Essay

01. Jan. 2021

Der lange Atem der neuen Nationalisten

Donald Trumps Abgang mag ein schwerer Verlust für die nationalistische Internationale sein. Doch ihr Spiel ist nicht von kurzer Dauer; es ist robust und rücksichtslos – und hoch anpassungsfähig.

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Bild: Trump und Putin im Gespräch
Zwei, die sich gut brauchen konnten: Bei aller Unterschiedlichkeit haben sich Trump und Putin (hier 2019 im japanischen Osaka) gestützt und einander nach Kräften geholfen. Eine unheilige Allianz, über deren Hintergründe noch lange nicht alles bekannt ist.
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Er war ihr bester Mann im Kampf gegen die liberale Ordnung. Die Zusammenarbeit von US-Präsident Donald Trump und Herrschern wie Wladimir Putin und Recep Tayyip Erdoğan ging auf Kosten des Klimas, der Rüstungskontrolle, der internationalen Institutionen, der UN, der EU und jener Länder, die Schauplatz von Zerrüttung und Kriegen waren. Mit den ärgsten Auswüchsen dieser Politik unter Trumps Führung ist es nun erst einmal vorbei.



Joe Biden, der gewählte Präsident, will die USA zurück in das Pariser Klimaabkommen bringen, er möchte den Abrüstungsdeal mit dem Iran und den Multilateralismus wiederbeleben. Anders als Trump hält Biden auch die Europäische Union für eine gute Sache. Er wird offizielle Verhandlungen den unter Trump üblichen Männerabsprachen ohne Protokoll vorziehen. Biden ist der Anti-Typ eines Nationalisten. Doch ist Trumps Abschied aus dem Weißen Haus auch der Beginn vom Ende der nationalistischen Internationale?



Autoritäre Herrscher dürften dem Nationalisten Trump nostalgisch hinterherblicken, aber sie werden die Niederlage unter keinen Umständen auf sich beziehen – und versuchen, so schnell wie möglich darüber hinwegzukommen. Der Verlust eines Verbündeten ist für Männer, die seit zehn oder zwanzig Jahren an der Macht sind, nicht der erste Rückschlag. Mit Schocks umzugehen, haben Erdoğan, Putin und andere Nationalisten wie Viktor Orbán gelernt. Durch Rückschläge haben sie sich weiterentwickelt, in Krisen ihren Überlebensinstinkt bewiesen. Der Blick zurück auf ihre Karrieren zeigt, dass sie noch eine Zukunft haben – und dass der Nationalismus eine robuste Kraft in der Welt ist.



Putin, Erdoğan und Orbán sind Verwandlungskünstler. Sie schlüpfen in viele Rollen, sie klammern sich an die Macht, aber auf flexible Weise. In Krisen nehmen sie alle möglichen Gestalten an. Sie waren erst Wirtschaftsliberale, Wohlstandsverteiler, aus Karrieregründen sind sie schließlich zu Nationalisten geworden. Anders als die klassischen Nationalisten des 20. Jahrhunderts haben sie ihre Agenda nicht in jungen Jahren und vor Beginn ihrer politischen Karriere eingesogen. Der neue Nationalismus des 21. Jahrhunderts ist opportunistischer Art.



Bei meinem ersten Treffen mit Wladimir Putin vor gut 20 Jahren sah er älter aus als heute. Die Wangen hohl, der Teint blass, die Schultern nach vorn geneigt. Ich lernte einen eher schüchternen Mann kennen, nicht laut, nicht muskelspielend. Damals saß er nicht so breitbeinig da wie heute, war sehr kontrolliert, fast ein bisschen linkisch in den Bewegungen. Er war es noch nicht gewohnt, wie später mit nacktem Oberkörper auf Pferden zu reiten oder im Kampfjet über den Polarkreis zu donnern. Putin hatte sich den Staub seines mühevollen Aufstiegs aus den ärmlichen Hinterhöfen Leningrads und der Ochsentour durch den Geheimdienst bis in den Kreml noch nicht ganz aus dem Anzug geklopft. Er redete vorsichtig. Was mich überraschte: Er sagte kein hässliches Wort über die NATO, die im Kosovo-Krieg Belgrad bombardiert hatte und sich gerade um Polen erweiterte. Kein böses Wort über die USA, die all das dirigierten. „Zusammenarbeiten“, das wollte er, mit Amerika und mit Deutschland. Der Terrorismus sei der gemeinsame Feind. Diese Linie sollte Putins frühe Zeit markieren. Auch bei der NATO-Osterweiterung 2004 fiel seine Kritik leise aus.



