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29. Juni 2018

Der kommende Krieg

In der Konfrontation mit dem Iran hat Israel neue Verbündete

Israel sieht den Iran als aggressive und expansive Macht, die sich an seinen Grenzen breit macht. Erstmals kam es im Mai zu einer direkten Konfrontation zwischen den Erzfeinden. Premier Netanjahu kann aufgrund des sich ausweitenden Konflikts zwischen Sunniten und Schiiten nun auf seine Verbündeten zählen: die USA und neuerdings Saudi-Arabien.

Für ein paar Stunden hielt die Welt den Atem an. Es waren nur 20 Geschosse, die die iranischen Revolutionsgarden am 10. Mai von Syrien aus auf Israel abgefeuert hatten. Doch es war das erste Mal, dass sie es selbst taten und nicht die libanesische Schiitenmiliz Hisbollah vorschickten. Israel, höchst alarmiert, schlug umgehend und hart zurück. Die Luftwaffe bombardierte mit 28 Kampffliegern nahezu alle iranischen Militäreinrichtungen in Syrien. Es war die erste direkte Konfrontation der beiden Regionalmächte des Nahen und Mittleren Ostens, die einander als Erzfeinde und Bedrohung empfinden.

Eine militärische Eskalation ist schon oft prophezeit worden. Bereits vor 13 Jahren titelte der Spiegel „Der nächste Krieg?“ Dutzende Experten und Journalisten fürchten seit mindestens 15 Jahren, dass Israel Atomanlagen im Iran bombardieren könnte, um zu verhindern, dass das Mullah-Regime es schafft, eine Atombombe zu entwickeln. 2002 war bekannt geworden, dass der Iran Atomanlagen in Natanz und Arak vor den Inspekteuren der Internationalen Atom­energiebehörde (IAEO) verheimlicht hatte. Schon 2005 sagte Mohammed El Baradei, damaliger Chef der IAEO, über die Möglichkeit einer iranischen Atombombe: „Sie haben ohne Zweifel das Know-how und die industrielle Infrastruktur.“

Derzeit haben wir es nicht nur mit einer neuen Runde der üblichen Bedrohungsszenarien zu tun. Die politischen Rahmenbedingungen sind heute völlig anders als noch vor wenigen Jahren. Der Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern dominierte über Jahrzehnte die Wahrnehmung; es war immer Israel gegen den Rest der Region. Wie unvollständig diese Analyse war, hat sich erst in den vergangenen sieben Jahren gezeigt. Die Aufstände in den arabischen Ländern und vor allem der Krieg in Syrien haben einen Konflikt neu auf­flammen lassen, der seit Jahrhunderten schwelt: der zwischen ­Schiiten, als deren Schutzmacht der Iran sich sieht, und den Sunniten, die zu verteidigen Saudi-Arabien vorgibt. Diese Konfrontation ist so brutal und hat inzwischen so viele Opfer gefordert – mindestens eine halbe Million Tote allein in Syrien –, dass der Nahost-Konflikt im Vergleich fast schon als gemäßigt erscheint.

Israel ist nicht mehr der Hauptfeind

Hisbollah-Milizen geben längst offen zu, dass für sie die Bedrohung durch sunnitische Extremisten, die dem IS oder Al-Kaida nahe stehen, größer sei als durch den jüdischen Staat. Israel ist nicht mehr der Hauptfeind. „Für mich ist der Kampf in Syrien wichtiger“, sagt ein Hisbollah-Kommandeur mit dem Kampfnamen Abu Dschihad. Die sunnitischen Gotteskrieger „sind die Feinde unserer Religion, sie sind gegen jeden, sie schlachten jeden ab, sie sind schlimmer als die Israelis.“ Um zu verhindern, dass sie auch in den Libanon kämen und die Schiiten dort angriffen, bliebe ihnen nichts anderes übrig, als sie in Syrien zu bekämpfen. Es sei eine Art Präventivschlag zur eigenen Verteidigung. Wer hätte je gedacht, dass ein Hisbollah-Kämpfer einmal so über Israel reden würde?

