Der „deutsch- französische Motor“
Nichts illustriert die Bereitschaft zur Nostalgie im deutschen außenpolitischen Denken so gut wie das nicht enden wollende Beschwören des deutsch-französischen Motors und seiner PS-starken Heilskraft für alles Europäische. Wahrscheinlich gab es tatsächlich einmal so ein Wunderaggregat, das die Europäische Union entscheidend auf Touren gebracht hat. Aber sein einstiger Platz unter der Haube des EU-Gefährts ist heute leer. In Brüssel hat man ohnehin immer schon lieber von einer „Achse Paris–Berlin“ gesprochen, was zwar als Metapher ebenfalls aus dem Fahrzeugbau stammt, aber schon mal entschieden weniger antriebsstark klingt. Gleichwie, das Beschwören dieses Bauteils in heutiger Zeit beruht außer auf der Sehnsucht nach vergangenen Zeiten vor allem auf einer Verwechslung.
Es gibt in der Europäischen Union nur zwei Staaten, ohne die man sich die EU gar nicht vorstellen kann: Frankreich und Deutschland. Das führt zur Verwechslung des Hinreichenden mit dem Notwendigen. Für jedes Fortkommen Europas sind Frankreich und Deutschland zwingend notwendig. Aber hinreichend für den Fortschritt sind sie schon lange nicht mehr.
Neben der größer gewordenen EU, in der Berlin und Paris schon rein rechnerisch weniger gelten, gibt es dafür vor allem einen Grund, der in Deutschland gern ignoriert wird: Beide Länder sind auf ganz unterschiedlichen strategischen Planeten zuhause. Solange in der EU vor allem jene Politikbereiche integriert wurden, in denen dieser Kulturunterschied nicht sehr ins Gewicht fiel, hatte das keine dramatischen Auswirkungen.
In einer Zeit aber, in der es ans Eingemachte geht, also ans Militärische, an eine gemeinsame Währung, an Grenzsicherung, ans Asylrecht und an den Sozialstaat, also an Politikfelder, die auf den Kern staatlicher Souveränität zielen, werden die unterschiedlichen Gen-Pools der beiden rheinischen Republiken deutlich.
Europas Spaltmaschine
Frankreich hat eine starke Identität und will nationale Größe und Souveränität befördern. Deutschland hat einen Teil seiner Identität in Europa hineinprojiziert, kann mit der Idee nationaler Größe wenig anfangen und findet es eher erstrebenswert, sich zu integrieren und einzubetten. Frankreich will ambitionierte Machtpolitik betreiben und leitet daraus einen Führungsanspruch in Europa ab. Deutschland sieht in der EU die Abkehr von der Machtpolitik verwirklicht und geht in der Europapolitik nur dann in Führung, wenn niemand anders mehr einspringen kann.
Deutsche und Franzosen haben weder für die Zukunft der hirnauffälligen NATO noch für die EU und den Euro gemeinsame Ordnungsvorstellungen. Was Amerika, Afrika und den Nahen Osten angeht, waren sie sich noch nie einig, beim Militärischen und bei Rüstungsexporten ohnehin nicht. Neuerdings sind sie auch über Russland entzweit, über den richtigen Weg für Osteuropa und über die Frage der EU-Erweiterung. Ein Motor, der aus so deutlich inkompatiblen Bauteilen zusammengesetzt ist, kann weder rundlaufen noch viel PS erzeugen, sofern er überhaupt anspringt. Er wird zur Spaltmaschine, welche die Gräben in Europa eher vertieft als überbrückt.
Jan Techau ist Senior Fellow und Direktor des Europaprogramms des German Marshall Fund of the United States (GMF) in Berlin.
Internationale Politik 1, Januar/Februar 2020, S. 15