Denken ist gefährlich
In der amerikanischen Diskussion des Spätsommers ist ein idealistischer Ansatz en vogue: Politik
beginnt bei den Ideen. Am gefährlichsten sind die falschen Vorstellungen, weil sie die richtige Reaktion
auf Herausforderungen nicht zulassen. Von der Terrorismusbekämpfung bis zur Rolle der
Religion in den USA – Klischees werden korrigiert.
Die Feder ist mächtiger als das Schwert. Seit den Zeiten Karls des Großen haben sich die Medien verändert, doch die Ideen, die durch sie verbreitet werden, sind noch heute der Motor der internationalen Politik – diesen Eindruck vermittelt die amerikanische Diskusssion: Alle Politik beginnt mit Ideen, und falsche Vorstellungen von der Wirklichkeit haben verheerende politische Folgen.
Am augenfälligsten geschieht dies in Foreign Policy (September/Oktober 2004), wo vor den gefährlichsten Ideen der Welt gewarnt wird. Allerdings handelt es sich in den meisten Fällen nur um Ideen der westlichen Welt. Robert Wright erläutert, warum der „Krieg gegen das Böse“ keine gute Idee ist. Er führe nicht nur dazu, dem Gegner alle Rechte abzusprechen, sondern sei auch strategisch schädlich: „Was, wenn Iran, Irak und Nord-Korea unterschiedliche Kategorien von Problemen darstellen?“ Die Idee, der Gegner handle nicht nur böse, sondern sei das Böse schlechthin, verleite dazu, potentiell erfolgreiche politische Optionen vorschnell auszuschließen. Dem Gegner werde kein rationales Handeln mehr zugetraut – was manchmal zutreffe, oft aber nicht.
Für Samantha Power ist die derzeit gefährlichste Vorstellung die vom „Business as usual bei den Vereinten Nationen“. Noch nie waren die UN an mehr Einsätzen auf der ganzen Welt beteiligt, und noch nie waren sie schlechter darauf vorbereitet, so die Autorin. Sie diagnostiziert eine Krise der UN, die nur durch ein neues Denken überwunden werden könne. Reformen sollten da beginnen, wo die Reputation und die Legitimation der Vereinten Nationen am sichtbarsten auf dem Spiel stehe – beim Sicherheitsrat (der Indien, Brasilien und Nigeria aufnehmen müsse, um repräsentativ zu sein), bei der Menschenrechtskommission (der keine Menschenrechtsverletzer angehören dürften) und bei den friedenserhaltenden Einsätzen. Die UN-Truppen sollten schlagkräftiger werden und in stärkerem Maße von den großen Mächten gestellt werden. Ob die UN den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts gewachsen sei, stehe in Irak auf dem Spiel. Dort müssten die UN die große Chance sehen, ihre Tauglichkeit unter Beweis zu stellen. Am Ende ergänzt Power ein Wort von Dag Hammarskjöld, wonach die Vereinten Nationen nicht geschaffen worden seien, um die Menschheit zum Himmel emporzuheben, sondern um sie aus der Hölle zu retten: „Aber selbst um aus der Hölle zu entkommen bedarf es einer internationalen Organisation, die sich auf der Höhe ihrer Aufgaben befindet.“
Das Kernelement der neokonservativen außenpolitischen Doktrin erklärt Eric Hobsbawm zur gefährlichen Idee – die Ausbreitung der Demokratie. Von Nord-Irland über den Balkan bis nach Sri Lanka reichen seine Beispiele. Hobsbawms Schluß lautet: „Eine Wahldemokratie garantiert nicht notwendigerweise eine effektive Pressefreiheit, Bürgerrechte und eine unabhängige Justiz.“ Die Argumentation erinnert in manchen Zügen an Fareed Zakarias Warnung vor der „illiberalen Demokratie“. Zakaria selbst erklärt den Hass auf Amerika zur gefährlichsten Idee, die heute die Welt antreibe. Er sieht einen Grund für die Zunahme des Antiamerikanismus in der Politik der Bush-Regierung, doch seine Suche nach Ursachen reicht tiefer. Er kommt zu dem Ergebnis, der Antiamerikanismus diene als neue „Ideologie der Unzufriedenheit“. Viele Menschen definierten sich zunehmend in Reaktion auf die unverzichtbare Hegemonialmacht USA. Was sie über die Welt denken und wie sie sich darin positionieren, in politischer ebenso wie in ökonomischer oder kultureller Hinsicht, werde vom Denkschema des Antiamerikanismus bestimmt. Dieser übernehme somit die soziale Funktion, die zuvor besonders der Sozialismus erfüllte. Wenn auch Europa sich weiterhin über diesen funktionalen Antiamerikanismus definiere, statt dessen gefährliche Dynamik aufzuhalten, prophezeit der Autor schlimme Folgen.
