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01. Febr. 2005

Der neue Bin Laden?

Zarqawi bekennt sich zu Al-Qaida, besteht aber auf seiner Unabhängigkeit

In welchem Verhältnis steht der aus Jordanien stammende Abu Musab az-Zarqawi zu Osama Bin Laden? Diese Frage muss differenziert beantwortet werden, denn es gibt Gemeinsamkeiten wie Unterschiede zwischen beiden. Die medienwirksamen Bekenntnisse beider Seiten zueinander sind wohl eher taktischer Natur und sollen finanzielle sowie personelle Ressourcen mobilisieren. Insgesamt ist es aber wenig wahrscheinlich, dass Zarqawi seine Unabhängigkeit aufgeben wird.

Mitte Oktober 2004 erschien in islamistischen Webforen eine Erklärung des jordanischen Terroristen Abu Musab az-Zarqawi und seiner Organisation „Jamaat at-Tawhid wa-l-Jihad“ (Gemeinschaft des Einheitsbekenntnisses und des Heiligen Krieges), in der er Osama Bin Laden Gefolgschaft schwor. Seitdem bezeichnet sich seine Gruppe als „Qaidat al-Jihad fi Bilad ar-Rafidain“ (Qaidat al-Jihad im Zweistromland). Diese Umbenennung warf zum wiederholten Male die Frage auf, in welchem Verhältnis Zarqawi zu Bin Laden steht. Durch die Übernahme des Namens schien er sich endgültig der Al-Qaida angeschlossen zu haben, die sich seit dem formalen Beitritt einiger Ägypter um Bin Ladens Stellvertreter Aiman az-Zawahiri Qaidat al-Jihad nannte.1 Bin Laden reagierte in einer Tonbandbotschaft, die Ende Dezember 2004 veröffentlicht wurde, in der er den Anschluss Zarqawis an Al-Qaida bestätigte und ausdrücklich begrüßte. So konnte man glauben, die seit 2002 öffentlich geführte Diskussion über die Zugehörigkeit Zarqawis zur Al-Qaida sei beendet – zugunsten der schon im Februar 2003 vom amerikanischen Außenminister Colin Powell vor dem UN-Sicherheitsrat vertretenen Ansicht, Zarqawi und seine Anhänger seien ein integraler Bestandteil der Al-Qaida.

Es gibt eine Reihe von Belegen dafür, dass diese Interpretation zumindest stark verkürzt ist, und dass das Verhältnis zwischen Zarqawi-Netzwerk und Al-Qaida vielmehr sehr viel komplizierter ist und gleichzeitig von Konkurrenz und Kooperation geprägt wird. Im Folgenden wird deshalb zunächst der Werdegang Zarqawis und die Entwicklung seines Netzwerks bis zum Herbst 2004 geschildert, um anschließend die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen ihm und Al-Qaida systematisch herauszuarbeiten.

Werdegang eines „arabischen Afghanen“

Abu Musab az-Zarqawi wurde als Ahmad al-Khalaila 1966 im jordanischen Zarqa, einer Stadt im Nordwesten des Landes, geboren. Häufig heißt es, er sei wie rund 60 Prozent der jordanischen Bevölkerung palästinensischer Abstammung, doch tatsächlich gehört er dem jordanischen Stamm der Bani Hasan an, wie er im Mai 2004 in einem offenen Brief an König Abdallah II. selbst erklärte.2 Die Bani Hasan sind im Gegensatz zu den in Jordanien lebenden Palästinensern Teil des Staatsvolks und als prominenter Beduinenstamm stark in Armee und Sicherheitskräften vertreten. Sie gelten als insgesamt system-loyal.

