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01. Dez. 2006

Der Kulturkampf ist beendet

Kissinger berät Bush, Bush opfert Rumsfeld: politischer Herbst in Washington

Die Republikanische Partei erneuert sich, die Demokraten helfen mit

Werfen wir einmal noch einen Blick zurück ins Zentrum jener Macht, die die Welt erschütterte. Ihr ideologischer Flügel, der in seiner Haltung zur Bush-Regierung selbst zuletzt immer wieder zwischen „den Kurs halten“ und „Rückzug“ oder gar „cut and run“ schwankte, kommentiert das Wahlergebnis mit mehreren Stimmen. Im Zentralorgan jener revolutionären Bewegung, die einst unter dem Namen Neocons ihre Gegner in Angst und Schrecken versetzte, dem Weekly Standard vom 20. November, schreitet der Chefredakteur Fred Barnes zur Ehrenrettung des Präsidenten. Wie der Präsident binnen weniger Stunden mit Rumsfelds Rauswurf das Gesetz des Handelns wieder in die Hand nahm und die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit wieder an sich zog, bewundert Barnes – und verliert nicht ein Wort darüber, dass der Präsident damit vollzog, was selbst der Weekly Standard seit drei Jahren gefordert hatte.

Tod Lindberg entwirft in derselben Ausgabe hingegen einen „Selbsthilfeplan“ für die Republikanische Partei. Diese müsse sich bewusst werden, dass Karl Roves Strategie, die eigene Wählerklientel maximal zu mobilisieren, an ihre Grenze gestoßen sei. Die Ära der republikanischen Mehrheit sei abgelaufen. Lindbergs konkretester Rat: „Der einzige Ort, die Basis der Partei zu vergrößern, ist in der Mitte.“

In Sachen Irak würdigt Barnes, der Präsident habe „statt der Strategie den Strategen gewechselt“. Das ist dem -Herausgeber des Weekly Standard, Bill Kristol, gemeinsam mit Robert Kagan, ebenfalls in der Nummer vom 20. November, nicht genug. Wenn sie Bedenken hegen, dann nicht gegen den Krieg. Der Standard bleibt seiner Linie treu, auch wenn alle anderen zurückweichen. „Es bleibt eine Tatsache, dass Bush (unserer Ansicht nach völlig zu Recht) die Nation in einen Krieg geführt hat, um Saddam Hussein zu entfernen, und der Erfolg oder das Scheitern dieses Krieges werden entscheidend für die Erbschaft Bushs sein.“

Präventiv wenden sich Kristol und Kagan gegen die zu erwartenden Empfehlungen der Iraq Study Group unter Leitung von James Baker und Lee Hamilton. Nicht ein gesichtswahrender Rückzug dürfe das Ziel sein, sondern nur die Herstellung von Sicherheit im Land. Statt einer politischen fordern Kristol und Kagan eine militärische Lösung: „Um einmal etwas Neues zu wagen, sollten wir den Irakern erklären, dass die USA nicht beabsichtigten, sich zurückzuziehen, solange nicht die Aufständischen besiegt und die religiösen Milizen entwaffnet sind. Es ist genau die Illusion, eine politische Lösung sei inmitten der Gewalt möglich, die uns dorthin geführt hat, wo wir jetzt stehen.“ Den Plan zum militärischen Sieg hat Kagans Bruder Frederick bereits in der Ausgabe vom 13. November vorgestellt, Kristol und Kagan stehen dazu auch nach dem Wahlergebnis: Der neue Verteidigungsminister Bob Gates muss sich dem Rekrutierungsproblem der Streitkräfte stellen und 50 000 weitere Soldaten in den Irak senden, um Bagdad endlich zu sichern. In manchen Augenblicken glaubt der Leser, drei Jahre alte Ausgaben des Standard aufgeschlagen zu haben.