Die Zerstörung falscher Vorstellungen betreibt die aktuelle Ausgabe von Foreign Policy mit Vergnügen. Der bedeutende Diplomatiehistoriker Melvyn Leffler unterzieht die üblichen Meinungen über die Außenpolitik der Bush-Regierung nüchtern einer Revision. Wie zuvor bereits John Lewis Gaddis zeigt der Autor, dass die Bush-Politik keineswegs radikal von der außenpolitischen Tradition der USA abweicht. Die demokratische und marktwirtschaftliche Mission gehört spätestens seit Woodrow Wilson zum ideologischen Arsenal der USA. Und auch im Kalten Krieg, als die USA sich selbst in ein Geflecht multilateraler Institutionen einbetteten, behielt man sich das Recht auf unilaterale Aktion vor. Ebenso gehörten präemptive Maßnahmen in bestimmten Situationen immer schon zu den von den USA ausgeschöpften Handlungsoptionen. Eine klare Absage erteilt Leffler auch der Vorstellung, die Bush-Außenpolitik stelle eine scharfe Abkehr von der Clinton-Politik dar. Im Gegenteil, von der Betonung der militärischen Komponente der Außenpolitik über die Erwägung präemptiver und unilateraler Schritte bis zum Zweifel an den Bündissystemen – alles findet sich in den Diskussionen und Strategiepapieren der Clinton-Jahre.
Fest steht für den Gelehrten Leffler, dass der 11. September die große Wende in der Bush-Regierung einläutete. Das gesamte Denken, die Idee von der Welt veränderte sich, globale Prinzipien wurden über eng definierte nationale Interessen gestellt. Eine andere in Amerika verbreitete Vorstellung widerlegt Leffler: Die Bush-Regierung hatte nicht die richtige Strategie, die nur falsch umgesetzt wurde. Eine Strategie bedenkt immer auch ihre Mittel auf der taktischen Ebene. Die drei Säulen der Bush-Außenpolitik – Terroristen und Schurkenstaaten bekämpfen, die Beziehungen unter den großen Mächten harmonisieren, Demokratie und Wohlstand global ausbreiten – hingegen brächten sich bei objektiver Betrachtung gegenseitig zum Wanken. Wer etwa den Terror bekämpfen will und Stationierungsrechte in Zentralasien braucht, kann dort nicht im Namen der Demokratie missionieren. Und für eine ernsthafte Demokratisierungspolitik bringe die Regierung ohnehin nicht die erforderlichen Ressourcen auf. Wenigstens kann Leffler die Meinung bestätigen, die Bush-Regierung habe das politische Erbe der Reagan-Regierung angetreten. Allerdings nur in einer Hinsicht: In der Kombination von moralischer Klarheit und militärischer Stärke. Ohne eine sorgfältige Interessenkalkulation und eine durchdachte Strategie führe diese Kombination zu Arroganz und Machtmißbrauch.
Einen ganz anderen, für die internationale Politik zunehmend relevanten Komplex von Ideen überprüft Sebastian Mallaby in Foreign Policy auf seinen Wahrheitsgehalt: die Ideologie der Nichtregierungsorganisationen (NGOs). Anhand einiger Beispiele belegt er, dass der Kampf für die Armen oft in sein Gegenteil umschlägt. Aktivistische Gruppen im Westen nehmen für sich in Anspruch, für die Betroffenen zu sprechen – doch in Wahrheit schadeten sie deren Interessen, nach denen sie nie gefragt hätten. Besonders die Kritik an Weltbank-Projekten sei in vielen Fällen unqualifiziert, manchmal völlig unberechtigt. Dennoch beeindruckten die Aktivisten mit ihrem Protest ahnungslose Politiker und Hollywood-Stars. Das Ergebnis sehe in vielen Fällen so aus: „Die Bank plant ein vernünftiges Projekt, das unvermeidlich auch einige Schwächen hat. NGOs stürzen sich auf diese Schwächen mit einem Feuerwerk aufhetzender Rhetorik. Die Weltbank zieht sich zurück, und das Projekt geht anderweitig voran, ohne die Umweltschutz- und Sozialverträglichkeitsstandards der Bank.“ Die NGOs haben um der Sache willen gesiegt, auf der Strecke bleiben die Bedürftigen. Mallaby weist auf einige rühmliche Ausnahmen kompromißbereiter Organisationen hin, denen es nicht nur ums eigene Prinzip und Publicity gehe. Viele andere NGOs sollten seiner Ansicht zufolge umdenken und endlich „erwachsen“ werden.