Über Zarqawis Jugend und die Gründe seiner Hinwendung zum Islamismus liegen kaum gesicherte Informationen vor. Ende der achtziger Jahre reiste er nach Pakistan und Afghanistan, wo er an Kämpfen teilgenommen haben soll. Als er schließlich 1991 nach Jordanien zurückkehrte, entstanden unter den nach Jordanien zurückgekehrten „arabischen Afghanen“ mehrere kleine militante Gruppen: Die bekannteste wurde die „Baiat al-Imam“ (Gefolgschaftseid des Imam). Da die Rückkehrer zu einem Sicherheitsrisiko zu werden schienen, verhafteten die jordanischen Sicherheitsbehörden im November 1993 (andere Quellen nennen das Jahr 1994) ihnen bekannte Afghanistan-Veteranen.

Auch Zarqawi war unter ihnen und verbrachte die nächsten Jahre im Gefängnis. Er teilte dieses Schicksal mit dem palästinensischstämmigen Jordanier Abu Muhammad al-Maqdisi (Isam al-Barqawi), der sich bereits in Afghanistan zu einem der wichtigsten Vordenker der militanten Islamisten entwickelt hatte.3 Er prägte Zarqawis ideologische Entwicklung tief, bis dieser 1999 im Rahmen einer Amnestie freigelassen wurde. Doch schon 2000 suchte die Polizei Zarqawi erneut, diesmal im Zusammenhang mit Anschlagsplanungen auf ein Hotel in Amman sowie auf amerikanische und israelische Einrichtungen in Jordanien vor dem Jahrtausendwechsel. Nun aber gelang ihm die Flucht und er begab sich nach Afghanistan, wo er sich mit Osama Bin Laden in Verbindung setzte und anschließend bei Herat, nahe der iranischen Grenze, ein Ausbildungslager leitete. Über den Iran ließ Zarqawi seine Anhänger, mehrheitlich palästinensischstämmige Jordanier, anreisen. Die Tatsache, dass er überhaupt über Gefolgsleute verfügte, zeigt, dass er sich bereits im Gefängnis zu einer wichtigen Persönlichkeit der militanten Szene entwickelt haben muss.

Zarqawi im Irak und in Jordanien

Nachdem die afghanische Basis der Al-Qaida unter den Militärschlägen der USA im Herbst und Winter 2001 zusammengebrochen war, flüchtete Zarqawi wahrscheinlich nach Iran und von dort in den Nordirak, wo die „Ansar al-Islam“ (Helfer des Islam), eine kurdische Organisation mit Beziehungen zur Al-Qaida, ein kleines Gebiet an der iranischen Grenze kontrollierte. Von dort aus organisierte Zarqawi Anschläge. Im Oktober 2002 ermordeten zwei seiner Anhänger den Amerikaner Lawrence Foley in Amman, der dort für die staatliche Agency for International Development (USAID) arbeitete. Dies war kein Aufsehen erregender Anschlag, aber im leidlich stabilen Jordanien ein Warnzeichen, dass die jordanisch-palästinensischen Terroristen ihr Heimatland nicht aus dem Auge verloren. Diese Aktion blieb Zarqawis einziger „Erfolg“ vor 2003.

In den folgenden Monaten schrieb die Presse Zarqawi verschiedene gescheiterte Attentatspläne in Europa zu. So soll er gemeinsam mit den Ansar al-Islam an der Entwicklung von Giftstoffen gearbeitet haben, von denen im Dezember 2003 Spuren nach Verhaftungsaktionen in Großbritannien und Frankreich gefunden wurden. So eng scheint die Beziehung zwischen den Ansar und Zarqawi gewesen zu sein, dass ihn Teile der internationalen Presse als ihren Anführer bezeichneten. Aber auch wenn er im Nordirak eine prominente Rolle gespielt haben sollte, wurde spätestens im Verlauf seiner späteren Aktivitäten deutlich, dass das Zarqawi-Netzwerk und Ansar al-Islam weiterhin getrennte Gruppierungen waren, auch wenn sie komplementäre Ziele verfolgten.4