Robert Kagan hat kurz vor der Wahl auch sein neues Werk mit dem vielsagenden Titel „Dangerous Nation: America’s Place in the World from its Earliest Days to the Dawn of the Twentieth Century“ vorgelegt. In der New Republic vom 23. Oktober stellt der Autor, der mit seinen planetarischen Metaphern und philosophischen Begründungen der strategischen Differenz zwischen Europa und Amerika Berühmtheit erlangte, die Kernargumente seines Buches vor. Er spottet über die schönen Illusionen der Trans-atlantiker vom guten Amerika. Schon immer seien die USA eine expansive, imperialistische Macht gewesen, die im Innern nicht vor Sklaverei und ethnischer Ausrottungspolitik und nach außen nicht vor militärischen Interventionen zurückschreckte. Es kann keine ernsthafte Debatte über amerikanische Außenpolitik geben, ohne neben der Ausnahme Europa im Kalten Krieg die Regel in Lateinamerika und anderen Weltregionen zur Kenntnis zu nehmen. Der schonungslos offene Kagan steht dennoch bedingungslos auf Seiten der „revolutionären Macht“ USA. Denn diese allein blieb bei allem Versagen und allen Verbrechen dem liberalen Ideal verpflichtet, Freiheit in die Welt zu tragen.

Bauernopfer Rumsfeld

Die Zeiten neokonservativer Mediendominanz liegen erst kurz zurück. Jonathan Chait hat in der New Republic vom 23. Oktober Zeugnisse des Kultes um den nun zurückgetretenen Verteidigungsminister Rumsfeld zusammengetragen, die im Rückblick kaum mehr zu glauben sind. Midge Decter etwa, eine der Erzmütter des Neokonservatismus, pries Männlichkeit und Managergeschick des Feldherrn „wie ein Schulmädchen“, befindet Chait, und bis vor kurzem schienen sich die wenigsten Konservativen eingestehen zu wollen, dass ihr abgeklärter Held einer „halluzinatorischen Weltsicht“ erlegen war.

In dieses Umfeld gehört auch die über Bob Woodward an die Öffentlichkeit gedrungene Nachricht, dass Henry Kissinger zu Bushs gefragtesten Beratern zähle. Was mag der Überlebenskünstler Kissinger dem Präsidenten empfehlen? In zwei Artikeln, die noch kurz vor den Wahlen erschienen, spekulieren Rick Perlstein (New Republic vom 6. November) und Michael Wolff (Vanity Fair im Dezember) darüber. Beide kommen zum selben Ergebnis: Kissinger sei der einzige, der einigermaßen unbeschadet aus Vietnam hervorgegangen sei, weil er es verstanden habe, die Schuld auf alle anderen zu schieben. Diese Kunst sei es, die Bush nun am meisten nötig habe. In Perlsteins Worten: Kissinger biete Bush „Therapie als Strategie“. Wolff zufolge sind nach den jüngsten Rückzugsbewegungen im konservativen Lager nur drei Schuldige übrig: Rumsfeld, Cheney und Bush. Rumsfelds unmittelbaren Rücktritt erwartete Wolff bereits, der allerdings vermutet, Kissingers Rat könnte noch weitergehen: In einem letzten Versuch, sein historisches Vermächtnis zu retten, könnte Bush auch Cheney austauschen, der in seinen düsteren Stimmungen vielleicht sogar bereitwillig das Opfer auf sich nehmen würde. An seine Stelle könnte diesem Szenario zufolge John McCain treten, der den Republikanern wenigstens die Präsidentschaft erhalten soll.

