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01. Mai 2006

Glauben wir noch an Europa?

Ein Abbruch der EU-Osterweiterung hätte Folgenfür Sicherheit und Stabilität

Statt die bisherige Geschichte der Europäischen Union nach dem Fall des Ostblocks als Erfolgsgeschichte zu begreifen, macht sich im Westen Europa-Pessimismus breit. Wie viele Länder werde man noch aufnehmen können, fragen sich etliche Bürger und Politiker. Doch eine wirtschaftliche und kulturelle Integration des Balkans und langfristig der Kaukasus-Region würde auch Westeuropa mehr Frieden und Wohlstand bringen.

Zweifellos war es der bedeutendste Beitrag des europäischen Einigungsprozesses zu Frieden und Wohlstand des Kontinents, den Kreis der Mitgliedstaaten auszuweiten. Die Aussöhnung zwischen Deutschland und Frankreich steht heute ebensowenig mehr auf der europäischen Tagesordnung wie die Aussöhnung zwischen Dänemark und Schweden nach deren jahrhundertelangen Konflikten. Integration und Zusammenarbeit haben dafür gesorgt, dass frühere Konflikte endgültig Geschichte geworden sind.

Nach den eher lethargischen siebziger und frühen achtziger Jahren gewann der europäische Einigungsprozess Mitte der achtziger Jahre wieder an Fahrt. Die Schaffung des Binnenmarkts stand jetzt im Vordergrund, und das Projekt einer gemeinsamen Währung erfuhr immer mehr Zuspruch. Im Rahmen der Anstrengungen zur Schaffung eines einheitlichen Wirtschaftsraums einigte man sich auch auf die Ausweitung qualifizierter Mehrheitsentscheidungen, was über alle bisherigen Vorschläge weit hinausging.

Das war an sich schon ein gewaltiges Unterfangen. Doch dann brach das Sowjetimperium zusammen, so dass plötzlich weit grundsätzlichere Fragen anstanden: Jetzt ging es um nichts Geringeres als die zukünftige Gestalt Europas. Fast ein halbes Jahrhundert hing die Sicherheit Europas von der sowjetischen Vorherrschaft im Osten sowie der wirtschaftlichen Integration der Demokratien im Westen unter dem nuklearen Schutzschirm Amerikas ab. Aus historischen Gründen hatten einige kleinere Länder Neutralität zur nationalen Sicherheitspolitik erhoben, doch in jeder anderen Hinsicht waren auch sie Teil des Westens.

Plötzlich sahen wir uns vor die Aufgabe gestellt, nicht nur dafür zu sorgen, dass der Untergang der Sowjetunion friedlich verläuft, sondern uns auch Gedanken darüber zu machen, wie Europa in Zukunft aussehen sollte. Sollten wir, wie nach dem Ersten Weltkrieg, zu einer Art Völkerbund zurückkehren, der viele kleine und unabhängige Staaten lose miteinander verband und ihnen dennoch die Möglichkeit ließ, gegeneinander zu agieren? Oder sollten wir uns die Staatenordnung nach den Napoleonischen Kriegen zum Vorbild nehmen, in der einige größere Staaten den kleineren ihren Willen aufzwingen konnten?

All diese Möglichkeiten lagen auf dem Tisch, doch sah die europäische Führungsriege rasch ein, dass es keine historische Alternative dazu gab, jene Form der Integration, die sich im Westen als so erfolgreich erwiesen hatte, auch auf die neuen Demokratien des Ostens auszudehnen. Beim Treffen des Europäischen Rates in Kopenhagen 1993 wurde die förmliche Entscheidung getroffen, dass „die assoziierten Länder Mittel- und Osteuropas, die dies wünschen, Mitglieder der Europäischen Union werden sollen“, vorausgesetzt sie genügten den Kopenhagener Kriterien, die damals formuliert wurden.

Zu diesem Zeitpunkt waren die Beitrittsverhandlungen für die kleine Erweiterungsrunde mit Österreich, Schweden, Finnland und Norwegen bereits in vollem Gang. Die ersten drei wurden 1995 Mitglieder, nur die Beitrittsverhandlungen mit Norwegen scheiterten an der fehlenden Mehrheit beim Referendum im Herbst 2004.