Die Diskussion um Ideen dominiert selbst die härtesten politischen Themen. In Policy Review (August 2004) erklärt der Doyen der Terrorismusforschung Walter Laqueur, dass wir uns von einigen tröstlichen Vorstellungen verabschieden müssten: Erstens sei der Krieg gegen den Terrorismus nicht zu gewinnen – Terrorismus wird es immer geben. Zweitens „bringt weder Armut Terrorismus hervor, noch beseitigt ihn Wohlstand“. Drittens führe die Lösung eines Konflikts, und sei er noch so zentral wie der israelisch-palästinensische, nicht zum Ende des Terrorismus. In der Terrorismusdiskussion entdeckt Laqueur „wishful thinking“ – dabei gehe es hier um das Schicksalsthema unserer Zeit. Er zeigt, dass Europa am verwundbarsten ist und künftig das Schlachtfeld des Terrorismus werden könnte. Die größte Bedrohung liege in der nicht allzu unwahrscheinlichen Möglichkeit, dass Massenvernichtungswaffen (MVW) in die Hände von Terroristen fielen.
Auf kurze Sicht kann Laqueur kaum Anzeichen einer Besserung erkennen – das Zeitalter des „Megaterrorismus“ mit MVW ist noch gar nicht angebrochen. Doch langfristig erwartet er einen Rückgang der Terrorgefahr. Ein Generationswechsel unter den Terroristen führte bisher immer zur Verminderung des Fanatismus, zu inneren Kämpfen und Abspaltungen unter den Terroristen. Welche Schritte zur Terrorbekämpfung schlägt Laqueur vor? „Soft power“ könne Verblendung nur begrenzt entgegenwirken. Das Militär will er sorgfältig dosiert eingesetzt sehen, die Hauptlast des Kampfes sollen Polizei und Geheimdienste tragen. Im aufgezwungenen asymmetrischen Krieg könnten demokratische Staaten zwar nicht mit massiver Vergeltung antworten, was immer ein effektives Mittel sei, aber Laqueurs zentrale Einsicht lautet: „Erstens sollten Regierungen eine Antiterrormaßnahme nur dann einleiten wenn sie willens und in der Lage sind, wenn nötig massive Gewalt einzusetzen. Zweitens sollten Terroristen sich fragen, ob es in ihrem eigenen Interesse sein kann, die Linie zwischen schädlichen Operationen und solchen Angriffen zu überschreiten, die die vitalen Interessen ihrer Feinde bedrohen und unvermeidlich zu einem massiven Gegenschlag führen.“ Laqueurs Hoffnung ist, dass der Westen dem Megaterrorismus entgehen kann. Doch er hat keinen Zweifel, dass sich die menschliche Aggression, die sich im Terrorismus entlädt, nie beseitigen lässt.
Die Bedeutung falscher Vorstellungen in der Politik demonstriert auch die amerikanische Präsidentschaftswahl. Während die ganze Welt die Entwicklung beobachtet, ist es für einige Autoren an der Zeit, Klischees zu zerstören. Michael Robinson und Susan Ellis lehnen im Weekly Standard (16./23. August) die Vorstellung eines in „rote“ und „blaue Staaten“ polarisierten Amerikas ab. In Wahrheit, so zeigen die Autoren anhand vieler Beispiele, ist die Mehrheit der Amerikaner moderat und nicht von polarisierenden Extremen gekennzeichnet. Rot und blau auf der Wählerkarte bedeuteten in Wirklichkeit oft nur einen minimalen Unterschied in der Stimmenverteilung. Der logische Fehler der von den Farben gebannten Wahlbeobachter: Gleichmäßig geteilt heißt nicht polarisiert. Staaten, die Bush wählten, haben demokratische Gouverneure und Senatoren und umgekehrt. Amerika sei weder rot noch blau – sondern lila. Die extremen Ansichten auf der Linken wie der Rechten überschritten keine zehn Prozent.
Auch die letzte Trennlinie löst sich langsam auf, wie The Nation (30. August) beobachtet: Umfragen und der allgemeinen Meinung zufolge wählt die Mehrheit der Kirchgänger republikanisch. Doch von den 40 Prozent der Amerikaner, die sich als „wiedergeborene Christen“ bezeichnen, seien nur die wenigsten an eine Doktrin gebunden. Die Demokraten bemühen sich zunehmend um progressive Gläubige, die sich für die Bekämpfung der Armut, für soziale Gerechtigkeit und den Umweltschutz einsetzen und sich dabei von der Bush-Regierung im Stich gelassen fühlen. Wer falsche Vorstellungen aufgibt, kann reagieren.
Internationale Politik 9, September 2004, S. 105-108
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