Der Empathieverlust des Konservatismus
Werkstatt Deutschland
Kühle Modernisierer gewinnen keine Wahlen
Am 3. März 2004 begann in der CDU gewissermaßen der politische Frühling. An diesem Tag siedelte das Meinungsforschungsinstitut Infratest dimap die Union erstmals im Bereich der absoluten Mehrheit an. Zusammengenommen lagen die Parteien des bürgerlichen Lagers gar mit 21 Prozentpunkten vor Rot-Grün. Der Machtwechsel 2006 schien fest programmiert. Gut ein halbes Jahr später begannen die dunklen, traurigen Tage für die Union. Die Umfragewerte gingen systematisch zurück. Mitte November 2004 meldete wiederum dimap, dass der Vorsprung von Schwarz-Gelb vor Rot-Grün auf winzige zwei Prozentpunkte zusammengeschmolzen war. Entsprechend gedrückt war die Stimmung auf dem Düsseldorfer Bundesparteitag der CDU in der zweiten Adventswoche.
Nun kann man die jähe Schwächeperiode der Union routiniert auf Personalquerelen zurückführen, also auf Seehofers Eitelkeit, die unbefriedeten Machtambitionen Stoibers, Laurenz Meyers billige Stromquellen, wenn es denn sein soll: auf die nach wie vor unvorteilhafte Frisur der Frau Merkel. So lieben es ja die medialen Kommentatoren; und so mag es augenscheinlich auch das Publikum.
Die Probleme der CDU reichen, natürlich, tiefer. Entscheidend war, dass die Union während der elementaren Krise der Sozialdemokratie neue Wählerschichten eingesammelt hatte, mit denen sie in keinem Moment etwas anzufangen wusste. Mehr noch: Die Union geriet dadurch in eine Scherenlage, welche die Partei ersichtlich überforderte. Urplötzlich mutierte die Union im Laufe des Jahres 2003 deutschlandweit zur Partei der Arbeiterklasse. Die alte große Partei des Bürgertums zog mit einem Mal eine weit proletarischere, auch weit bildungsabständigere Wählerschicht an als die Sozialdemokratie. Das war die eine Seite. Doch auf der anderen Seite blieb die Union in ihren Mitgliederkernen und Aktivistenkreisen, bei ihren Parlamentariern und Funktionären seit der Kohl-Ära bürgerlicher denn je. Denn die sozialkatholischen Lebenswelten und Netzwerke von früher haben sich weitgehend aufgelöst; auch der einst in der protestantischen Provinz tief verwurzelte konservativ-deutschnationale Patronismus und Solidarprotektionismus ist aus dem Binnenraum und Selbstverständnis der Union verschwunden. Und so fanden die beiden neuen Seiten der CDU – die soziale Unterschichtung der Wählerschaft hier, die liberal-individualistische Verbürgerlichung der Parteikerne dort – zu keinem Zeitpunkt zusammen.
Stärker noch: Der neubürgerlichen CDU war das altkonservative Erbe des patriarchalischen „Kümmerns“ und „Sorgens“ verloren gegangen. Stattdessen war und ist nun überall in den neuen bürgerlichen Eliten – und damit eben auch in der Union – von Eigenverantwortung, Individualität, Freiheit, Entstaatlichung und dergleichen mehr die Rede. Nun mögen all diese Motti in den Zeiten entgrenzter Märkte und hochentwickelter Wissensgesellschaften unzweifelhaft angemessene Imperative sein. Doch ein erklecklicher Teil der Wählerschaft erwartet von den politisch Mächtigen – gleichviel, ob das in die Landschaft passt oder nicht – seit ewigen Zeiten auch noch anderes: nämlich Schutz, Obhut, Sicherheit, berechenbare Lebensverhältnisse, Entlastung von den Zumutungen permanenter gesellschaftlicher Anstrengungen. Die großen christdemokratischen Kanzler, Konrad Adenauer und Helmut Kohl, besaßen stets ein sicheres Gespür dafür, haben daher die Sicherheits-, Schutz- und Erholungsbedürfnisse ihrer Klientel durchweg üppig bedient. Auch die Popularitätswerte für Helmut Schmidt stiegen immer dann, wenn dieser in Zeiten des Notfalls – von der Flutkatastrophe 1962 bis Mogadischu 1977 – als großer Schutzpatron der verängstigten Deutschen furchteinflößende Krisen entschärfte.