Saudi-Arabien sieht das ähnlich, wenn auch unter umgekehrten Vorzeichen. Der starke Mann im Königreich, Kronprinz Mohammed bin Salman, empfindet Israel auch nicht mehr als Inbegriff des Bösen wie noch vor einigen Jahren üblich. Eine zarte, aber nicht zu übersehende Annäherung zwischen den beiden theoretisch verfeindeten Staaten ist in vollem Gange. Es hilft, dass sie denselben Feind haben: den Iran. Die Regierungen in Jerusalem und Riad wollen gleichermaßen verhindern, dass Teheran seinen Einfluss in der Region ausweitet und es den Iranern gelingt, eine Atombombe zu entwickeln. Beide halten nichts von dem Atomabkommen, das Trump jüngst ohne Not aufgekündigt hat. Kein Zweifel: Sollte Israel die iranischen Atomanlagen attackieren, Saudi-Arabien würde das, direkt oder indirekt, unterstützen. Es scheint nicht einmal mehr ausgeschlossen, dass sie gemeinsame Sache machen könnten.

Saudi-Arabien führt nicht nur in Jemen und in Syrien bereits Stellvertreterkriege gegen den Iran. Der junge Kronprinz hat 2017 sogar den Bruderstaat Katar von heute auf morgen zum Paria erklärt und komplett isoliert, weil das Golf-Emirat gute Beziehungen zu Teheran unterhält. Jüngst hat der Bannstrahl aus Riad auch die deutsche Wirtschaft getroffen. Deutsche Unternehmen sollen bei der Auftragsvergabe nicht mehr berücksichtigt werden, vor allem weil Berlin das Atomabkommen mit dem Iran verteidigt und aufrechterhalten will.

In Israel regiert ein Mann, der den Iran schon immer als Hauptfeind und den israelisch-arabischen Konflikt als Nebenkriegsschauplatz angesehen hat. Ministerpräsident Benjamin Netanjahu warnt die Welt seit seiner ersten Legislaturperiode als Regierungschef in den neunziger Jahren vor dem Iran. „Heute sehen wir, dass er richtig lag“, sagt Zvi Hauser, viele Jahre Netanjahus Kabinettsminister, Medienberater und Vertrauter. „Wenn der Iran es schafft, eine Atombombe zu entwickeln, wird Saudi-Arabien gleichziehen wollen und ebenso die Türkei und Ägypten.“ Diese instabile Region wäre dann mit technologischen Waffen des 21. Jahrhunderts ausgestattet, die die Welt zerstören könnten. „Deswegen ist es das Wichtigste im Moment, sich auf den Iran zu fokussieren“, so Hauser.

Unter fokussieren versteht Netanjahu allerdings nicht nur diplomatische Aktivitäten und die thea­tralische Enthüllung von Regalen mit Geheimdienstmaterial zum Iran. Der Likud-Chef betont immer wieder, dass es mit den Staaten der Region in ihrem jetzigen undemokratischen und unreformierten Zustand keinen echten Frieden geben könne. Deshalb müsse Israel auf Abschreckung setzen. „In absehbarer Zukunft ist der einzige Frieden in der Region unter den Arabern selbst sowie zwischen Arabern und Juden ein Frieden der Abschreckung“, schrieb er in seinem vor 25 Jahren erschienenen Buch „A Place Among the Nations“, eine Art politisches Manifest des rechtskonservativen Politikers. Heute gilt dies für ihn mehr denn je.