Der Irak-Konflikt rückte Zarqawi schließlich in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses weltweit. Im Februar 2003, als der amerikanische Außenminister Colin Powell vor dem UN-Sicherheitsrat die Gründe für das Vorgehen der USA gegen das Regime Saddam Husseins darlegte, behauptete er, Zarqawi sei der sichtbarste Teil einer Verbindung zwischen Al-Qaida und der irakischen Führung. Zarqawi, so die amerikanische Argumentation, gehöre zur Al-Qaida und habe sich im Sommer 2002 in Bagdad ein Bein abnehmen lassen, nachdem er während der Kampfhandlungen in Afghanistan verletzt worden war. Dies wäre ohne Wissen der Regierung nicht möglich gewesen und sei deshalb ein deutlicher Beleg für die Kooperation zwischen der Terrorgruppe und dem Irak.

Unabhängig vom zweifelhaften Wahrheitsgehalt der Anekdote über die Amputation gibt es bisher keinen stichhaltigen Hinweis für eine Kooperation zwischen dem Irak Saddam Husseins und Al-Qaida, wie mittlerweile auch die amerikanische Untersuchungskommission zu den Anschlägen vom 11. September 2001 festgestellt hat. Vielmehr nutzte Zarqawi die Chance, die die amerikanische Intervention bot, sein nun wachsendes Netzwerk im Kampf gegen die amerikanischen Truppen einzusetzen, mit einem wachsenden Anteil irakischen Personals und möglicherweise in Kooperation mit ehemaligen Funktionären des gestürzten Regimes Saddam Husseins.5

Seit Sommer 2003 wurden im Irak vermehrt Anschläge von Selbstmordattentätern ausgeführt, so dass bereits früh die Vermutung nahe lag, Islamisten seien am Widerstand beteiligt. Doch erst ab Winter 2003/04 zeichnete sich ab, dass das Zarqawi-Netzwerk eine wichtige Rolle spielte. Anfang Januar 2004 erschien auf islamistischen Webseiten ein Tonband, von dem behauptet wurde, Zarqawi habe es besprochen. Es handelt sich um einen langen, mit zahlreichen Zitaten aus Koran und Sunna gespickten Text, in dem er die Pflicht jedes Muslims betont, den Dschihad gegen die Feinde des Glaubens und damit die USA zu führen.6 Von nun an nannte sich seine Gruppe „Jamaat at-Tawhid wa-l-Jihad“, unter deren Namen mittlerweile mehr als ein Dutzend Verlautbarungen kursieren, in denen das Zarqawi-Netzwerk sich zu Anschlägen im Irak bekannte, unter anderem zu denen auf das Hauptquartier der UN in Bagdad im August 2003 und das der italienischen Truppen in Nasiriya im November 2003.

Möglicherweise ist Zarqawi auch für die Ermordung des schiitischen Spitzenpolitikers Muhammad Baqir al-Hakim im August 2003 verantwortlich. Im Frühjahr 2004 kamen Anschläge und Attentate auf vorwiegend schiitische Politiker hinzu. Darüber hinaus begann er seit Mai Videos von Enthauptungen von Staatsangehörigen derjenigen Staaten zu veröffentlichen, die der von den USA geführten Koalition angehörten oder sie unterstützten. Die Ermordung zweier amerikanischer und -– mit entsprechend medienwirksamer Verzögerung –- einer britischen Geisel im September und Oktober 2004 waren die bisherigen medialen Höhepunkte seiner terroristischen Kampagne.7

