachbarn ausdehnen, die diesen im Umgang mit großen Sicherheitsproblemen und anderen Auswirkungen des Krieges helfen. Dazu gehören etwa eine Öffnung der EU-Energiepolitik, Maßnahmen zur Cyberbekämpfung oder auch eine tiefere Integration in den Binnenmarkt. Nach Ende der Kampfhandlungen müssen der Wiederaufbau der Ukraine, die demokratische Konsolidierung des traumatisierten Landes und die Bekämpfung der Korrup­tion ins Zentrum rücken.

Die oberste Aufgabe der Bundesregierung ist es, nachdem die Zeitenwende als analytisches Konzept ausbuchstabiert ist, nun alle Herausforderungen anzugehen – auch die globalen. Es muss neben der Neuausrichtung der Russland-Politik weitere politische Konsequenzen geben.



Das deutsche Zögern

Das ist aus zweierlei Gründen nicht einfach. Deutschlands anfängliches Zögern bei Waffenlieferungen und Ankündigungen sowie seine Zurückhaltung gegenüber Öl- und Gasboykotten und bezüglich eines EU-Beitritts der Ukraine haben Vertrauen gekostet. Das schwächt seine Mobilisierungskraft, zumal Frankreich ähnliches erlebt. Grund dafür ist unter anderem Macrons „strategischer Dialog“, den er ab 2019 mit Putin gesucht hat, ohne dies vorher mit den osteuropäischen Staaten abzustimmen.

Die sehr unterschiedlichen Wahrnehmungen der Bedrohung durch Russland und die mangelnde Aufmerksamkeit, die die beiden größten Staaten den Sicherheitssorgen der Osteuropäer und Balten geschenkt haben, wirken sich nun aus. Will Berlin die Europäische Union in dieser Situation weiter stärken, muss es zunächst daran arbeiten, dass die Vertrauensbasis in der EU solider wird. Das dient auch der Vorbereitung auf ein vielleicht schon bald weniger verlässliches trans­atlantisches Verhältnis.

Zweitens muss Deutschland, muss Europa sein Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell viel tiefgehender umgestalten, als derzeit politisch vermittelt wird. Noch im Jahr 2018 betitelte der Economist eine Sonderausgabe mit „Cool Germany“. Er präsentierte einen Staat, der gesellschaftlich liberaler, außenpolitisch selbstbewusster und wirtschaftlich das mit Abstand erfolgreichste Land Europas ist – dessen Erfolg allerdings auch auf Energielieferungen aus Russland beruhte, die rund 20 Prozent billiger waren als die an osteuropäische Nachbarn.

Nicht nur die Verflechtungen mit Russland, auch die mit China müssen reduziert werden, um Risiken zu minimieren – und um außenpolitisch souverän handeln zu können, mit weitreichenden Folgen für das Wirtschaftsmodell. Das gilt für die gesamte Europäische Union, will sie im Systemkonflikt zusammenstehen, ihre Interessen und Wertvorstellungen verteidigen und außenpolitischen Spielraum gewinnen.

Parallel dazu muss Europa viel stärker international mitgestalten. Das globale System steht unter enormem Druck. Das Wirtschaftssystem wurde nach der Finanzkrise 2008 nicht repariert. Es ist nicht gelungen, die Welt vollständig zu impfen und die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie zu bewältigen. Dass eine mutige und gerechte Antwort auf die Klimakrise aussteht, ist ein existenzielles Risiko. Und: Europa und die USA scheitern derzeit daran, die globalen Folgen des russischen Angriffskriegs abzufedern. In mehr als 100 Ländern ist die Versorgung mit Lebensmitteln, Brennstoffen und Finanzen in Gefahr. Humanitäre Katastrophen drohen, und ideologische Gegenspieler des politischen Westens werden die Situa­tion nutzen, um ihren Einfluss auszubauen und die internationale Ordnung weiter zu schwächen.

Die Europäische Union und Deutschland als Führungsmacht haben nun eine dreifache Aufgabe. Die EU ist zu konsolidieren und intern so zu differenzieren, dass sie stärker handlungsfähig und für Kandidatenstaaten aufnahmefähig wird. Sie muss zum stärkeren Akteur und weniger abhängig von den USA in ihrer Nachbarschaft werden und schließlich viel mehr Aufmerksamkeit auf globale Fragen legen, dafür muss sie neue Partnerschaften aufbauen. Bietet Europa keine Lösungen an, stärkt dies diejenigen, die behaupten, der Multilateralismus sei am Ende. Genau ihn aber braucht Deutschland, braucht Europa, schon wegen der Folgen des Krieges unbedingt.

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 4, Juli/August 2022, S. 18-24

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Prof. Dr. Daniela Schwarzer ist Executive Director Europe and Eurasia bei den Open Society Foundations.

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