Weltspiegel

28. Okt. 2024

Der kommende kalte Krieg mit dem Iran

Für die Zukunft des Nahen Ostens sind viele Szenarien denkbar. In allen bleibt die Region spannungsgeladen – und in ­keinem spielt Europa derzeit eine Rolle.

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Bild:  Eine israelische Flagge wird bei Protesten in Teheran am 18. Oktober 2023 verbrannt.
Der Konflikt zwischen Israel und dem Iran könnte sich noch verschärfen, wenn sich die USA weiter aus der Region zurückziehen: Eine israelische Flagge wird bei Protesten in Teheran am 18. Oktober 2023 verbrannt.
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Wenn Beobachter einmal auf den 7. Oktober 2023 und das anschließende Jahr im Nahen Osten zurückblicken, werden sie nicht nur den Angriff der Hamas und den Krieg in Gaza, den Beschuss Israels durch die Hisbollah und den im September 2024 beginnenden Libanon-Krieg sowie die direkten Attacken des Iran auf Israel im April und Oktober 2024 betrachten. Vielmehr spricht einiges dafür, dass sie diesen Zeitraum als Epochenjahr definieren werden, in dem für den kundigen Beobachter schon länger zu bemerkende Entwicklungen für alle sichtbar wurden und die Geschichte der Region eine ganz neue Wendung nahm. 

Es könnte als das Jahr angesehen werden, in dem das Zeitalter der US-Hegemonie im Nahen Osten endete und durch eine stark multipolar geprägte Ordnung abgelöst wurde, in der Regionalstaaten und auswärtige Mächte noch rücksichtsloser als zuvor um Macht und Einfluss ringen. 


Trends der vergangenen Jahre 

Will man einen Eindruck davon bekommen, wie sich der Nahe Osten in Zukunft entwickeln könnte, empfiehlt es sich, zunächst einen Blick auf die großen Linien seiner Geschichte in den vergangenen ein bis zwei Jahrzehnten zu werfen.

Die vielleicht wichtigste Entwicklung war der Aufstieg des Iran zur Regionalmacht, die immer offener auf eine Revision der regionalen Machtverhältnisse hinarbeitete. Um zur nahöst­lichen Hegemonialmacht aufzusteigen, setzte die Islamische Republik auf ein militärisches Atomprogramm, die Aufrüstung mit Raketen, Marschflugkörpern und Drohnen sowie auf eine Allianz staatlicher und nichtstaatlicher Akteure, die sich „Achse des Widerstands“ nennt. Zu den Verbündeten zählen unter anderem die libanesische Hisbollah, die jemenitischen Huthis und die palästinensische Hamas, die gemeinsam mit den iranischen Revolutionsgarden die USA zum Rückzug aus der Region zwingen und Israel zerstören wollen. Eine besondere Dynamik entwickelte sich ab 2015, als Teheran trotz des gerade mit den USA geschlossenen Atomabkommens in den Kriegen im Irak, in Syrien und im Jemen in die Offensive ging. 

Die vielleicht wichtigste Entwicklung im Nahen ­Osten war der Aufstieg des Iran zur Regionalmacht

Die zweite prägende Entwicklung war der Rückzug der USA aus dem Nahen Osten. Dieser Prozess begann vor bald zwei Jahrzehnten, als viele Amerikaner immer kritischer auf die scheinbar endlosen Kriege im Irak und in Afghanistan schauten. So grundverschieden die US-Präsidenten Barack Obama, Donald Trump und Joe Biden auch waren: Sie alle einte der Wunsch, die kostspieligen und erfolglosen Engagements in der Region möglichst rasch zu beenden und die freiwerdenden Ressourcen auf den kommenden Großkonflikt mit China und den Pazifikraum zu verwenden. 

Regionale Verbündete der USA wie Israel, Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) reagierten verstimmt auf das neue Desinteresse Washing­tons. Die Regierungen in Tel Aviv/Jerusalem, Riad und Abu Dhabi lehnten vor allem das Atomabkommen mit dem Iran ab. Sie sahen darin den Versuch, das aus amerikanischer Sicht wichtigste Problem – die drohende nukleare Bewaffnung Teherans – auf Kosten der Expansion des Iran in der Region und damit der Sicherheit der Verbündeten zu lösen. Diese Staaten stellten sich dem Iran nun immer häufiger direkt und ohne Absprache mit Washington entgegen.