Netanjahu vertritt in der Iran-­Frage aber keine explizit rechtslastige Position. Die große Mehrheit der Israelis teilt seine Einschätzung und fürchtet nichts so sehr wie das Mullah-Regime. Die ständigen Vernichtungsdrohungen, die Rufe „Tod Israel“ und „Tod Amerika“ gehören zum Standardrepertoire jeder staatlich gelenkten Veranstaltung. Israel wird als „Krebsgeschwür“ bezeichnet, das es zu entfernen gelte. Erst Mitte Mai drohte ein einflussreicher Ajatollah, Ahmad Chatami, beim zentralen Freitagsgebet in Teheran, die israelischen Städte Tel Aviv und Haifa auszulöschen. Eine Nation, die bereits einen Genozid erlitten hat, muss solche Drohungen zwangsläufig ernst nehmen.

Israel ist ein winziges Land. Selbst wenn man die besetzten Gebiete mitzählt, ist der Iran 55 Mal größer. Eine einzige Atombombe würde reichen, um das Land komplett zu zerstören. Ein Gegenschlag wäre dann unmöglich. Deshalb kann man sich aus israelischer Sicht keinen Fehler leisten und kein Risiko eingehen.

Die Regierung in Jerusalem sieht den Iran als aggressive und expansive Macht, die sich an ihren Grenzen breit macht: Im Norden durch den Verbündeten Hisbollah, im Gaza-Streifen durch die Hamas, die – obwohl sunnitisch – mit Teheran ein Zweckbündnis eingegangen ist (das ihrem Image übrigens in dem Maße schadet, wie der sunnitisch-schiitische Konflikt sich ausweitet), und nun auch noch iranische Stellungen in Syrien. Dass der Feind immer näher kommt und die direkte Konfrontation sucht, wollen weder das Militär noch die Politik hinnehmen.

Iranische Ängste

Die Iraner dagegen sehen sich zu Unrecht als Aggressoren gebrandmarkt. Sie argumentieren: Haben wir jemals einen Krieg angefangen? War es nicht der irakische Diktator Saddam Hussein, der uns 1980 überfallen und in einen achtjährigen Krieg gezwungen hat? Haben wir jemals einen Regimewechsel erzwungen? War es nicht die CIA, die den 1951 gewählten Ministerpräsidenten Mohammed Mossadegh stürzte, weil er die Ölindustrie verstaatlichen wollte und anschließend den verhassten und unterdrückerischen Schah wieder einsetzte? Und wie glaubwürdig sind die Forderungen nach Demokratie und Menschenrechten, wenn der Westen gleichzeitig Saudi-Arabien hofiert, ein Land, das den Dschihadismus weltweit gefördert hat?

Vor allem finden es die Iraner ungerecht, wie sich die Weltgemeinschaft zum Atomprogramm verhält. Es geht nicht nur darum, dass der Iran das 2015 geschlossene Atom­abkommen eingehalten hat und nun trotzdem bestraft wird. Es geht auch um Grundsätzliches wie um die Ungleichbehandlung, die der Atomwaffensperrvertrag (NVV) vorsieht: Nur die fünf Atommächte dürfen nukleare Waffen besitzen. Natürlich weiß man auch im Iran, dass der NVV ein globales Wettrüsten verhindern soll. Und er verpflichtet auch die Atommächte zur Abrüstung; doch dieser Verpflichtung sind sie nicht nur nicht nachgekommen, sie haben teilweise ihre Arsena­le sogar noch modernisiert.

Hinzu kommt, dass die Staaten, die den NVV unterschrieben haben, benachteiligt sind gegenüber jenen, die sich multilateralen Regeln entziehen. Allen voran: Israel. Der jüdische Staat besitzt Atomwaffen, auch wenn er es nicht offiziell bestätigt hat. Er hat zwar nie damit gedroht, andere Staaten auszulöschen oder auch nur, diese Waffen einzusetzen. Dennoch stört es Teheran ungemein, in diesem Punkt dem Erzfeind unterlegen zu sein. Denn in der eigenen Wahrnehmung fühlt sich der Iran bedroht – von der sunnitischen Mehrheit in der islamischen Welt, von den dschihadistischen Terrorgruppen IS und Al-Kaida, für die Schiiten schlimmer sind als Ungläubige, sowie von den USA und natürlich von Israel.