Cheney bleibt das größte Rätsel jener Macht, dem Joan Didion in der New York Review of Books vom 5. Oktober auf den Grund geht. Ihr Versuch, Cheney zu verstehen, setzt Stück um Stück das kohärente Bild eines Politikers zusammen, dem als erstem Vizepräsidenten verfassungsrechtliche Züge eines Ko-Staatsoberhaupts verliehen wurden. Die unbeschränkte Ausweitung der Exekutivgewalt ist ein Motiv, das seine Karriere durchzieht. Jedes parlamentarische Begehren nach Mitsprache erschien selbst dem Abgeordneten Cheney als eine Beleidigung des Präsidenten. Didion zufolge kann kein Gesetz und keine internationale Konvention in Cheneys Sicht denjenigen binden, dem die Verfassung die höchste Machtstellung und das Oberkommando über die Streitkräfte zuspricht. Cheney und sein alter Freund und Bundesgenosse Rumsfeld treten bei Didion als politische Strategen auf, die „immer wussten, wie sie auf die Welle aufspringen und sie reiten können“ – und das früher als alle anderen.

Didion, deren Cheney-Analyse unbedingt lesenswert ist, weist auf ein Mittel hin, mit dem die Exekutive von Kontrolle und Beschränkungen befreit werden soll, eine verfassungsrechtliche Interpretation, die als „unitary executive theory“ bekannt ist. Ihre Ursprünge lassen sich auf das Umfeld Cheneys und Rumsfelds in den Nixon- und Ford-Regierungen zurückverfolgen. Wie die Juristen des Office of Legal Counsel im Justizministerium diese Doktrin entwarfen und weiterentwickelten, erläutert Jeffrey Rosen in der New Republic vom 24. Juli. Antonin Scalia, heute Richter am Supreme Court, war daran ebenso beteiligt wie sein Kollege Samuel Alito. Doch erst die Bush-Regierung formte aus einem juristischen Instrument, das die Gewalt des Präsidenten im Verwaltungsbereich der Exekutive gegenüber einer allzu selbstbewussten Legislative verteidigen sollte, die Begründung unkontrollierter Präsidentenmacht im Kriegsfall. Cheney ist die politische Schlüsselfigur in diesem juristischen Deutungskampf. Auch hinter der Radikalisierung der „unitary executive theory“ nach dem 11. September 2001 standen seine Protegés, und der Krieg gegen Terror diente als Begründung, die unbegrenzte Präsidentenmacht über Kriegshandlungen im Ausland hinaus auch auf alle Maßnahmen der inneren Sicherheit auszuweiten. Erst mit der Entscheidung des Supreme Court im Fall Hamdan in diesem Sommer wurde diese Entwicklung gebremst.

Der gute Konservative

Als Gegenbild zu Cheney, der Verkörperung des Bösen, inszenieren Amerikas Medien John McCain als den guten Konservativen. Das Magazin Esquire widmete ihm gar das Titelbild seiner August-Ausgabe, in der Chris Jones den Präsidentschaftskandidaten auf vielen Seiten vorstellen und feiern durfte. In der New Republic vom 16. Oktober findet sich ein intimes Porträt McCains, das von größter Bedeutung werden könnte. John B. Judis, einer der großen liberalen Autoren der USA, weist darin zwischen den Zeilen dem ihm sympathischen Senator den Weg zur Präsidentschaft. Dahinter verbirgt sich auch das Unbehagen vieler Demokraten gegenüber einer eigenen Kandidatin Hillary Clinton (der Joshua Green im Atlantic Monthly vom November ein ausführ-liches Porträt widmet, das sorgfältig ihre laut Green keineswegs bereits so sicheren Chancen auf die Kandidatur abwägt). Viele Liberale, auch demokratische Funktionäre, die ungenannt bleiben wollen, so Judis, „hätten lieber jemanden, der für seine Ansichten einsteht, als jemanden, der seine Segel immer nach dem Wind setzt“.