Der Rückzug des Hegemons führte darüber hinaus dazu, dass immer mehr große und kleine Staaten regionalpolitische Ambitionen entwickelten. Neben Saudi-Ara­bien und den VAE waren dies vor allem die Türkei und Katar, die über die Unterstützung islamistischer Bewegungen wie vor allem der Muslimbrüder einen ganz neuen Nahen Osten schaffen wollten.


Szenario 1: Fortgesetzter US-Rückzug

Entwirft man auf der Grundlage dieser Trends Szenarien für die Entwicklung des Nahen Ostens, wird vor allem die überragende Bedeutung der USA deutlich, die mehr als drei Jahrzehnte die Regionalpolitik dominierten und eine Ordnung schufen, die bereits seit über einem Jahrzehnt verlorengeht. Das amerikanische Zeitalter im Nahen Osten war von zahllosen Kriegen und Konflikten geprägt, doch gelang es den USA in dieser Zeit, die Versuche des Irak und Iran zu stoppen, die regionalen Machtverhältnisse zu ihren Gunsten zu revidieren und prowestliche Staaten vor ihren aggressiven Nachbarn zu schützen.

In einem Worst-Case-Szenario geben die USA diese Funktion als regionale Ordnungsmacht vollkommen auf und ziehen sich weiter aus dem Nahen Osten zurück. Dies ist trotz der vielfältigen US-Interessen in der Region plausibel: Unter Außen- und Sicherheitspolitikern in Washington gilt es als ausgemacht, dass das 21. Jahrhundert ein pazifisches sein wird und die USA ihre Ressourcen auf den kommenden Großkonflikt mit China konzentrieren sollten. 

Ein solcher Rückzug würde sehr wahrscheinlich zu einer raschen nuklearen Bewaffnung des Iran führen. Ein Grund, dass die iranische Führung immer wieder zögerte, die letzten Schritte hin zur Bombe zu gehen, war, dass ein amerikanischer Angriff drohte, der auf jeden Fall die Atom­anlagen des Iran zerstört, vielleicht aber auch die Stabilität der Islamischen Republik bedroht hätte.

Die Kriege der Jahre 2023/24 dürften die iranischen Sicherheitspolitiker in ihrer Überzeugung bestärkt haben, dass eine nukleare Bewaffnung im Interesse Teherans ist. Vor allem die dramatischen Verluste der Hisbollah im September und Oktober 2024 zeigten, dass der Iran sich nicht allein auf seine Verbündeten verlassen kann, wenn er Israel wirksam abschrecken will. 

In einem solchen Worst-Case-Szenario würden einer nuklearen Bewaffnung Teherans zahlreiche Angriffe Israels auf iranische Atomanlagen vorausgehen, die einen iranischen Erfolg beim Bau der Bombe aber nicht verhindern könnten. Die nach wie vor starken Freunde des Iran im Jemen und Irak würden weiter versuchen, Israel und den Westen anzugreifen und damit vor allem im Roten Meer und Persischen Golf für Unruhe sorgen. Erst nachdem sich der Iran nuklear bewaffnet hätte, würde der Konflikt mit Israel etwas abflauen, da direkte Angriffe zwischen dem Iran und Israel fortan zu gefährlich würden.

Neben der weiteren Stärkung des Iran wäre die gefährlichste Folge einer nuklearen Bewaffnung Teherans, dass Nachbarstaaten nachziehen und ebenfalls militärische Atomprogramme starten würden. Dies gilt für Saudi-Arabien, das bereits über atomwaffenfähige Raketen verfügt und in den vergangenen Jahren großes Interesse an Nukleartechnologie gezeigt hat. Auch die Türkei und vielleicht auch Ägypten und die VAE würden entsprechende Programme auflegen. Ein nuklea­rer Rüstungswettlauf wäre die Folge – mit heute kaum vorstellbaren Konsequenzen für die Stabilität der Region. 