Eine eigene Strategie

Zarqawi entwarf darüber hinaus eine eigene Strategie, die er mit Besorgnis erregender Effektivität in die Tat umsetzte. Anfang 2004 fanden amerikanische Truppen im Irak einen Brief, den sie Zarqawi zuordneten und der verdeutlicht, dass es Versuche gab, Kontakte zwischen seiner Gruppe und der Führung der Al-Qaida herzustellen.8 Gerichtet an Bin Laden und den zweiten Mann der Al-Qaida, Aiman az-Zawahiri, beschrieb Zarqawi hierin die Schwierigkeiten der Glaubenskämpfer im Krieg gegen die Amerikaner im Irak und führte aus, dass nur die Entfesselung eines Bürgerkriegs zwischen Sunniten und Schiiten die Möglichkeit biete, ein derart chaotisches Umfeld zu schaffen, dass sich auch islamistische Terrorgruppen längerfristig würden halten können. Als spätesten Zeitpunkt („Stunde Null“) für den Beginn eines breit angelegten Angriffs nannte Zarqawi den Tag vier Monate vor dem Übergang der Regierungsverantwortung auf die Iraker. Da es sich bei dem geplanten Datum um den 30. Juni handelte, musste um den 1. März ein Aufsehen erregender Anschlag stattfinden, zum Ashura-Fest der Schiiten, an dem diese das Gedenken an das Martyrium des Prophetenenkels Husain in Passionsspielen begehen. Trotz strenger Sicherheitsvorkehrungen gelang es Selbstmordattentätern, am Morgen des 2. März tatsächlich mehrere Bomben in Kerbela und Bagdad zu zünden, nahe der Schreine der schiitischen Imame Husain und Musa al-Kazim.9 Rund 150 Menschen starben. Dass es Zarqawi gelang, einen lange angekündigten Anschlag trotz erheblicher operativer Schwierigkeiten durchzuführen, zeigte, wie effektiv seine Gruppe mittlerweile arbeitete. Obwohl einheimische Gruppen und Personal im irakischen Widerstand dominieren, wurde das zu großen Teilen aus Ausländern bestehende Zarqawi-Netzwerk zum bekanntesten identifizierbaren Einzelakteur.

Wie groß das Netzwerk tatsächlich ist, ist nahezu unbekannt und auch zur Logistik der Gruppe und zu ihren Finanzen gibt es keine gesicherten Informationen. Lediglich die professionelle Tatvorbereitung lässt darauf schließen, dass militärisch geschulte und ortskundige Iraker mit ihm zusammenarbeiten. Zudem ist bekannt, dass die meisten der Selbstmordattentäter aus Saudi-Arabien, Kuwait und Syrien stammen.10 Dies bedeutet, dass Zarqawi über regionale Rekrutierungsmechanismen verfügen muss. Nachdem sie geworben worden sind, scheinen die meisten Rekruten über Syrien in den Irak zu reisen, wo die Gruppe eine eigene Infrastruktur aufgebaut hat.11

Zarqawis Drang zur öffentlichen Darstellung seiner Taten könnte auf Finanzierungsprobleme hinweisen. Denn seine Videos und Tonbänder sind auch Erfolgsbilanzen und dienen potenziellen Geldgebern als Leistungsnachweis. So veröffentlichte Zarqawi Anfang April 2004 wiederum eine Audiobotschaft, in der er die Verantwortung für die genannten Anschläge seit Sommer 2003 übernahm.12 Darüber hinaus beschuldigte er hier die Schiiten in der gesamten Region, mit den USA in einen Vernichtungskrieg gegen die Sunniten eingetreten zu sein. Seine antischiitische Ausrichtung könnte Financiers aus den Golf-Staaten, wo antischiitische Ressentiments weit verbreitet sind, ansprechen. Dass dieser Text darüber hinaus auch programmatischen Charakter hatte, zeigte sich im Mai und Juni 2004, als der schiitische Vorsitzende des Regierungsrats, Izzaddin Salim, und mehrere hochrangige Politiker ermordet wurden.

Wie professionell Zarqawi und seine Leute terroristische Anschläge und breit angelegte Öffentlichkeitsarbeit aufeinander abstimmen, zeigte sich am Fall des amerikanischen Geschäftsmanns Nicholas Berg. Das Video seiner Enthauptung vom Mai 2004, das erste seiner Art im Irak, rief weltweit Entsetzen hervor und die Tat fand in den folgenden Monaten Nachahmer in Saudi-Arabien. Zarqawi wurde hier zu einem terroristischen Trendsetter weit über den Irak hinaus.