Das folgende Jahrzehnt bescherte mehr als 100 Millionen Menschen von Estland im Norden bis Bulgarien im Süden einen „weichen“ Regime Change. Die schrittweise Einführung der allgemein gehaltenen Kopenhagener Kriterien (Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und eine offene und freie Gesellschaft) sowie des spezielleren Acquis Communautaire veränderte die Struktur dieser Gesellschaften grundlegend. Acht wandelten sich innerhalb von anderthalb Jahrzehnten von Sowjetrepubliken beziehungsweise Satellitenstaaten zu vollwertigen Mitgliedern der EU. Im Rückblick lässt sich leicht sagen, dass dies ohnehin so gekommen wäre. Doch damit unterschätzt man die gewaltige Leistung, die damit erbracht wurde, angesichts der Geschichte Mittel- und Osteuropas in den vergangenen Jahrhunderten.

Eingeschlossen zwischen Russland und Deutschland, von ethnischen und territorialen Konflikten geplagt, bildeten diese Länder stets eine instabile und konfliktträchtige Region, die häufig den Begierden fremder Mächte ausgeliefert war. Politische Stabilität gab es dort so gut wie nie, zudem hatten diese Länder in den vergangenen Jahrhunderten wenig Anteil am wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt in Europa. Als das Sowjetreich kollabierte und die Region erneut die Bühne der Geschichte betrat, gab es also genügend Konfliktpotenzial.

Ohne die Anziehungskraft der EU und das Vorbild ihrer Prinzipien, Verfahrensweisen und Richtlinien wäre der Transformationsprozess in diesen Ländern zweifellos weitaus schwieriger und konfliktreicher verlaufen. Mit diesem klaren Entwicklungsmodell vor Augen erreichten die oftmals sehr fragilen Staaten mit ihren jungen Demokratien während ihrer Transformation eine Stabilität, die es sonst wohl kaum gegeben hätte. Die Rückkehr nach Europa war ihr großes Ziel – und das bedeutete sowohl die Mitgliedschaft in der EU als auch die in der NATO. In diesem Punkt gab es überhaupt keine Unstimmigkeit zwischen den Ländern Mittel- und Osteuropas.

Es wäre den damals 15 Mitgliedsstaaten schlechthin unmöglich gewesen, diesen Ländern die Mitgliedschaft zu verwehren, solange sie sich bemühten, die Beitrittskriterien zu erfüllen. Anfangs zögerten zwar einige EU-Mitglieder, das Kopenhagener Angebot auf die baltischen Staaten auszudehnen. Bald zeigte sich jedoch, dass sich gerade Estland, Lettland und Litauen zu Musterschülern entwickelten, die sich dem Reformprozess stärker widmeten als alle anderen.

Mangelnde Aufklärung der EU-Bürger

Im Rückblick hat es sich als Fehler erwiesen, die Bevölkerungen der alten Mitgliedstaaten nicht ausreichend über die Folgen dieses veränderten Europas aufzuklären. Für Deutschland war es sicherlich vorteilhaft, dass sämtliche seiner Nachbarn – mit Ausnahme der Schweiz – EU-Mitglieder werden würden. Aus der Sicht Spaniens, Portugals oder Frankreichs waren die Vorteile nicht so deutlich. Wenn die Politiker ihren Wählern den Einigungsprozess erklärten, dann fast immer in Bezug auf Sicherheit und Frieden. Dies mochte verständlich sein, da sich hier die Fortschritte am deutlichsten zeigten, doch wurde damit die Bedeutung heruntergespielt, die ein einheitlicher europäischer Markt in ökonomischer Hinsicht mit sich bringen würde. Die heutige Ablehnung der EU-Erweiterung durch die schweigende Mehrheit in den westlichen Mitgliedsländern geht möglicherweise darauf zurück.

Vor einem Jahrzehnt stand eine Erweiterung um mehr als den engeren Kreis der Mittel- und Osteuropa-Staaten kaum zur Debatte (mit Ausnahme der Türkei, der man bereits 1961 eine Mitgliedschaft in Aussicht gestellt hatte). Im früheren Jugoslawien tobte Krieg, und einen Quantensprung im demokratischen Bewusstsein der Ukraine konnte sich kaum jemand vorstellen. Moldawien und Weißrussland waren auf der Landkarte des europäischen Machtgefüges kaum auffindbar.

Der jugoslawische Sonderfall

Den großen Erfolgsgeschichten der neunziger Jahre – die friedliche Wiedervereinigung Deutschlands, die Wiederherstellung der baltischen Unabhängigkeit und die Verankerung dieser Veränderungen in der Mitgliedschaft in EU und NATO – stand die Tragödie Jugoslawiens entgegen, wo es nicht gelang, einen friedlichen Wechsel herbeizuführen.