Szenario 2: Eindämmung des Iran

In einem Best-Case-Szenario blieben die USA weiter Ordnungsmacht im Nahen Osten, ohne aber an die Hochzeit ihres Einflusses zwischen 1989 und 2023 anknüpfen zu können. Ein Grund für eine solche Rückkehr der USA in die Region könnte paradoxerweise der wachsende Einfluss Chinas auf den Nahen Osten sein, denn in der Logik der Konkurrenz unter Großmächten müssten sich die Vereinigten Staaten China nicht nur im Pazifik, sondern weltweit entgegenstellen, sollte das Reich der Mitte weiter erstarken. 

Grund für eine US-Rückkehr in die Region könnte der wachsende Einfluss Chinas auf den Nahen Osten sein

Teheran würde sich nach den schweren Schlägen Israels gegen die „Achse des Widerstands“ in den Jahren 2023/24 entscheiden, sich vorerst nicht nuklear zu bewaffnen. Die bleibende Sorge vor einem groß angelegten amerikanisch-israelischen Angriff auf die Atomanlagen wäre der wichtigste Grund für diese Zurückhaltung. Doch auch anhaltende innenpolitische Instabilität könnte Teheran zur Vorsicht bewegen. Eine Rolle würde auch die Schwäche der iranischen Verbündeten wie vor allem der Hamas und der Hisbollah spielen, die sich von den israelischen Gegenschlägen der Jahre 2023/24 nicht mehr vollständig erholten. Trotzdem blieben die von den Hisbollah-Bataillonen angeführten Milizen im Irak und die Huthis im Jemen eine stete Gefahrenquelle für Israel und andere Verbündete der USA.

Die vielleicht wichtigste Voraussetzung für eine Eindämmung des Iran wäre ein Friedensschluss zwischen Israel und Saudi-Arabien. Schon vor dem Hamas-Angriff auf Israel am 7. Oktober 2023 führten die USA mit dem Königreich Gespräche über eine Normalisierung der Beziehungen, die nach dem Abflauen des Krieges in Gaza erneut aufgenommen würden. Die Einbindung der arabischen Führungsmacht würde es den USA und Israel ermög­lichen, ein breites Bündnis gegen Teheran zu begründen. Ein Friedensschluss würde zwar wahrscheinlich nicht zu der von Saudi-Arabien geforderten Gründung eines palästinensischen Staates führen, aber mit einer deutlichen Verbesserung der Lage der Palästinenser in Gaza und im Westjordanland einhergehen.

Doch auch in einem solchen Best-Case-
Szenario bliebe der Nahe Osten eine spannungsgeladene Region. Schon das in jedem denkbaren Szenario verstärkte Engagement auswärtiger Mächte, insbesondere Chinas, würde den amerikanischen Einfluss beschränken. Auch der Wunsch von Regionalmächten wie etwa der Türkei, die eigene Position im Nahen Osten auszubauen, würde für Unruhe sorgen.


Szenario 3: Unberechenbare USA 

Es sind aber auch eine Reihe weniger radikaler Szenarien denkbar. Plausibel wäre etwa, dass die USA zwischen einem Rückzug aus dem Nahen Osten und einer Eindämmung des Iran schwanken. In einem solchen Szenario würden die USA zwar weiter versuchen, ihre Ressourcen auf China zu konzentrieren, doch würden die Konflikte des Nahen Ostens immer wieder erhöhte Aufmerksamkeit der USA und die Entsendung von Militär erfordern.

Dies wäre beispielsweise dann wahrscheinlich, wenn verschiedene Präsidenten den USA häufige Politikwechsel verordneten. Es wäre eine ungefähre Fortschreibung der Situation seit dem Ende der Präsidentschaft Obamas 2017: So waren sich Trump und Biden zwar einig, dass die Zukunft der amerikanischen Weltpolitik im Pazifik liegt – in der Nahost-Politik vertraten sie jedoch unterschiedliche Konzepte. In einem solchen Szenario würden die USA ihre Truppen aus dem Irak und Syrien und vielleicht auch aus anderen Basen in der Region zurückziehen, aber wiederholt gegen Verbündete Teherans wie beispielsweise die Huthis im Jemen vorgehen, um die Sicherheit der Schifffahrt im Roten Meer zu gewährleisten. 