Dass Zarqawis Ambitionen über den Irak hinausgehen, deutete er in seiner Botschaft vom Januar bereits an, wo es heißt, dass mit dem Kampf im Irak der Dschihad wieder in das arabische Kernland getragen werde, in die unmittelbare Nähe der Heiligen Stätten von Mekka, Medina und Jerusalem. Wie ernst es ihm hiermit war, zeigte sich Ende April 2004, als jordanische Sicherheitsbehörden einen Attentatsplan aufdeckten, der – laut ihren Angaben – die Zentrale des Geheimdienstes, den Sitz des Ministerpräsidenten und die amerikanische Botschaft in Amman zum Ziel gehabt hatte. Da die Täter angeblich Chemikalien einsetzen wollten, die durch die Explosion der Bomben freigesetzt werden sollten, hätte die Zahl der Opfer bei mindestens 80.000 gelegen.13 Viele Kommentatoren hielten es jedoch für wahrscheinlicher, dass es sich um Planungen zu einem herkömmlichen Autobombenanschlag handelte. Dies bestätigte Zarqawi, der sich noch am 30. April in einer Audiobotschaft zu Wort meldete und bestätigte, einen Anschlag auf die Zentrale des jordanischen Geheimdienstes geplant zu haben. Er sagte jedoch, er habe nie geplant, unschuldige Muslime zu töten und leugnete, Chemiewaffen entwickelt zu haben: „Gott weiß, dass, wenn wir eine solche Bombe besäßen, wir nicht zögern würden, sie gegen Eilat, Tel Aviv oder andere Städte einzusetzen.“ Vielmehr wende er sich gegen die jordanische Regierung, weil das Königreich eine wichtige Basis für den Krieg der Amerikaner im Irak und im Kampf gegen die „Mudschahidin“ sei.14

Das Zarqawi-Netzwerk und Al-Qaida

Die Anschlagsplanungen in Jordanien – zu einem Zeitpunkt, zu dem Zarqawi eigentlich alle seine Kräfte im Irak hätte bündeln müssen – zeigen, dass er seinem ursprünglichen Ziel, dem Sturz der jordanischen Regierung, treu bleibt, obwohl er sich auch dem Kampf gegen „den Westen“ im Allgemeinen und die USA und Israel im Besonderen widmet. Hierin ähnelt sein Werdegang dem Bin Ladens, der den Sturz der saudischen Herrscherfamilie ebenfalls nie aus dem Auge verlor und der sich erst im Verlauf der zweiten Hälfte der neunziger Jahre von einem saudi-arabischen Oppositionellen zu einem transnational operierenden Terroristen entwickelte. In vielen Erklärungen beider Persönlichkeiten wird deutlich, dass sie versuchen, ihre regionalen und globalen Zielvorstellungen miteinander in Einklang zu bringen. Der Schlüssel ist jeweils der Rückzug der USA oder des Westens aus der arabischen Welt, der es ihnen -– so ihre Argumentation –- erleichtern würde, islamistische Gottesstaaten zu errichten. So forderte Zarqawi gegenüber Gefolgsleuten im Irak im Jahr 2004, zunächst die Amerikaner aus dem Zweistromland zu vertreiben, dort die Macht zu übernehmen und den Dschihad anschließend auf die unmittelbaren Nachbarstaaten auszuweiten. Vornehmstes Ziel, so Zarqawi, sei die Befreiung Jerusalems.