Wenn ich mich an die Begegnung von Ende 1999 erinnere, fällt auf, wie sehr der russische Präsident von heute ein Konstrukt ist. Ein Mann, der von Spindoktoren, Maßschneidern, Orthopäden und Schönheitschirurgen zu dem harten Typ gemacht wurde, der der NATO trotzt, Oppositionelle verfolgen lässt und sich als „größter Nationalist“ seines Landes inszeniert.



Putins Wende in den Nationalismus folgte erst 2012. In den Jahren davor hatte er den Russen zunächst das Ende der wilden postsowjetischen Epoche, den zumindest äußerlichen Eindruck eines geordneten Staates und einen Petrodollar-Aufschwung gebracht. In deutschen Talkshows hielt sich viele Jahre hartnäckig das Gerücht, seine Wende sei eine Antwort auf mangelnden Respekt des Westens gewesen. Das ist ein Irrtum und mehr noch, eine Geringschätzung. Russland ist als Land zu groß und als internationaler Akteur zu unabhängig, als dass seine Führung grundlegende Richtungsentscheidungen der Politik von Reaktionen des Auslands abhängig machen würde. Wie so oft in großen Staaten lag der Grund vielmehr in Russland selbst, und in diesem Fall in einer bedrohlichen Krise für Putin. Im Winter 2011/12 protestierten die Menschen gegen seine Rückkehr vom Ministerpräsidentenamt auf den Präsidentensessel und gegen eine dreist manipulierte Wahl. Seine Popularität stürzte dramatisch ab. Seine teils martialischen Auftritte in Uniform und Judoanzug wirkten nicht mehr, seine Reden gingen ins Leere.



Auf der Suche nach einer neuen Erzählung wandte sich Putin in einem programmatischen Zeitungsartikel 2012 in der Nesawissimaja Gaseta dem Nationalismus zu. Damit hatte er, wie er schnell merken sollte, den für breitere Schichten passenden Ton gefunden. Putin, der persönlich eher dem Vielvölkerstaat in russisch-sowjetischer Reichstradition huldigte als einem eng gefassten russischen Nationalismus, sprach zunehmend über die Russen als Ethnie und ihre Bedrohungen. Im Krieg gegen die Ukraine zwei Jahre später ließ er ethnischen Nationalisten Raum. Nach der Annexion der Krim war er so populär wie nie zuvor. Doch hat er die im Krieg überschießenden Ideologen des ethnischen Nationalismus wieder eingefangen, entmachtet und mundtot gemacht. Den neuen Nationalismus hat er verstaatlicht. Bis heute wird Putin von einer Welle des kontrollierten Nationalismus getragen, der sich aus militärischen Erfolgen und der scharfen Konkurrenz mit dem Westen nährt.



Andere autoritäre Politiker hatten ähnliche Erweckungserlebnisse. Den heutigen türkischen Präsidenten sah ich drei Mal persönlich, 2002, dann 2010, schließlich 2019. Beim ersten Mal traf ich ihn in einem schnörkellosen Konferenzraum. Ein großgewachsener, sportlicher Mann mit goldener Krawattennadel setzte sich mir gegenüber und löste zwei Zuckerwürfel in einem dampfenden Glas Tee auf. Er war freundlich, rührte entspannt im Tee und war so ganz das Gegenbild zum heutigen Erdoğan, dauergereizt und immer auf dem Sprung ins Gesicht des Gesprächspartners. Damals redete er prowestlich, neoliberal, warb für einen „angelsächsischen Säkularismus“ und warnte vor Nationalismus. Und tatsächlich, nach der gewonnenen Wahl reformierte er sein Land und erreichte EU-Beitrittsverhandlungen. Damals deutete nichts auf den Nationalismus und die Feldzüge von heute hin. 2010 saß er zum Interview auf einem ausladenden violetten Diwan in Bananenform und hielt einen Monolog. Von der EU und ihrer faktischen Ablehnung des türkischen Beitrittsgesuchs war er tief enttäuscht, aber noch sprach er von Demokratisierung. Doch als ich ihn 2019 im großen Saal der Rundfunkanstalt TRT wiedersah, da ging er gebückt wie ein alternder Feldherr, redete von großen Schlachten, von brutalen Kreuzfahrern und prächtigen Sultanen. Erdoğan war Nationalist geworden. Weniger aus Überzeugung als aus Gründen des Machterhalts. Eben ganz anders als Diktatoren des 20. Jahrhunderts, von denen viele ihren Nationalismus schon in jungen Jahren lebten.