Die Islamische Republik würde schon aufgrund der Unberechenbarkeit der US-Politik vorsichtig vorgehen und sich mit dem Status der nuklearen Schwellenmacht begnügen, ihr Raketenprogramm und die Unterstützung von iranloyalen Gruppierungen jedoch fortsetzen. Einem größeren Konflikt mit den USA und Israel ginge Teheran so aus dem Weg. Obwohl Israel in einem solchen Szenario die Hisbollah weiter bekämpfte, würde die libanesische Organisation mit iranischer Hilfe wieder erstarken und erneut zur Gefahr für Israel werden. Auch die Reste der Hamas und des Islamischen Dschihad sowie kleinere Gruppen würden den bewaffneten Kampf gegen Israel in Gaza und im Westjordanland fortführen – eine Entspannung im israelisch-palästinensischen Konflikt wäre also nicht zu erwarten. Insgesamt würden die Milizen und Terrorgruppen der „Achse des Widerstands“ trotz der Verluste der Jahre 2023/24 eine Gefahr für die regionale Stabilität bleiben.

Dies würde sich vor allem in Saudi-­Arabien auswirken, das aufgrund der eigenen Schwäche und des Misstrauens gegenüber den USA auf eine Beschwichtigung des Iran setzen würde. Ein wichtiger Grund wäre die anhaltende Bedrohung durch die Huthis, die trotz der Luftangriffe der USA und Großbritanniens 2023/24 weiter über genügend Raketen, Marschflugkörper und Drohnen verfügten, um den großen Nachbarn zur Neutralität zu zwingen. Deshalb verzichtete Riad in einem solchen Szenario auf einen Friedensschluss mit Israel. Vielmehr würde das Königreich eine Art „Politik der Blockfreiheit“ betreiben und auf diese Weise hoffen, nicht in den Konflikt zwischen den USA und Israel einerseits und dem Iran andererseits hineingezogen zu werden. 


Die Schwäche Deutschlands

Es ist bezeichnend, dass Deutschland und Europa in all diesen Szenarien keine Rolle spielen. Das ist vor allem dem in Deutschland nur sehr schwach ausgeprägten Bewusstsein für die Bedrohung Europas durch die Instabilität im Nahen Osten geschuldet. Gefahren wie unkontrollierte Massenmigration, islamistischer Terrorismus und die Proliferation von Nuklearwaffen konnten die Regierungen des vergangenen Jahrzehnts nicht überzeugen, dass eine ganz neue Nahost-Politik notwendig ist. Zudem fehlt es an einem einsatzfähigen Militär, das im Konfliktfall den Verbündeten im Nahen Osten zur Seite stehen kann. Die Folge: Deutschland wird in der Region nicht als Akteur wahrgenommen.

Wenn Deutschland eine Rolle spielen will, führt kein Weg daran vorbei, das eigene Militär so zu stärken, dass es im Verein mit Verbündeten auch im Mittelmeer und Nahen Osten einsatzfähig wird. Das erfordert einen Wandel in der politischen Kultur, der nur schwierig zu erreichen scheint, aber notwendig ist, will Deutschland seine Sicherheit gewährleisten. Zudem braucht es eine Strategie für den Nahen Osten, die gemeinsam mit Verbündeten entwickelt wird. Diese sollte sich vor allem an dem „Eindämmungsszenario“ orientieren. Hierzu gilt es, wie von den USA gefordert, mehr militärische Aufgaben zum Beispiel bei der Sicherung der Schifffahrtswege zu übernehmen, mit Waffenlieferungen am Aufbau und der Pflege von Bündnissen mit Ländern wie Saudi-Arabien zu arbeiten und iranische und iranloyale Gruppierungen und Akteure zu sanktionieren und ihre internatio­nalen Netzwerke zu bekämpfen.             

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 6, November/Dezember 2024, S. 74-78

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Dr. Guido ­Steinberg ist Islamwissenschaftler bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin.

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