Tatsächlich sind die iranischen Ängste nicht ganz unbegründet. Besonders in Washington strebt man unverhohlen einen Regimewechsel an. Und in dem aufgekündigten Atomabkommen steckt enorm viel Eskalationspotenzial. Gelingt es den Europäern nicht, die von den USA angekündigten „härtesten Sanktionen ­aller Zeiten“ abzumildern, könnte auch Teheran den Deal platzen lassen, vielleicht sogar aus dem NVV austreten. Einer ungebremsten Urananreicherung stünde dann nichts mehr im Wege. Angekündigt hat Teheran es bereits, und Israel hat prompt mit Angriffen gedroht.

Selten war die Wahrscheinlichkeit eines Militärschlags gegen das iranische Atomprogramm größer als heute. Israel wird eine ständige Militärpräsenz der Revolutionsgarden in Syrien, unweit der eigenen Grenze, nicht dulden; ebenso wenig die Produktion von hochangereichertem, waffenfähigem Uran. Gleichzeitig hat Netanjahu erstmals seit Langem die USA auf seiner Seite und auch einen Teil der sunnitischen Staaten, allen voran Saudi-Arabien. Eine vereinte Front gegen den Iran – eine solche Konstellation hat es bisher noch nicht gegeben. Netanjahu könnte es als einmalige historische Chance sehen anzugreifen und das iranische Atomprogramm ein für allemal auszuschalten. Schließlich ist Israel genau das auch schon einmal im Irak gelungen: 1981 zerstörte seine Luftwaffe den Osirak-Reaktor und damit das Nuklearprogramm Saddam Husseins.

Im Fall des Iran hat Israel jedoch ein Problem, das zu lösen den Generälen, nach allem, was man weiß, bisher nicht gelungen ist. Eine der beiden wichtigsten iranischen Atomanlagen zur Urananreicherung liegt unterirdisch: Fordo, etwa zwei Autostunden von der Hauptstadt entfernt. Die Anlage, die bis 2009 verheimlicht wurde, haben die Iraner 80 Meter tief in einen Berg hineingebaut. Selbst bunkerbrechende Waffen könnten sie Experten zufolge wahrscheinlich nicht komplett vernichten, höchstens die Zugänge zerstören, um das Programm eine Zeitlang zurückzuwerfen.

So oder so scheint es sehr schwierig, eine nukleare Bewaffnung des Iran abzuwenden, solange der Wille und das Know-how vorhanden sind. Vor diesem Hintergrund wird auch deutlich, warum aus amerikanischer Sicht ein Regimewechsel so attraktiv erscheint. Und genau aus demselben Grund würde das Mullah-Regime gerne in der Lage sein, sich nuklear zu bewaffnen oder sich binnen kurzer Zeit bewaffnen zu können. Zu den Atommächten zu gehören, dem Club der Unantastbaren, wäre eine äußerst zuverlässige Lebensversicherung.

Israel, die Heim- und Zufluchtsstätte der Juden in aller Welt, wird unter keinen Umständen zulassen, dass auch nur die Gefahr eines neuen Völkermords entsteht. Netanjahus Besuch bei Bundeskanzlerin Angela Merkel Anfang Juni hat bei allen Differenzen klar gemacht, dass man sich in diesem Punkt einig ist – im Streit um das Atomabkommens geht es lediglich darum, ob es der richtige Weg zum gemeinsamen Ziel ist.

Deutschland und Europa könnten schnell unter Zugzwang geraten, wenn es um das Überleben Israels geht. Der Krieg gegen den Iran, über den seit Jahren geredet wird, könnte nun tatsächlich kommen.

Silke Mertins befasst sich seit 25 Jahren mit dem Nahen Osten und war langjährige Korrespondentin für die NZZ am Sonntag und die Financial Times Deutschland.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 4, Juli-August 2018, S. 71 - 75

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