Erdoğan ist im Gegensatz dazu ein neuer Nationalist, der erst Anti-Nationalist war und sich der Ideologie nur als Werkzeug bedient. Flexibel genug ist er. Seine Verwandlung zum Kriegsherrn begann 2015, als er sich mit der Kurdenpartei überwarf, die ihm eigentlich zu einer neuen Präsidialverfassung verhelfen sollte. Dann verlor er eine Wahl. Deshalb ging Erdoğan eine Koalition mit der Partei der Nationalen Bewegung ein, einem Bündnis von Panturkisten, Ethnonationalisten und Faschisten. Erdoğans Deal mit der MHP: Er schenkte ihnen den Kurswechsel, sie verschafften ihm die Mehrheit für die Verfassungsänderung. Die MHP durfte mit ihren gut ausgebildeten ideologischen Kadern Schlüsselstellungen in Staat, Justiz und Armee besetzen. Nationalismus war seit 2016 Erdoğans wesentliches Werkzeug, die Türkei zum Ein-Mann-Staat umzubauen. In der Pandemie verwandelte er sich in einen Rundum-Interventionisten. Er provozierte eine Krieg-in-Sicht-Krise mit Griechenland. Er schickte Söldner und Drohnen nach Libyen und desgleichen nach Berg-Karabach. Kein Krieg läuft in der türkischen Nachbarschaft, in den Erdoğan sich nicht einmischt.



Das 21. Jahrhundert hat eine bunte Reihe von neuen Nationalisten hervorgebracht, die diese Ideologie im Laufe ihrer Karriere als Werkzeug der Macht entdeckten. Zu nennen sind unter anderen der griechische Politiker Antonis Samaras, der Erfinder des Konflikts zwischen Griechenland und Nordmazedonien, Boris Johnson, der als Opportunist Großbritannien aus der EU führte oder Xi Jinping, der China in eine nationalistische Festung verwandelt hat. Doch der Pionier dieses neuen Nationalismus kam in den 1990er Jahren aus Ungarn.



Viktor Orbán war in seinen jungen Jahren ein Stipendiat von George Soros und ein Liebling der Liberalen. Dank des amerikanischen Mäzens mit ungarischen Wurzeln konnte der junge Mann aus ärmlichen Verhältnissen in England studieren. Als junger Abgeordneter der Fidesz-Partei kämpfte Orbán mit Bart und langem Haar, mit Jeans und ohne Krawatte für ein liberales Ungarn. Als Fraktionschef erwarb er sich einen Ruf als besonders scharfzüngiger und schlagfertiger Liberaler. Im Februar 1992 stand er vor dem Parteitag der Fidesz und erklärte: „Der völkisch-nationale Gedanke, die populistische Politik, steht im scharfen Gegensatz zum Liberalismus.“ Wer den Mann heute hört und sieht, kann die Worte kaum glauben.



Solch leidenschaftlichen Liberalismus bemerkte auch das westliche Ausland. Kaum 30 Jahre alt, wurde Orbán zum Vizepräsidenten der Liberalen Internationale gewählt und gab 1993 den jungdynamischen Gastgeber der Liberalen Weltkonferenz in Budapest. Die Popularitätswerte von Fidesz schossen in die Höhe, die Partei wurde als nächste Regierungspartei gehandelt, und Orbán, das war die Erwartung, würde dabei eine wichtige Rolle spielen. Doch die Spaltungen und Zerwürfnisse der Liberalen, wie man sie früher nur von den K-Gruppen kannte, kamen dazwischen. Orbán zerstritt sich mit seinem Freund, dem populären Fidesz-Politiker Gábor Fodor, und drängte ihn aus der Partei. Weitere Austritte folgten. Bei den Wahlen 1994 erreichte die gerupfte Fidesz-Partei statt des erwarteten Sieges nur 7 Prozent, eine katastrophale Niederlage. Sie war Orbáns auf den Kopf gestelltes Damaskus-Erlebnis.