Der israelisch-palästinensische Konflikt spielt in der Ideologie Zarqawis eine sehr viel wichtigere Rolle als in der Bin Ladens. Sein Wunsch, Palästina zu befreien, unterscheidet sich deutlich von der erst spät entdeckten Sympathie Osama Bin Ladens für die Palästinenser, die weitgehend propagandistischer Natur zu sein scheint. Al-Qaida machte die Leiden der Palästinenser erst dann zu ihrem vorrangigen Anliegen, als sie im Oktober 2001 ihre Basis in Afghanistan zu verlieren drohte. Im Unterschied hierzu spiegeln Zarqawis Zielvorstellungen die Wünsche der meisten seiner ursprünglichen Anhänger wider, die als palästinensischstämmige Jordanier ein sehr viel unmittelbareres Interesse an einer Befreiung Palästinas haben als die Saudis, Jemeniten und Ägypter, die den Kern der Al-Qaida bilden.

Ein weiterer Unterschied zwischen Zarqawi und Bin Laden zeigte sich in dem bereits zitierten antischiitischen Strategiepapier vom Januar 2004. Mit seiner Argumentation und den folgenden Attentaten setzte Zarqawi sich deutlich von Al-Qaida ab, die – obwohl sie ideologisch stark antischiitisch orientiert ist – direkte Angriffe auf Schiiten vermeidet und somit vorerst und zumindest implizit auf deren Neutralität setzt. Die antischiitischen Attentate des Zarqawi-Netzwerks werden denn auch in militanten islamistischen Kreisen sehr unterschiedlich beurteilt. Zarqawis Versuch der Entfesselung eines Bürgerkriegs gegen die zahlenmäßig überlegenen Schiiten im Irak erscheint vielen – darunter anscheinend auch seinem Lehrmeister al-Maqdisi – blindwütig und wenig zielführend.15 Seit Mitte des Jahres 2004 scheint Zarqawi denn auch zumindest zeitweilig von seiner „Bürgerkriegsstrategie“ abgekommen zu sein.

Während Zarqawi zu Beginn seiner Karriere auf den Sturz der Herrscherfamilie in Jordanien und die Befreiung Palästinas von den „Juden“ abzielte, benötigte er, nachdem er Jordanien Ende der neunziger Jahre verlassen hatte und nach Afghanistan ging, die Unterstützung von Al-Qaida, so dass er sich deren weitergehenden Zielen nicht verschließen konnte. Ohne eine enge Beziehung zu Bin Laden hätte er in Afghanistan kein Ausbildungslager betreiben können, obgleich er in Herat weit von der Al-Qaida-Zentrale in Kandahar entfernt war. Auch nach dem Verlassen Afghanistans wurde sein Verhältnis zur Al-Qaida weiterhin von Konkurrenz und Abgrenzung geprägt, wobei er aus praktischen Gründen nicht auf die ideologische und möglicherweise auch finanzielle Unterstützung Bin Ladens verzichten konnte.

Dass das Zarqawi-Netzwerk und Al-Qaida schon in Afghanistan miteinander konkurrierten, wurde im Zusammenhang mit dem Prozess um die so genannte Tawhid-Gruppe im Ruhrgebiet deutlich – militante Islamisten, die in Abstimmung mit Zarqawi Anschläge auf jüdische Einrichtungen in Berlin und Düsseldorf geplant haben sollen. Im April 2002 wurden sie von der deutschen Polizei verhaftet. Einer der Beschuldigten, der palästinensischstämmige Jordanier Shadhi A., erläuterte in der Folge das Verhältnis Zarqawis zu Al-Qaida.16 Zarqawi nenne seine eigene Gruppe at-Tawhid. Hierbei handelt es sich ursprünglich um das zentrale Konzept der islamischen Glaubenslehre, den absoluten Monotheismus, auf den islamistische Gruppierungen häufig rekurrieren. A. bestätigte die unterschiedlichen Zielvorstellungen von at-Tawhid und Al-Qaida und sprach sogar von einer ausgeprägten Konkurrenz zwischen den beiden Organisationen. Nachdem er sich Zarqawi angeschlossen hatte, habe er dessen Forderung abgelehnt, in Jordanien an Anschlagsplanungen teilzunehmen. Stattdessen habe er angeboten, in Deutschland lebende Juden anzugreifen, und daraufhin habe er den Auftrag erhalten, sich der Gruppe im Ruhrgebiet anzuschließen.17