Eine objektive Geschichte der jugoslawischen Sezessionskriege von 1991 bis 2001 wird man erst in fernerer Zukunft schreiben können. Noch sind die Ereignisse und die damit verbundenen Gefühle gegenwärtig, die Geschichte der Balkan-Kriege ist noch nicht wirklich zu Ende. Außerdem haben wir womöglich noch gar nicht zu allen Quellen Zugang, die Licht auf dieses tragische Kapitel der modernen europäischen Geschichte werfen könnten.1

Fest steht allerdings, dass die zivilen Kräfte in Europa, soweit sie überhaupt zum Einsatz kamen, nicht ausreichten, um das Abrutschen in die Katastrophe zu verhindern, das mit den Unabhängigkeitsbestrebungen Sloweniens und Kroatiens begann und dann im vernichtenden Krieg in und um Bosnien gipfelte. Die europäische Uneinigkeit darüber, wie man der Krise begegnen sollte, war sicher nicht hilfreich, genauso wenig wie der Umstand, dass eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik nur in Grundzügen existierte. Doch den größten Schaden richtete die Unschlüssigkeit der Amerikaner im Bosnien-Konflikt an. Man kann nicht wissen, ob ein stärkeres Engagement den Konflikt verhindert hätte, aber es besteht kein Zweifel daran, dass die transatlantischen Unstimmigkeiten zu einer unnötigen Verlängerung des Krieges beigetragen haben. 1993 war der Krieg vorbei und alle Beteiligten waren mehr oder weniger zur Beilegung der Streitigkeiten bereit. Trotzdem vergingen zwei leidensreiche Jahre, bis die internationale Gemeinschaft sich auf die genauen Bedingungen der Abkommen einigte. Kurz nachdem der Krieg in Bosnien beigelegt war, begannen die Amerikaner über mögliche Abzugsstrategien zu diskutieren. Aus europäischer Perspektive jedoch stellte sich nicht die Frage nach dem Abzug, sondern nach der Einbindung der Region in unsere Kooperations- und Integrationsstrukturen. Für die Bewohner der Länder, die aus den Trümmern des ehemaligen Jugoslawiens entstanden, war es selbstverständlich, dass sie zu einem Europa gehören wollten, dem nun auch die Länder des ehemaligen Ostblocks angehörten. Die Bürger Jugoslawiens hatten in der Vergangenheit einen Zugang zu Westeuropa gehabt, wie er für den Sowjetblock einmalig war. Natürlich fiel es ihnen schwer einzusehen, dass ausgerechnet sie jetzt isolierter als alle anderen Europäer dastehen sollten.

Die EU brauchte allerdings ziemlich lange, um die Region als möglichen Beitrittskandidaten in Betracht zu ziehen. Wir, die wir in Bosnien Europas Zivilgesellschaft repräsentierten, nahmen uns stets die Freiheit, über die mögliche Zukunft Bosniens in der EU zu diskutieren. Doch in Brüssel gab es einen spürbaren Widerwillen, sich dieser Frage zu widmen. Man hielt den Zeitpunkt für verfrüht.

Nach langem Hin und Her kam es schließlich zu Stabilisierungs- und Assoziierungspakten mit diesen Ländern. Diese waren inhaltlich erheblich ungenauer als etwa die europäischen Abkommen mit den Ländern Mittel- und Osteuropas und enthielten auch nicht deren explizites Mitgliedschaftsangebot. Obwohl sie eine Reihe nützlicher Vorgaben und Richtlinien aufstellten, entwickelten sich die Stabilisierungs- und Assoziierungspakte nie zu den machtvollen Instrumenten, die sie hätten sein können. Ein Grund dafür war sicher ihr abschreckender bürokratischer Name, der nicht gerade geeignet war, Begeisterungsstürme auszulösen. Auch boten sie keine klare Perspektive für eine EU-Mitgliedschaft an. So waren sie weder Fisch noch Fleisch. Auf bürokratischer Ebene bedeuteten sie dennoch viel. Sie zwangen die jeweiligen Länder, die nötigen Verwaltungsstrukturen zu schaffen, um Vertragsverhandlungen durch- und ihre Ergebnisse auszuführen. In dieser Hinsicht spielten sie zweifelsohne eine wichtige Rolle dabei, diese Staaten auf weitere Schritte des Integrationsprozesses vorzubereiten.