Auf dem Tiefpunkt seiner Karriere meinte Viktor Orbán zu erkennen, dass er als netter liberaler Jungstar in Ungarn nicht weiterkäme. Es war, in jungen Jahren vorweggenommen, ein ähnliches Erlebnis wie das von Wladimir Putin nach den Bolotnaja-Protesten 2012 und von Tayyip Erdoğan nach der Wahlniederlage von 2015. Das mögliche Ende seiner Karriere vor Augen, entschied sich Viktor Orbán für einen scharfen Schwenk nach rechts in den neuen Nationalismus. Sein Biograf Paul Lendvai konnte dabei „keine tiefere ideologische Seelensuche“ entdecken – sondern stattdessen „eine klarsichtige Kalkulation, was es brauchen würde, um die Macht zu erringen“.



In den folgenden Monaten begann Orbán, von Ungartum, Heimat, nationalen Interessen, Familie, Bürgertum und Anstand zu reden. Nur auf der Rechten sah er Raum für politische Expansion. Er trug plötzlich Anzug und Krawatte, die Haare waren kurz, die Schuhe poliert. „Du musst deine Feinde begreifen“, sagte Orbán einmal, „du musst herausfinden, was sie in Wirklichkeit bewegt, und dann, wenn sich die Dinge zuspitzen, darfst du vor dem Kampf nicht zurückschrecken, greife an und siege.“



Zum Durchbruch der neuen Nationalisten im globalen Maßstab aber brauchte es eine Wahl im wirtschaftlich und militärisch stärksten Land der Welt. Der wichtigste neue Nationalist betrat 2016 die Bühne: Donald Trump. Einst Befürworter liberaler Einwanderungsgesetze und des Rechts auf Schwangerschaftsabbruch, ließ er als Präsident Mauern an der Grenze zu Mexiko bauen und hofierte die christliche Rechte. Er hatte früher keine rechte politische Agenda verfolgt, pflegte allerhöchstens Abschottungsimpulse. So hing er schon in den 1980er Jahren der banal-ökonomischen Klippschulüberzeugung an, dass die ganze Welt Amerika über den Tisch zog. Trump spendierte den Demokraten Geld und hausierte bei den Republikanern, um irgendwie Politiker zu werden. 2016, in seinem 70. Lebensjahr, war die Gelegenheit da, seine wirren Ressentiments mithilfe seiner Berater zu einer nationalistischen Agenda zu verrühren, die er in einfache Worte packte. Trump veränderte sich selbst und die Welt.



Seine Amtszeit wurde zum nationalistischen Albtraum: Zollschranken, Handelskriege, Sanktionen gegen den Iran, Russland und die EU. Mauern gegen Migranten, Vorsicht vor Ausländern und dem Islam! Trump formte den US-Patriotismus, der alle US-Bürger gleich welcher Herkunft im Stolz auf ihr Land vereint, in einen weißen amerikanischen Nationalismus um, der das Land entlang ethnischer und rassistischer Kriterien teilt.



Donald Trump wurde zur Gallionsfigur der nationalistischen Internationale. Putin, Erdoğan und Trump bildeten ein Männerkartell, das sich gegenseitig stützte, auch wenn ihre Länder geostrategisch konkurrieren. Wenn sie sich trafen oder telefonierten, wurde das Protokoll aus dem Raum geschickt. Trump ließ es zu, dass bei persönlichen Gesprächen zu zweit allein Erdoğans Chefberater vom Türkischen ins Englische übersetzte. Dem russischen Präsidenten vertraute Trump selbstgefällig schwadronierend Staatsgeheimnisse an und lästerte über die Europäer ab. Putin hat in Trumps Amtszeit die Lücken gefüllt, die die USA in der Welt hinterließen, vor allem im Nahen Osten. Der zweite Lückenfüller war Erdoğan. Der hätte seine Kriege niemals führen können, hätte Trump sein Militär nicht gezielt zurückgezogen. Trump blockierte die Sanktionen, die der Kongress gegen die Türkei wegen des Ankaufs russischer Abwehrraketen verhängt hatte. Er schützte zwielichtige Goldhändler und Banker aus dem Umfeld des türkischen Präsidenten gegen Strafverfolgung in den USA. Erdoğan schimpft viel über den Westen, über die EU und deren angebliche Islamophobie, aber nie über den tatsächlich islamophoben Trump. Putin duldet Erdoğans Expansion in Nahost. Erdoğan revanchiert sich, indem er mit der Aufstellung russischer S-400-Raketen die NATO unterminiert. Was in der NATO noch geheim ist, wenn die Türken am Tisch sitzen, weiß niemand. Putin hat seine Sympathien im US-Wahlkampf deutlich gemacht, noch Wochen nach der Wahl vom 3. November verweigerte er Joe Biden die Gratulation. Diese nationalistische Internationale endet nicht mit dem Auszug von Trump aus dem Weißen Haus.