Zarqawi versuchte darüber hinaus mehrfach, seine Eigenständigkeit auch öffentlich zu betonen. Darauf wies schon seine erste Tonbandbotschaft vom Januar 2004 hin. Bis dahin waren Tonbänder ausschließlich das Kommunikationsmittel der Al-Qaida-Führung und ihrer Sprecher gewesen. Allein durch die Veröffentlichung von Botschaften macht Zarqawi deutlich, dass er eine Führungsrolle im internationalen Terrorismus beansprucht, gleichrangig mit Bin Laden und Aiman az-Zawahiri.

Dies hinderte ihn nicht daran, Gemeinsamkeiten zu betonen, die durch seinen Kampf gegen die amerikanischen Truppen im Irak wiederum vermehrt gegeben sind. Er und seine Gefolgsleute versuchen auf diese Weise, den Eindruck zu erwecken, Al-Qaida handele als weltumspannende Einheit, was ihm tatsächlich gelingt. Westliche Medien haben ihm in den letzten Monaten die Urheberschaft einer ganzen Reihe von Anschlägen zugeschrieben (wie z.B. die von Madrid im März 2004), für die er wahrscheinlich nicht verantwortlich war.18 Dass auch Osama Bin Laden Zarqawis Öffentlichkeitsarbeit schätzt, zeigte er in seiner Tonbandbotschaft vom Ende Dezember, in der er die Aufnahme Zarqawis und seiner Gefolgsleute in die Al-Qaida bestätigte.

Fazit

Zarqawi ist also weder der Statthalter Bin Ladens im Irak noch sein Gegner. Beide verfolgen zurzeit ähnliche Ziele, insbesondere im Kampf gegen die USA. Zarqawis Gefolgschaftseid für Bin Laden vom Oktober 2004 ist nur einer von mehreren Versuchen, die öffentliche Wirkung seiner Aktivitäten auf westliche Gesellschaften und Regierungen in der Region zu verstärken. Es ist aufgrund seines Werdegangs unwahrscheinlich, dass Zarqawi seine Unabhängigkeit zugunsten einer auch faktischen Unterordnung unter Osama Bin Laden aufgibt. Vielmehr scheint er zu glauben, dass die Namensgebung seine Aktivitäten nicht beeinträchtigen wird, dass Al-Qaida also gar nicht in der Lage ist, die Ereignisse im Irak und in seinen Nachbarstaaten zu steuern. Nahe liegend ist zudem, dass Zarqawi auf diese Weise Zugriff auf Spenden aus den Golf-Staaten erlangen will, wo in erster Linie Al-Qaida über sehr gute Kontakte verfügt. Es ist auch denkbar, dass er die Attraktivität des irakischen Dschihad für diejenigen jungen Islamisten steigern will, die eher dem Saudi Bin Laden als dem Jordanier Zarqawi zu folgen bereit sind. Zu denken wäre hier vor allem an Saudis, Jemeniten und Kuwaitis. In jedem Fall ging es Zarqawi darum, die öffentliche Aufmerksamkeit kurz vor den amerikanischen Wahlen auf seine Aktivitäten im Irak zu lenken.

Das bisherige Verhältnis zwischen dem Zarqawi-Netzwerk und Al-Qaida besteht fort: In ihren ideologischen Prämissen und Zielvorstellungen stimmen beide weitgehend überein. Sie wollen die Amerikaner zum Rückzug aus der arabischen und islamischen Welt bewegen, Israel zerstören und die Herrscherhäuser in ihren Heimatländern und weiteren Staaten stürzen. Darüber hinaus scheinen beide weitaus diffuseren Vorstellungen von der Errichtung islamistischer Gottesstaaten mit nicht genau definierten Grenzen zu folgen. In der Gewichtung und konkreten Ausgestaltung ihrer Strategien zeigen sich jedoch Unterschiede, so dass das Zarqawi-Netzwerk eine unterscheidbare, konkurrierende Größe bleibt, die ihre eigenen strategischen Überlegungen in die Tat umsetzt, dabei aber aus taktischen Gründen versucht, Nähe zur Al-Qaida zu demonstrieren.