Von Anfang an waren die Bedingungsklauseln in den Verträgen mit den Balkan-Staaten von großer Bedeutung, vor allem jene, rückhaltlos mit dem Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) in Den Haag zusammenzuarbeiten. Dieser Politikansatz „mit Zuckerbrot und Peitsche“ entwickelte sich rasch zum wichtigsten Instrument europäischer Balkan-Politik.

Die Tür zur Mitgliedschaft wurde 2003 auf der Tagung des Europäischen Rates in Thessaloniki für die Länder des Westbalkans weiter aufgestoßen. Gewiss war schon vorher darüber geredet worden, doch wurde erstmals ein offizielles Treffen aus diesem Grund anberaumt. Seitdem sehen wir auf der einen Seite ein Wettrennen der Länder des Balkans, die die Kriterien möglichst schnell erfüllen möchten, und auf der anderen Seite eine zunehmende Gleichgültigkeit der EU-Mitglieder gegenüber den Versprechungen, die sie in Thessaloniki gemacht haben. Früher oder später wird es zu einem Zusammenprall beider Tendenzen kommen, der die gesamte EU-Politik in der Region scheitern lassen könnte.

Zurzeit hat Kroatien ein halbes Jahr an Beitrittsverhandlungen hinter sich, Mazedonien hat Kandidatenstatus ohne festgelegten Beginn der Beitrittsverhandlungen, Albanien hat die Verhandlungen zum Stabilisierungs- und Assoziierungspakt aufgenommen und Bosnien sowie Serbien-Montenegro stehen kurz davor, diese in diesem Jahr abzuschließen. Wichtigstes Thema in der Region ist die Zukunft Serbiens. (vgl. den Beitrag von Ralf Hermann in dieser Ausgabe, S. 87 ff.) Es handelt sich um das größte Land der Region, das an jedes andere grenzt. Wie die vergangenen Jahre gezeigt haben, führen innenpolitische Entwicklungen in Serbien leicht zu einem Ungleichgewicht in weiten Teilen der Region. Ein stabiles und prosperierendes Serbien würde dagegen einen starken Stabilitätsfaktor darstellen. Sollte sich Serbien, aller Voraussicht nach im Einklang mit Mazedonien, auf den Beitrittsprozess zubewegen, hätte es gemeinsam mit Kroatien, das in den Verhandlungen schon weit voraus ist, eine stabilisierende Wirkung nicht zuletzt auf Bosnien. Wir sollten nicht vergessen, dass es der Konflikt zwischen Serben und Kroaten war, der die Region in diesen großen Krieg gezogen hat. Wenn man diese beiden größten Nationen in die EU brächte, garantierte man damit lang anhaltende Stabilität in der Region.

Euro-Optimismus im Osten, Euro-Pessimismus im Westen

Selbstverständlich muss der Reformprozess in Serbien, Mazedonien und Bosnien noch weiter fortschreiten, um die Länder wirklich auf die Unionsmitgliedschaft vorzubereiten, doch sollte dieses Ziel immer in Reichweite bleiben. Was Albanien und das Kosovo anbelangt, braucht es wohl noch einige Zeit bis zum Aufbau funktionierender Staatlichkeit, bevor die Aussicht auf Mitgliedschaft realistische Züge annimmt.

Nach den gescheiterten Referenden zur EU-Verfassung in Frankreich und den Niederlanden im Sommer 2005 zeichnet sich die Tendenz ab, weitere Erweiterungsbestrebungen zu bremsen. Dies hat auch Auswirkungen auf den Westbalkan, wo es die gesamte Stabilität der Region zu untergraben droht. Als sich die EU-Außenminister im März 2006 zu einem informellen Balkantreffen in Salzburg versammelten, waren die Ergebnisse kaum mehr als eine Rekapitulation des in Thessaloniki Gesagten. Es fiel auf, dass es sich diesmal im Unterschied zu den hochrangigen EU-Balkan-Gipfeltreffen, die 2000 in Zagreb und 2003 in Thessaloniki stattfanden, nur um ein informelles Treffen der Außenminister handelte. Am bezeichnendsten war die Bezugnahme der informellen Abschlusserklärung auf die „interne europäische Debatte über weitere Erweiterungen“ sowie auf die „Aufnahmekapazität der EU“. Lautete die Botschaft aus Thessaloniki: Wir sind bereit, wenn ihr es seid, klang es in Salzburg eher nach: Ach, ihr seid schon bereit? Wir sind uns nicht mehr so sicher.2