Neue Nationalisten wie Putin, Erdoğan oder Orbán warten nun ab. Dafür haben sie zwei gute Gründe: Erstens haben sie ihr Spiel auf Dauer angelegt. Sie sehen sich in einem langen Abnutzungskrieg, den sie zu gewinnen gedenken. Beispiel Russland: Seit der Besetzung der Krim heißt es im Westen, Putin gehe das Geld aus, er könne sich seine Expansion in der Ukraine, in Syrien und anderswo nicht mehr lange leisten. Das stimmt so nicht. Putin führt seine Kriege mit viel geringerem Einsatz als etwa die USA unter Präsident George W. Bush. Der Low-Budget-War mit Stellvertreterarmeen, Billigsöldnern, Militärberatern und Luftwaffe hat sich als effizient erwiesen. Erdoğan hat sich diese Einsätze von Putin abgeschaut, siehe Libyen, Syrien, zuletzt Berg-Karabach. Kostspielige Wiederaufbau- und humanitäre Hilfsmaßnahmen, mit denen sich die NATO in Afghanistan herumschlägt, sind ohnehin nicht vorgesehen. Putin spart auch in der Covid-19-Krise. Die gewaltige Verschuldung, in die sich westliche Staaten begeben und die ihnen womöglich noch Jahrzehnte zu schaffen machen wird, diese Verschuldung macht Putin nicht mit. In der ersten Corona-Welle im Frühling 2020 gab er zwar den Arbeitnehmern wochenlang frei, aber ohne entsprechende Ersatzzahlungen an die Unternehmen auch nur zu erwägen. In der zweiten Corona-Welle begab er sich dann in ein Impfstoff-Wettrüsten mit westlichen Konzernen, verzichtete zuhause dabei aber auf einen weiteren Lockdown und nahm viele Covid-Tote billigend in Kauf. Putin spart für die Langstrecke. Seine Biografen Fiona Hill und Cliff Gaddy haben ihn als „survivalist“ beschrieben, der sich schon immer Netzwerke, Rüstkammern und Staatsfonds aufgebaut hat. Und wenn man auf die bemerkenswerte militärische Aufrüstung Ungarns während der Covid-Krise oder den Aufstieg der Türkei zur expansiven Militärmacht am östlichen Mittelmeer schaut, sieht man auch hier, dass das Beispiel Putin Schule macht: bei den Überlebenskünstlern.



Der zweite Grund für ihr gelassenes Abwarten liegt in den USA: Amerika ist für sie nicht für alle Zeiten verloren. Sie setzen darauf, dass ein Präsident Biden nur Episode sein wird. Er hat diese Wahl gewonnen, aber der neue Nationalist Trump hat mit 73 Millionen die größte Stimmenzahl verbucht, die je ein republikanischer Kandidat bei einer US-Wahl eingesammelt hat. Trump mag im Januar gehen, aber der Trumpismus bleibt. Millionen Amerikaner ziehen heute dem klassischen einigenden US-Patriotismus einen spaltenden, ja rassistischen amerikanischen Nationalismus vor. Dieser US-Nationalismus ist nur halb geschlagen, das Narrativ lebt weiter. Trumps glühende Anhänger erzählen sich Geschichten von Wahlbetrug und Stimmenklau. Viele wollen nicht das Land voranbringen, sondern einfach nur Biden scheitern sehen. Kein Kompromiss, kein Händereichen, keine parteiübergreifende Zusammenarbeit in der nationalen Covid-19-Krise mit hunderttausenden Toten. Trump hat mit strategischen Besetzungen die höchsten Gerichte in ihrem Sinne dauerhaft umfrisiert. Der nächste Nationalist könnte bei den Wahlen 2024 antreten. Putin, Erdoğan & Co. wären entzückt, ihn als Wahlsieger begrüßen zu dürfen.



Michael Thumann ist außenpolitischer Korrespondent der ZEIT.

Dieser Text beruht auf dem neuen Buch des Autors „Der neue Nationalismus. Die Wiederkehr einer tot- geglaubten Ideologie“ (Die Andere Bibliothek).

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 1, Januar-Februar 2021, S. 104-109

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