Genau diesen Part spielt verlässlich auch Gerhard Schröder. In den entscheidenden Momenten der Wahlkämpfe mimte er niemals den kalten Modernisierer der neuen Mitte, sondern schlüpfte vielmehr in die Rolle des Kümmerers, der mit Hilfe von Staatsgeldern marode Betriebe aufkaufte und Unwetterkatastrophen trotzte. Schröder reüssierte mithin auf dem Feld, das von Bismarck bis Kohl ein Jahrhundert lang Konservative sicher beherrschten. Der sozialdemokratische Bundeskanzler gewann seine Wahlen als etatistischer Kümmerer und Patron der Nation – und er wird mit großer Sicherheit eben dies im späten Sommer 2006 wieder versuchen.
Insofern dürfte Schröder die Patriotismus-Offensive der Union bestens gelaunt verfolgt haben. Denn sie liefert der Regierung und vor allem dem Kanzler selbst eine wunderschöne Vorlage. Oppositionsführer jedenfalls sind für die patriotische Geste viel zu eng an ihre machtlosen Parteien gekoppelt, wirken dadurch verkniffen, kleinlich und interessenfixiert, stets ein wenig nörgelnd, oft enervierend schwarzmalend, kurzum: geradezu unpatriotisch. Währenddessen vermag sich der Kanzler gleichsam präsidial über die bornierte Räson der Parteienwelt zu erheben, kann gouvernementale Verantwortungsschwere demonstrieren und mit zerfurchtem Gesicht die tägliche Last des staatstragenden Kümmerers sinnfällig zur Schau stellen.
Vor allem ältere Wähler goutieren diese politische Attitüde, insbesondere die Wählerinnen über 60. Und auf diese Gruppe kommt es bei Wahlen an; sie beeinflusst den Ausgang stärker als jede andere Kohorte im Land. Doch in diesem Segment hat die Union in den letzten Jahren am stärksten an Boden verloren. Über etliche Jahrzehnte waren Frauen und Ältere die sicherste politische Reservearmee für den strukturellen Vorsprung des christlichen Konservatismus in Deutschland. Seit 1998 aber gilt das nicht mehr. Die Frauen stehen nunmehr stärker im rot-grünen Lager; die Älteren wählen weniger denn je eine der klassischen Parteien des Bürgertums. Alle Welt schaut zwar auf die jungen, urbanen, modernen Schichten. Doch die Wahl gewinnt allein, wer die Älteren, vor allem die älteren Frauen, auf seine Seite bringt.
Bremens Bürgermeister Henning Scherf war seit den Bundestagswahlen 2002 der einzige Sozialdemokrat, der bei Wahlen zuzulegen vermochte. Seine stärkste Ressource: die Frauen über 60. Matthias Platzeck konnte die Regierungsmacht der Sozialdemokraten in Brandenburg während der hitzigen Anti-Hartz-Stimmung nur halten, weil er bei den Wählerinnen über 60 den höchsten Zuspruch erfuhr. Der große Wahlsieg Ole von Beusts in Hamburg ging nicht, wie oft behauptet, auf jugendliche Urbanität zurück, sondern auf die überragende Unterstützung durch die älteren Wählerinnen. Scherf, Platzeck und von Beust sind allesamt gute Zuhörer, strahlen unisono so etwas wie Empathie aus. Exakt dieser Typus wird mehrheitlich geschätzt in der auch 2006 ausschlaggebenden Gruppe der Älteren/Frauen dieser Republik. Dagegen haben kühle Reformer und aggressive Polarisierer hier keine Chance.
Kümmern und Empathie. Das gehört nicht so recht zum Vokabular der gegenwärtigen Modernisierer. Es prägt auch nicht Image und Profil der christdemokratischen (und freidemokratischen) Oppositionsführer. Sollte das so bleiben, dann wird es tatsächlich noch schwierig für das bürgerliche Lager in Deutschland.
Internationale Politik 1, Januar 2005, S. 44 - 45.