Das sind völlig andere Töne, zumal die Doktrin der Aufnahmefähigkeit von jenem politischen Spektrum vorgebracht wird, das eine weitere Vergrößerung grundsätzlich lieber verhindern würde. Der CSU-Parteivorsitzende Edmund Stoiber brachte dies später explizit zum Ausdruck, indem er bemerkte, dass nach dem Beitritt Rumäniens, Bulgariens und Kroatiens ein Aufnahmestopp herrschen sollte. Hiermit verdeutlichte er die wahren Ziele eines großen Teiles derer, die heute von Aufnahmekapazität sprechen.3 Wenn solche Signale auf fruchtbaren Boden stoßen, wäre die gesamte europäische „Policy of Conditionality“ nutzlos, und die Reformpolitik der Balkan-Länder verlöre ihren Leuchtturm. Mit dem Wegfall der europäischen Sogwirkung droht eine Regression in nationalistische Ängste und Vorurteile. Jüngste Meinungsumfragen porträtieren Bosnien als ein Land, dessen Bevölkerung pessimistisch in die Zukunft blickt und bei wichtigen Themen zutiefst gespalten ist.4 Das Einzige, was Optimismus verbreitet und Bosnier jedweder politischen Couleur vereint, ist die Aussicht auf eine EU-Mitgliedschaft. Sollte ihnen dieses einzige einende Band genommen werden, ist um die weitere innenpolitische Entwicklung des Landes zu fürchten.

Ganz offensichtlich muss das Vertragswerk der Europäischen Union verändert werden, um eine Erweiterung verkraften und die Westbalkan-Länder aufnehmen zu können. Der Vertrag von Nizza enthält Abstimmungsmodalitäten für Bulgarien und Rumänien, aber der Beitritt Kroatiens wirft erneut Fragen auf. Die Bereitschaft der EU, diese Vertragsänderungen vorzunehmen, während sich die Beitrittsverhandlungen mit Kroatien dem Ende zuneigen, wäre der Prüfstein dafür, ob sie wirklich gewillt ist, ihre Versprechen gegenüber den Balkan-Staaten einzulösen.

Jenseits der Osterweiterung

Auch wenn sich in der Balkan-Region die drängendsten Fragen bezüglich der Osterweiterung und der europäischen Zivilgesellschaft stellen, sollten wir die östliche Region zwischen Weißrussland und Moldawien ebenfalls schärfer ins Blickfeld nehmen, um dort sowie im südlichen Kaukasus angemessene Maßnahmen ergreifen zu können. Gleichwohl erreicht der Wille zur EU-Mitgliedschaft dort nirgends ein vergleichbares Niveau wie im Gürtel Zagreb, Sarajevo, Belgrad und Skopje.

Die Europäische Nachbarschaftspolitik (ENP) – erstmals im März 2003 umrissen und im Mai 2004 konkretisiert – muss noch ihre endgültige Form finden. Dass sie solche unterschiedlichen Länder wie Weißrussland und Marokko, die Ukraine und Ägypten einschließt, zeigt ihre Grenzen auf. Es wäre sinnvoll, unterschiedliche Maßnahmenkataloge für den südlichen MittelmeerRaum sowie für Osteuropa auszuarbeiten, um den Bedürfnissen dieser Länder besser gerecht werden zu können.

Die Förderung von Wirtschaftsbeziehungen ist von höchster Bedeutung. Eine neue Studie der Weltbank zeigt den Zusammenhang zwischen der Öffnung der Märkte und gesteigertem Wirtschaftswachstum in den östlichen Übergangsökonomien. Diese Studie illustriert auch über die letzten zehn Jahre die Entwicklung eines gut integrierten Handelsraums, der die EU inklusive ihrer neuen Mitglieder umfasst, eines weniger gut integrierten Handelsraums im Rahmen der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) und die Situation in Südosteuropa, die irgendwo zwischen den beiden liegt, obwohl die türkische Wirtschaft seit dem Eintritt in die europäische Zollunion 1996 sehr gut funktioniert.5

