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01. Jan. 2002

Der Balkan nach dem 11. September

Eine europäische Führung ist gefragt

Bemühungen um eine politische Stabilisierung des Balkans, des „Hinterhofs Europas“, müssen von der Europäischen Union angeführt werden. Entscheidungen über Integration oder Zerfall der Region sind nötig; sie werden die Außen- und Sicherheitspolitik der EU auf die Probe stellen.

Für den Balkan scheinen die Anschläge auf die Vereinigten Staaten vom 11. September 2001 die Aussichten auf eine politische Zusammenarbeit zwischen den USA, der Europäischen Union und Russland verbessert zu haben. Eine solche internationale Kooperation ist sicherlich von Nöten, wenn eine „Rebalkanisierung“ der Region in winzige, nicht lebensfähige ethnische Gebiete vermieden werden soll.

Jegliche Bemühungen einer politischen Stabilisierung müssen von der EU angeführt werden. Der Balkan ist der Hinterhof Europas, und um dauerhafte Entwicklung und Sicherheit zu gewährleisten, werden die verschiedenen Staaten der Region schließlich der EU beitreten müssen.

Diesmal sollte Washington eine europäische Führerschaft begrüßen. Präsident George W. Bush – mit Afghanistan vollauf beschäftigt – will die Zerfaserung militärischer Aktivitäten der USA einschränken und möchte deshalb die amerikanische Verantwortung reduzieren und die Streitkräfte in Europas Südosten verringern.

Der russische Präsident, Wladimir Putin, hat die Chance ergriffen und sich innerhalb der Antiterrorismuskoalition mit dem Westen zusammengeschlossen. Er hat wenig Grund, heute die Rolle des Spielverderbers im Balkan zu spielen. Da nicht er es war, sondern sein Vorgänger, der vor zwei Jahren wegen Kosovo und der Verteidigung von Russlands slawischen Brüdern in Serbien mit dem Westen aneinander geraten war, verliert Putin nicht sein Gesicht, wenn er mit dem Westen zusammenarbeitet. Seit einiger Zeit betont er jedenfalls, dass Russland ein selbstverständlicher Partner Europas ist; Moskaus Anspruch auf eine europäische Identität könnte durch die Hilfe bei der Suche nach einer politischen Lösung für den Balkan begünstigt werden.

Auch China hat sich der weltweiten Koalition gegen den Terror angeschlossen (Chinas Beitrag für eine wie auch immer gestaltete Lösung für den Balkan wäre notwendig, um ein Veto im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen zu vermeiden). Es profitiert jedenfalls mehr von einer Kooperation als von einer Konfrontation in einem weit entfernten Teil der Welt, der in seinen Interessen keine zentrale Rolle spielt. Chinas Rache dafür, dass Mazedonien finanzielle Hilfe von Taiwan akzeptiert hat, und für die versehentliche Bombardierung der chinesischen Botschaft in Belgrad im Jahr 1999 durch die Amerikaner gehört der Vergangenheit an. Da die chinesisch-europäischen Beziehungen im Jahr 2000 weniger feindselig waren als die chinesisch-amerikanischen Beziehungen vor dem 11. September, könnte Beijing geneigt sein, eher einer europäischen Führerschaft im Balkan zuzustimmen als einer amerikanischen.

Die Lösung der Balkan-Frage wird letztlich grundsätzliche Entscheidungen über Integration und Zerfall der Region abverlangen und damit die im Entstehen befindliche Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU auf die Probe stellen. Jeder erinnert sich noch an den Schaden, der durch die westliche Uneinigkeit über Bosnien Anfang der neunziger Jahre entstanden war. Jeder sollte sich auch an die historische Nähe der Region zu kriegerischen Auseinandersetzungen erinnern. Das letzte Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts zeigte nichts Neues bei der blutigen Abfolge der Unabhängigkeitserklärungen Sloweniens, Kroatiens und Mazedoniens, den heftigen Kämpfen in den gemischten serbisch-kroatischen Gebieten Kroatiens, der Entsendung von UN-Friedenstruppen nach Kroatien und den von den Europäern angeführten Bemühungen, eine neue politische Lösung für den Balkan zu finden.

