Buchkritik

01. Nov. 2014

Im Bann des Dschihad

Neuerscheinungen zu islamistischem Terrorismus und dem Aufstieg des IS

Irak, Syrien, Afghanistan: Lange fanden diese Länder nur noch in Kurzmeldungen statt. Der Aufstieg des „Islamischen Staates“ (IS) traf die westliche Öffentlichkeit unvorbereitet. Zwei neue Bücher erklären den Erfolg der Extremisten, was junge Deutsche in den Dschihad ziehen lässt und warum Europa mit einem Anschlag rechnen muss.

Als im Juni die irakische Großstadt Mossul in die Hände der Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) fiel und das ganze Ausmaß der Katastrophe im Irak und in Syrien sichtbar wurde, reagierte die westliche Öffentlichkeit völlig überrascht. Denn der Irak war seit Jahren vom Radar verschwunden; selbst Syrien und Afghanistan sind nur noch Randnotizen gewesen.

Zwei herausragende Neuerscheinungen erhellen nun die Hintergründe des IS-Eroberungsfeldzugs, der die Welt nachhaltig verändern wird. Guido Steinberg, Nahost- und Terrorismusexperte der SWP, beschreibt die Entstehung der islamistischen Bewegung bis hin zu den jüngsten Entwicklungen in Syrien und im Irak. Und Patrick Cockburn von der britischen Zeitung Independent erzählt die Geschichte aus der Perspektive eines Korrespondenten vor Ort.

Die Stärke des Islamwissenschaftlers Steinberg sind nicht allein seine guten Arabischkenntnisse, die ihm direkten Zugang zu den Originalquellen der dschihadistischen Literatur und zum Propagandamaterial ermöglichen. Er ist zugleich regelmäßig als Gutachter für die Bundesstaatsanwaltschaft in Terrorismusverfahren tätig. Steinberg kennt daher besser als jeder andere die Vernehmungsprotokolle und Details der Anschlagsversuche, etwa die des „Sauerland-Komplotts“ und des „Kofferbombers“. Er gehört damit zu den sehr wenigen ernstzunehmenden Terrorismusexperten in Deutschland.

So einfach war Dschihad noch nie

Wer kannte vor wenigen Monaten schon den Islam-Konvertiten Denis Cuspert? Und doch ist der deutsch-ghanaische Ex-Rapper aus Berlin-Kreuzberg heute im deutschsprachigen Raum das wichtigste Aushängeschild des IS. In Propagandafilmen mit blumigen Titeln wie „Aus der Dunkelheit ans Licht“ ruft er zum Kampf im Namen des „Islamischen Staates“ auf. Hunderte junger Europäer sind diesem und anderen Aufrufen gefolgt. Mindestens 450 sind es derzeit laut Verfassungsschutz allein aus Deutschland, viele davon frisch übergetretene Muslime wie Cuspert selbst.

Steinberg schildert, wie sich die dschihadistische Szene in den vergangenen 15 Jahren verändert hat. Vor dem 11. September 2001 gehörten ihr typischerweise ausländische Studenten aus der arabischen Welt an, wie der Ägypter Mohammed Atta und seine Mitverschwörer aus der ersten Hamburger Zelle, die als Piloten die Flugzeuge in die New Yorker Zwillingstürme lenkten. Im Jahrzehnt darauf erlebte der Terrorismus eine Internationalisierung: Dschihadistische Organisationen sind mittlerweile nicht mehr allein von Arabern dominiert. Auch Südasiaten, etwa aus Pakistan, Afghanistan, Tschetschenien und Usbekistan, mischen inzwischen mit. Bei der Rekrutierung in Deutschland, die Steinberg ausführlich und aufschlussreich erläutert, spielen insbesondere usbekische Extremistenorganisationen eine wichtige Rolle.

Neben dieser Internationalisierung hat es noch ein anderer Umstand deutschen Extremisten Steinberg zufolge sehr erleichtert, in den Kampf zu ziehen: Die Schlachtfelder der Dschihadisten sind heute viel leichter zu erreichen. Die erste Generation wollte vor allem nach Tschetschenien. Weil die Kampfzonen dort kaum zugänglich waren, entschieden sich viele der verhinderten Krieger für das pakistanische Grenzgebiet zu Afghanistan. Aber selbst dorthin zu gelangen erforderte eine aufwändige Reiselogistik.

Ganz anders der Krieg in Syrien und im Irak. Der Dschihadist aus Deutschland kann eine Neckermann-Reise in die Türkei buchen, mit dem Personalausweis einreisen und sich dann nach Syrien oder Irak absetzen. So einfach war Dschihad noch nie.