Also eröffnet Judis die Kampagne der Demokraten für McCain. An dessen Führungseigenschaften besteht kein Zweifel, er hat immer die überparteiliche Zusammenarbeit gesucht und war als Opposition gegen Bush manchmal effektiver als die Demokraten. Wäre da nicht ein Problem: McCain war nicht nur für den Irak-Krieg, sondern verteidigt diesen bis heute. Aber auch hier gibt es eine Lösung: Judis zeigt, unter dem Vorwand, das politische Denken des Senators analysieren zu wollen, wie McCain seinen „Rückzug“ aus dem Irak begründen könnte, ohne seine Glaubwürdigkeit zu verlieren. Zunächst erklärt Judis, McCain dafür zu bewundern, dass er immer wieder bereit gewesen sei, dazuzulernen und seine Meinung zu ändern. Dann arbeitet Judis die Vietnam-Erfahrung als Kern der außenpolitischen Haltung des Senators heraus. So zeigt sich, dass McCain lange Zeit ein vorsichtiger Realist war, der 1983 etwa zum Missfallen seiner und der Demokratischen Partei einen schrittweisen Rückzug aus dem Libanon forderte. Erst 1998 trat er als vorbehaltloser Unterstützer der humanitären Intervention im Kosovo auf. McCains Wandel vom Realisten zum außenpolitischen Neokonservativen, der an Tyrannensturz, Demokratie-export und Nation Building glaubt, ereignete sich Judis zufolge im Verlauf der neunziger Jahre. Der Sieg gegen den Irak 1991 heilte McCain von seinem Vietnam-Trauma, und mit der Leitung des International Republican Institute, die er 1993 übernahm, entwickelte McCain ein starkes Interesse für Menschenrechte und Demokratieförderung. Sein Schlüsselerlebnis war jedoch, wie beim deutschen Außenminister, Srebrenica. Da die USA sich „als die stärkste Macht zum Guten in der menschlichen Geschichte“ erwiesen haben, plädierte er nun für ein „rogue-state rollback“.

Auch wenn Judis noch keinen Gesinnungswandel in Sachen Irak feststellen kann, weist er darauf hin, dass gerade Vietnam das Vehikel sein könnte, über das McCain eine neue Irak-Politik begründen könnte. Und „gerade als außenpolitischer Falke hätte er die Glaubwürdigkeit, eine diplomatische Alternative zur Katastrophe zu vertreten, die die Bush-Regierung im Nahen Osten angerichtet hat“, glauben Judis und Demokraten wie Gary Hart. Und dann würden ihn, ihren liebsten Konservativen, auch Liberale in den USA wählen.

McCain wäre als alter Gegner der christlichen Rechten auch ein Garant dafür, dass der evangelikale Einfluss auf die US-Regierung abnehmen würde. Dass die Bedeutung der Evangelikalen jedoch weit überschätzt wurde, zeigt überzeugend Leo Ribuffo in Dissent (Herbst 2006). Die christliche Rechte erfüllte vielmehr die Bedeutung einer Kulturkampftruppe in den Diensten einer Regierung, der jeder willkommen war, der ihrer Machterhaltung und -ausweitung diente.

Wieso es so kommen musste, erläutert Alan Wolfe in der New Republic vom 6. November. So nahe wie Wolfe ist wohl noch kein Außenstehender der evangelikalen Seele gekommen. Wer wissen will, wie eine politische Bewegung denkt, der Gefühle und Charakter wichtiger sind als Argumente und Fakten, wird auf Wolfe nicht verzichten können. Auch Evangelikale, die sich enttäuscht aus dem Weißen Haus zurückgezogen haben, blicken weiter mit Ehrfurcht auf den Präsidenten, der wie sie „Jesus angenommen hat“ und darum „ein guter Mensch“ sein muss. (Das eröffnet auch für christliche Rechte die Möglichkeit, am Ende einmal die weniger religiös eingestimmten Rumsfeld und Cheney als Schurken zu sehen.) Wolfe betont, die evangelikale Rechte sei niemals eine ernste Bedrohung der liberalen Demokratie gewesen. In den Themen des NovemberWahlkampfs 2006 habe sich bereits ihr Niedergang abgezeichnet. Die Gruppe ist zu klein, um dauerhaft alle Aufmerksamkeit der Republikaner auf sich zu bündeln. Die Zeit des Kulturkampfes ist zu Ende.

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 12, Dezember 2006, S. 106‑110

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