Der Kosovo-Konflikt

Nachdem der Kosovo-Krieg keine endgültige Antwort auf die Probleme des ethnischen Zusammenlebens geben konnte (die zuvor unterdrückte albanische Minderheit in Serbien geht nun – trotz UN-Friedenstruppen – gewalttätig gegen die serbische Minderheit in Kosovo vor), eröffnet sich jetzt möglicherweise eine zweite Chance für eine politische Lösung. Es war allen Beteiligten am Kosovo-Krieg klar, dass ein Risiko bestand, eine zweite Welle ethnischer Trennung und Konflikte hervorzurufen, wenn die Chance zu einem friedlichen Zusammenleben nicht genutzt würde. Mehr als ein Jahr nach Kriegsende ist die Bilanz bestenfalls als zwiespältig zu bezeichnen. Obwohl es sowohl in Kroatien als auch in Serbien positive Schritte in Richtung politischer Wandel und wirtschaftliche Reformen gibt, sind wenige Fortschritte dabei erzielt worden, die offenen politischen Fragen der Region anzugehen. Solange diese Politik beibehalten wird, wird es keine wahre Stabilität geben.

Kosovo ist der augenscheinlichste Fall: Solange nicht klar ist, ob Kosovo eine autonome Provinz Serbiens bleibt oder ob es seine Unabhängigkeit erhält, bleibt der Teufelskreis aus Erwartungen und Angst bestehen. Kompromisse, selbst bei weniger wichtigen Fragen, werden schwierig sein, weil sie als Fragen angesehen werden, die mit den noch ausstehenden großen Problemen, auf die sich letztlich alle Akteure konzentrieren, zusammenhängen.

Aber der Fall Kosovo ist nur ein Teil der ungelösten Frage der Zukunft der derzeitigen Bundesrepublik Jugoslawien. In ihrer jetzigen Form hat sie eindeutig keine lebensfähige Struktur. Sie muss ersetzt werden, entweder durch einen neuen Vertrag zwischen den Republiken Serbien und Montenegro, einschließlich einer entstehenden Republik Kosovo, oder durch ihre Aufteilung in drei unabhängige Staaten. Wieder sind wir mit dem Hauptdilemma der politischen Ordnung für die Region konfrontiert: Abspaltung oder Integration. Diesbezügliche Maßnahmen sollten so gestaltet sein, dass durch sie ein willentlich gewähltes Ziel erreicht wird, statt dass die Menschen sich selbst überlassen werden und auf eine verzweifelte Rettung warten, sobald die Folgen des Sich-Selbst-Überlassens augenscheinlich werden. Oberflächlich betrachtet, mag die Option der Abspaltung als die weniger komplizierte erscheinen. Sie könnte durch die NATO-Truppen in Kosovo sichergestellt werden und würde auf die Zustimmung der breiten Mehrheit der Menschen in Kosovo stoßen. In Montenegro ist die Situation komplizierter, und die Chancen, die verfassungsmäßigen Voraussetzungen für eine saubere Trennung von Serbien zu erfüllen, wie sie kürzlich von der Venedig-Kommission des Europarats festgelegt worden sind, sind gering.

Riesige Herausforderungen

Es bleiben noch gewaltige Probleme. Obwohl es in der albanischen Debatte Stimmen gibt, die angeblich glauben, dass die Vereinigten Staaten Albanien als ihr „Israel auf dem Balkan“ ansehen und es gegen sein Umfeld verteidigen würden, wird die internationale Gemeinschaft weitaus mehr an Lösungen interessiert sein, die das Potenzial haben, stabil und selbsttragend zu sein.

Dies wird Lösungen erfordern, die die Mindestforderungen von allen erfüllen – und damit die Maximalforderungen von keinem. Jede Lösung, bei der es einen eindeutigen Gewinner und einen eindeutigen Verlierer gibt, muss entweder über eine Generation oder länger militärisch durchgesetzt werden, oder sie wird früher oder später wieder in Frage gestellt.

Es ist auch wenig wahrscheinlich, dass die gewählten Führungspolitiker der Region sich hinsetzen und sich Lösungen ausdenken, die von ihren Maximalforderungen abweichen, um zu von allen akzeptierten Kompromissen zu gelangen. Wo die internationale Gemeinschaft eine Lösung in der Region auf den direkten Verhandlungen zwischen den beiden Parteien aufgebaut hat – der kleine, aber entscheidende Fall der Prevlaka-Halbinsel an der Bucht von Kotor –, hat dies nur zu Konflikten geführt.

Es bleibt daher dringend erforderlich, dass die internationale Gemeinschaft bereit steht, stabile und gerechte Lösungen voranzubringen. Damit dies möglich ist, muss unter den internationalen Hauptakteuren ein Konsens gefunden werden. Es muss ein operatives Bündnis für den Frieden in der Region geben, bestehend aus der Europäischen Union, den Vereinigten Staaten und Russland, unter Berücksichtigung der Ansichten Chinas als Ständigem Mitglied des UN-Sicherheitsrats.

Nach dem 11. September kann nur die Europäische Union die Führung bei dieser Konsensfindung übernehmen.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 1, Januar 2002, S. 54 - 56.

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