Angesichts der enorm gewachsenen Dschihadistenszene in Deutschland ist Steinbergs Einschätzung der deutschen Aufklärungsfähigkeit erschreckend: Die Nachrichtendienste sind bis heute, 13 Jahre nach 9/11, ihren Aufgaben nicht gewachsen. Ohne die Amerikaner hätte es womöglich bereits mehrere Anschläge gegeben. „In mindestens zwei wichtigen Fällen stammten die ersten Informationen von US-Behörden.“

Die Bundesrepublik braucht stärkere Geheimdienste, lautet Steinbergs dringender Appell an die Politik. Der IS ist entschlossen, das Erbe Osama Bin Ladens anzutreten. Um Al-Kaida endgültig in den Schatten zu stellen, braucht die Terrormiliz einen großen Anschlag in den USA oder Europa, warnt Steinberg. „Deutschland sollte nicht auf den ersten großen Terroranschlag hierzulande warten, bis es seine Sicherheitsarchitektur auf den Stand bringt, den die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts notwendig machen.“ Solche Forderungen sind nach dem NSA-Abhörskandal nicht gerade populär. Aber Steinberg mangelt es nicht an Mut, gegen den Mainstream Stellung zu beziehen. So lobt er etwa die amerikanischen Drohnenangriffe als „das vielleicht wirksamste Instrument im Kampf gegen das Epizentrum des Dschihadismus in Pakistan“.

Vernichtend fällt Steinbergs Urteil über den Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr aus. Deutschland sei zum „schwächsten Glied in der Kette der großen Truppenkontingente“ geworden – und damit zum idealen Ziel für Terroranschläge auch im Land selbst.

Steinbergs Buch ist weit mehr als eine Darstellung der deutschen Dschihadistenszene. Wer bei den Debatten um die Verschärfung der Gesetze gegen Extremisten und einen Bundeswehreinsatz in Syrien oder im Irak mitreden will, für den ist Steinbergs Analyse unverzichtbar.

Mit Samthandschuhen

Weniger an Fachleute gerichtet ist das Buch des Journalisten Patrick Cockburn. Seine elegant geschriebene Analyse fasst auf knapp 150 Seiten alles zusammen, was außenpolitisch interessierte Leser über den Konflikt in Syrien und im Irak wissen müssen.

Wer weiß in Europa schon, dass der IS 2013 Einbrüche in eine Vielzahl von Gefängnissen unternommen hat, darunter auch in Abu Ghraib, und dort mindestens 500 Gefangene befreit hat? Oder dass ausgerechnet die Stadt Falludscha, von US-Truppen unter hohen Verlusten 2004 (wieder) unter ihre Kontrolle gebracht, von den Truppen des IS bereits im Januar 2014 eingenommen wurde? Seitdem ist es den irakischen Sicherheitskräften nicht gelungen, die nur 50 Kilometer von Bagdad entfernte Stadt zurückzuerobern. Das zeige die „wirkliche Schwäche“ der Sicherheitskräfte im Irak, konstatiert Cockburn.

Einen Grund hat der Autor schnell ausgemacht: Korruption. Um einen Job bei der Armee oder Polizei zu bekommen, müsse ein Bewerber bezahlen. Dieses Geld versuche er wieder hereinzubekommen – durch die Erhebung von Wegezöllen an Straßensperren und dergleichen. Ein irakischer Parlamentarier, den Cockburn zitiert, sagt, die Armeeangehörigen seien „Investoren, keine Soldaten“. Cockburn hat zudem bei seinen Recherchen erfahren, dass die Truppen teilweise ohne ausreichend Munition, Treibstoff und Verpflegung in die Schlacht geschickt werden, weil ihre Vorgesetzten das Geld dafür in der eigenen Tasche verschwinden lassen.

Cockburn zufolge funktioniert der Kampf gegen den Terror deshalb nicht, weil zwei Hauptakteure mit Samthandschuhen angefasst werden: Saudi-Arabien und Pakistan, „die zwei Länder, die den Dschihadismus als Credo und als eine Bewegung gepflegt haben“. Und auch der westliche Verbündete Katar rüste bis heute Oppositionsgruppen auf, die mit dschihadistischen Organisationen wie der Al-Nusra-Front – ein mit dem IS inzwischen verfeindeter Al-Kaida-Zweig – zusammenarbeiten.

Wirkliche Lösungen für den Umgang mit dem Aufstand in Syrien und der Eskalation in der Region können beide Autoren nicht anbieten. Cockburn zählt die ganze Bandbreite westlicher Verfehlungen auf, und Steinberg warnt: „Direkte militärische Interventionen wird man möglichst vermeiden müssen.“ Fest steht in jedem Fall, dass die Lage im Irak, wo eine US-geführte Koalition einmarschierte, ebenso katastrophal aussieht wie in Syrien, wo der Westen nur tatenlos zuschaut.

Guido Steinberg: Al-Qaidas deutsche Kämpfer. Die Globalisierung des islamistischen Terrorismus. Hamburg: Edition Körber-Stiftung 2014, 464 Seiten, 18,00 €
Patrick Cockburn : The Jihadis Return. ISIS and the New Sunni Uprising. New York: OR Books 2014, 150 Seiten, 15,00 $

Silke Mertins ist Deutschland- Korrespondentin der NZZ am Sonntag. Zuvor war sie lange Jahre Korrespondentin der Financial Times Deutschland in Jerusalem.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 6, November/Dezember 2014, S. 135-137

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