Ich hätte ein direktes Angebot an alle Balkan-Länder zum Eintritt in die Zollunion nach dem Beispiel der Türkei befürwortet. Die Kommission wählte jedoch den vorsichtigeren Weg, indem sie eine Multilateralisierung der bestehenden bilateralen Handelsabkommen ermöglicht. Wenngleich es sich um eine nützliche Initiative handelt, wird sie kaum zum dringend nötigen Quantensprung bei der wirtschaftlichen Integration der Region führen.6

Vorrangiges Ziel der Osteuropa-Politik muss die schnelle und tiefgreifende Entwicklung der Handelsbeziehungen sein. Bezüglich etwa der Ukraine können entsprechende Maßnahmen jedoch nur kurzfristig angelegt sein, da sie noch kein Mitglied der Welthandelsorganisation ist und keine klaren Vorstellungen über ihre zukünftigen Handelsbeziehungen zu Russland hat. Nichtsdestoweniger sollte es langfristiges Ziel bleiben, diese Regionen in die europäische Freihandelszone, Zollunion und eventuell in den Binnenmarkt aufzunehmen.

Die Anziehungskraft und die Vorbildrolle der Europäischen Union haben das Leben von mehr als 100 Millionen Menschen in zehn Ländern von Estland bis Bulgarien innerhalb eines Jahrzehnts in einer Weise verändert, die man sich kaum vorstellen kann. Man sollte das als eine der größten globalen Erfolgsgeschichten der Gegenwart betrachten. In den kommenden Jahrzehnten wird es unsere Aufgabe sein, diese Erfolgsgeschichte auch auf die 100 Millionen Menschen Südosteuropas – von Kroatien bis zur Türkei – auszudehnen.7 Genauso muss unsere Zivilgesellschaft jene Länder Osteuropas unterstützen und anleiten, die über kurz oder lang auch die Entwicklung Russlands beeinflussen werden.

Es ist wohl die Ironie der Geschichte, dass Europa just in dem Moment, in dem sein eigener Erfolg so offensichtlich zu Tage tritt, den Glauben an sich selbst verliert. Wir müssen uns unsere wahren Errungenschaften in Bezug auf Frieden und Wohlstand ins Bewusstsein rufen – und bereit sein, weiterzumachen. Unsere Erfolgsgeschichte zu vergessen, wäre der Nährboden für zukünftige Konflikte. Die Ironie der heutigen europäischen Debatte könnte sich dann zur Tragödie auswachsen.

CARL BILDT, geb. 1949, war von 1991 bis 1994 Ministerpräsident von Schweden. Zwischen 1995 und 1997 bekleidete er den Posten des Hohen Repräsentanten für Bosnien und Herzegowina. Von 1999 bis 2001 war er UN-Sonderbeauftragter für den Balkan.

  • 1 Für meine Sicht der Geschehnisse in der Region bis zum Sturz Miloševićs und den Chancen, die dieser bot, verweise ich auf „A Second Chance in the Balkans“, Foreign Affairs, Januar/Februar 2001, auch unter www.bildt.net.
  • 2 Die Europäische Initiative für Stabilität bietet ein gut begründetes, wenngleich kritisches Lob des Salzburger Treffens unter www.esiweb.org.
  • 3 Manchmal nahmen diese Argumente bizarre Formen an. Laut Spiegel Nr. 13/2006 sagt der CDU/CSU-Fraktionsvize Andreas Schockenhoff, dass die Erweiterung um Kroatien allein zu exis- tenziellen Problemen innerhalb der EU führe. Wenn die EU mit ihren 450 Millionen Mitgliedern nicht einmal eine Vergrößerung um ein Prozent ihrer Mitgliederbasis verkraftet, muss sie sich in fürchterlichem Zustand befinden. Solch tiefer Euro-Pessimismus ist realistisch nicht vertretbar.
  • 4 Siehe dazu „Readiness for Stabilisation and Capacity for EU Association“ der Initiative Außenpolitik der Friedrich Ebert Stiftung, Sarajevo März 2006.
  • 5 From Disintegration to Reintegration: Eastern Europe and the Former Soviet Union in International Trade, World Bank 2006.
  • 6 The Western Balkans on the road to the EU: consolidation, stability and raising prosperity, Europäische Kommission, Januar 2006.
  • 7 Die umfassendste Analyse der zukünftigen Optionen, inklusive taktischer Hinweise, wurde 2005 von der internationalen Balkan-Kommission erarbeitet: www.balkancommission.org.