1 Seitdem sich die Dschihad-Gruppe des Ägypters Aiman az-Zawahiri im Sommer 2001 offiziell der Al-Qaida anschloss, nannte sich die Organisation „Qaidat al-Jihad“. Marc Sageman: Understanding Terror Networks, Philadelphia 2004, S. 51.

2 Der offene Brief war auf den 15. Mai 2004 datiert.

3 Abu Muhammad al-Maqdisi (geb. 1959) ist vor allem unter jordanischen und saudi-arabischen militanten Islamisten einflussreich. Er ist in Jordanien inhaftiert.

4 Ansar al-Islam hat sich mittlerweile in Ansar as-Sunna umbenannt und ist die neben dem Zarqawi-Netzwerk wichtigste islamistische Gruppe innerhalb des irakischen Widerstands.

5 Al-Hayat (London) vom 8.11.2004 („Die arabischen Mujahidin“ im Irak sind 2000 ... (arab.)

6 Der Titel des Textes, der mittlerweile auch als Transkript auf Webseiten verbreitet wird, lautete „Schließe dich der Karawane an“ (Ilhaq bi-l-qafila).

7 New York Times vom 9.10.2004 (Video shows beheading of kidnapped British engineer).

8 Der Brief wurde zweisprachig auf der Webseite der Coalition Provisional Authority veröffentlicht. Vgl. http://cpa-iraq.org/transcripts/20040212_zarqawi_full.html, zugegriffen am 25.2.2004.

9 New York Times vom 3.3.2004 (At least 143 die in attacks at two sacred sites in Iraq).

10 Im Internet erschienen bis zur Umbenennung der Organisation regelmäßig Kommuniqués des „Militärischen Flügels der Gruppe Tawhid und Dschihad“, in denen die Nationalitäten der Selbstmordattentäter genannt werden.

11 Hinweise auf die Reisewege finden sich in Zeitungsartikeln zu einzelnen Selbstmordattentätern, so z.B. im Fall des Kuwaitis Faisal al-Mutairi. ash-Sharq al-Awsat (London) vom 16.6.2004 (Eine kuwaitische Quelle bestätigt, dass der Selbstmordattentäter von Bagdad ein früherer Feldwebel des Innenministeriums ist ...).

12 Die Audiobotschaft erschien am 6.4.2004 auf verschiedenen islamistischen Webseiten.

13 Arab News (Jidda) vom 4.8.2004 (Jordan detains 9th suspect in foiled chemical attack).

14 Diese Audiobotschaft kursierte in verschiedenen islamistischen Webforen.

15 Al-Hayat (London) vom 30.4.2004 (Ein Artikel „al-Maqdisis“ kritisiert Zarqawi: Eine naive Rede, die die Situation der Mujahidin nicht berücksichtigt (arab.)).

16 Christian Science Monitor vom 11.5.2004 (How terror groups vied for a player).

17 Im Zusammenhang mit diesem Verfahren besteht seit Februar 2003 ein internationaler Haftbefehl gegen Zarqawi. 18 Unklar ist weiterhin, ob es eine Verbindung des Zarqawi-Netzwerks zu den Anschlägen von Istanbul gibt. Türkische Journalisten sprechen immer wieder von einer einheimischen Organisation, die sich ebenso wie Zarqawis frühere jordanische Gruppe „Baiat al-Imam“ nennt. Radikal vom 7.1.2004 (150 Türken haben Verbindung zu Al-Qaida (türk.)).

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 2, Februar 2005, S. 78 - 85.

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